Ein Tag im Jahr · 1960-2000
- Authors
- Wolf, Christa
- Publisher
- Suhrkamp Verlag
- Tags
- tagebuch
- ISBN
- 9783518733073
- Date
- 2014-04-14T00:00:00+00:00
- Size
- 1.50 MB
- Lang
- de
1960 nahm Christa Wolf ein ganz besonderes Tagebuch-Projekt in Angriff: Vierzig Jahre lang porträtierte sie jeden 27. September, notierte die Erlebnisse, Gedanken und Gefühle eines jeden dieser Tage. Entstanden ist eine erstaunliche persönliche Chronik, ein beeindruckendes Zeugnis ihrer Existenz als Autorin, als Frau, Mutter, als Bürgerin der DDR und schließlich der BRD.
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Mitten im kalten Krieg, im Jahr 1960 forderte die russische Zeitung *Istwestija* die Schriftsteller der Welt auf, ihren 27. September bestmöglich in Worten festzuhalten. Auch in der DDR folgten zahlreiche Autoren dem Aufruf, so Thomas Brasch, der sich zum Gedicht "Der schöne 27. September" inspirieren ließ: "Ich habe keine Zeitung gelesen./Ich habe keiner Frau nachgesehen", heißt es da. Und, am Ende, etwas resigniert: "Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht."
An jenem 27. September 1960 erwachte im Amselweg in Halle die Schriftstellerin Christa Wolf mit dem Gedanken, dass dieser Tag wohl anders verlaufen würde als geplant. Am Abend, als Wolf einschlief, hatte sich der Satz bestätigt. Er wird es von nun ab jedes Jahr aufs Neue tun. Denn Christa Wolf hat nicht mehr aufgehört, ihren 27. September zu beschreiben, über 40 Jahre nicht, teils mit großem Widerwillen, um zu erforschen, auf welch verschlungenen Wegen "Leben zustande kommt". Herausgekommen ist das bewegende Stenogramm eines Autoren-Daseins: Eine "Protokoll-Serie" voll kluger Reflexionen, die zugleich auch Schlaglichter wirft auf den Alltag in der DDR und im Deutschland nach der Wende.
Leider fehlt ausgerechnet jener September, der der Menschheit wie kein zweiter im kollektiven Gedächtnis geblieben ist, auch wenn das zu beschreibende Ereignis, der Terrorakt gegen das World Trade Center in New York im Jahr 2001, gut zwei Wochen vor Wolfs Stichtag lag. Interessant wäre es aber dennoch gewesen, jene Gedanken zu lesen, die der Autorin nach dem Ereignis beim Aufwachen oder Einschlafen durch den Kopf geschossen sind. Aber vielleicht gibt es ja bald einen zweiten Band. *--Thomas Köster*
### Rezension
Christa Wolf selbst liest Auszüge aus ihrem 40-jährigen Protokoll *Ein Tag im Jahr*. In diesem ungewöhnlichen Dokument beschreibt die Schriftstellerin jeden 27. September des Jahres. Angefangen hat sie 1960, geendet 2000. Die Idee für diese Aufzeichnungen gehen auf einen Aufruf der Moskauer Zeitung *Iswestija* zurück. Bereits 1935 hatte Maxim Gorki aufgerufen, „Einen Tag der Welt zu dokumentieren“. Christa Wolf reizte dieses Projekt, und sie schrieb… Es entstand ein wertvoller Bericht vom Alltag im geteilten Deutschland, eine Dokumentation des Lebens einer der bedeutendsten deutschsprachigen Prosa-Schriftstellerin, vor allem auch ein sehr offenes Werk der autobiografischen Literatur.
Vielleicht liegt es daran, dass der 28. September der Geburtstag ihrer zweiten Tochter ist. Jedenfalls erscheinen die Aufzeichnungen alle sehr persönlich. Die Autorin erzählt unverblümt, wie sie in der Welt steht: als Mutter zweier Töchter -- am Anfang bestimmen die Kinder eindeutig ihren Tages- und Schreibablauf --, als Partnerin, als Bürgerin der DDR, später der Bundesrepublik. Nie zieht sich Christa Wolf allerdings nur ins Private zurück. Wie einen roten Faden kann man durch ihre Notizen den Gedanken, die Erkenntnis, dass man vieles vergisst, wenn man es nicht aufschreibt, verfolgen. Die Frage, „was wichtig ist an einem durchschnittlichen Leben“ ist zentraler Bestandteil ihrer Arbeit.
Sehr häufig beginnen die Tagesaufzeichnungen mit der Schilderung der Träume. Die Träume als Orte des Unbewussten sind für Christa Wolf, die gerne zu dem „unerschöpflichen Bereich des Unbewussten und Verbotenen“ durchdringen möchte, von großer Bedeutung. Was hier über 40 Jahre berichtet wird, klingt wenig spektakulär und reißerisch, obwohl sich in ihrem Leben die historische Tatsache der geteilten Welt nach dem Faschismus spiegelt. Und obwohl die Schriftstellerin selbstverständlich interessante Zeitgenossen trifft wie etwa Anna Seghers, Max Frisch und Otl Aicher. Diese Texte gewinnen durch eine Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und den Zeitereignissen: Christa Wolf erzielte 1963 mit dem Roman *Der geteilte Himmel* (die Geschichte einer Liebe, die an der Teilung Deutschlands scheitert und schon ein Jahr später verfilmt wurde) ihren ersten großen Erfolg. Als überzeugte Sozialistin war sie von 1963 bis 1967 Kandidatin des Zentralkomitees der SED, früher zwischen 1959 und 1962 war sie sogar als „Informelle Mitarbeiterin“ der Staatssicherheit tätig gewesen. Am Protest gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann war sie maßgeblich beteiligt. 1968 erschien *Nachdenken über Christa T*, ein Buch, in dem die Protagonistin an der Spannung zwischen eigener, individueller Entfaltung und gesellschaftlichen Anforderungen zerbricht, d. h. krank wird und an Leukämie stirbt. 1979 drei Jahre nach Biermanns Ausbürgerung -- Christa Wolf ist geblieben -- veröffentlicht sie mit *Kein Ort. Nirgends* die Lebensskizze zweier, die nicht dazugehören: die Günderode und Heinrich von Kleist, beide ‚gescheiterte Literaten’ in einer Gesellschaft, die ihre Ideale verraten hat.
Nach der Wende, Christa Wolf hatte sich für eine Erneuerung des Landes von innen heraus ausgesprochen, wird es nicht leichter für sie: Die Diskussion über die Mitschuld der Intellektuellen in der DDR und der Vorwurf der „Verfechterin des Sozialismus“ bewirken einen Rückzug aus der Öffentlichkeit. 1992 verbrachte sie neun Monate im Getty Center in Santa Monica, Kalifornien. Vier Jahre später veröffentlichte sie mit *Medea* nach *Kassandra* (1983) den zweiten Roman, der in antiken Figuren einen gewissen feministischen Ansatz thematisiert.
Autorenlesung, Spieldauer: ca. 350 Minuten, 5 CD. Auch als MC erhältlich. *--culture.text *