6

»AMANDE, ich bin’s, Richard.«

Ich sitze am Tisch, vor mir liegen die Kalender von Madame Hugues. Und mittendrin steht die Tasse mit meinem kalt gewordenen Kaffee.

»Hallo, Richard.« Ich zögere einen Moment, bevor ich hinzufüge: »Du rufst von Annes Handy aus an …«

Ich merke, dass meine Worte ihn in Verlegenheit bringen.

»Sie ist für eine Weile in eine Klinik gegangen.«

»Was ist denn passiert? Doch nichts Schlimmes?«

»Die Nachwirkungen. Ich weiß nicht genau. Eine leichte Depression.«

Seine Stimme klingt rau, und mir stockt der Atem. Ich erinnere mich an das einzige Mal, als ich Richard habe weinen sehen, jenen Moment, als ihn die Kraft verließ, nachdem er mir acht Stunden lang durch Schweiß und Atemnot im Kreißsaal beigestanden hatte.

»Amande?«

»Ja, ja, ich bin noch da.«

Ich hoffe, er bittet mich nicht, sie zu besuchen. Ich bin noch nicht stark genug, um mein Refugium zu verlassen. Aber das tut er nicht.

»Yann und Cassandra wohnen vorübergehend hier. Sie lassen dich grüßen.«

Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle hinunter.

»Grüß sie zurück.«

Ein paar Sekunden verstreichen. Ich lasse den kalten Kaffeerest in meiner Tasse kreisen.

»Wie geht es Cassandra?«

Er ignoriert meinen ausdruckslosen Ton.

»Sie ist müde, aber sie schlägt sich wacker. Dem Baby geht es gut.«

»Gut.«

Ich habe keine Lust, das Thema zu vertiefen. Richard scheint es zu spüren.

»Hast du noch Schlaftabletten?«

»Ja.«

»Brauchst du sonst etwas? Sollen wir für dich einkaufen gehen?«

»Nein. Das ist lieb. Ich fahre morgen selbst.«

Wieder Schweigen. Ich denke an Anne, auch sie allein und isoliert in ihrer Klinik.

»Kann man sie anrufen?«

»Bitte?«

»Anne? Kann man sie anrufen?«

»Ja, aber … Sie schläft viel, weißt du. Sie ist nur schwer zu erreichen.«

»Ach so. Dann sag mir Bescheid, wenn sie wieder nach Hause kommt.«

»Natürlich.«

Richard räuspert sich. Wahrscheinlich will er gleich auflegen.

»Du müsstest an deiner neuen Adresse Post bekommen haben.«

»Post?«

»Vor vier Tagen ist ein Brief für dich gekommen. Ich habe ihn dir nachsenden lassen. Er müsste mittlerweile bei dir im Briefkasten liegen.«

»Ein Brief vom Notar?«

»Nein, das glaube ich nicht. Die Adresse war von Hand geschrieben, eher ungelenk. Eine Männerschrift.«

Eine kurze Pause verrät meine Überraschung.

»Ich sehe gleich mal nach.«

»Gut. Amande, wenn du ein paar Tage herkommen willst … Das Angebot steht noch. Yann und Cassandra bleiben hier, bis Anne zurückkommt. Wir würden uns alle freuen, dich zu sehen.«

»Das ist lieb von euch, Richard.«

»Denk darüber nach.«

»Das mache ich.«

Durch den Spalt zwischen den Läden habe ich das Sinken des verfluchten Gestirns verfolgt. Jetzt kann ich endlich nach draußen, den kleinen verrosteten Briefkastenschlüssel in der Hand. Ich habe heute nichts anderes getan, als in den Kalendern von Madame Hugues zu lesen und mich zu fragen, was ich selbst aufschreiben könnte: Die Glühbirne in der Küche wechseln. Dringend zum Einkaufen fahren. Den Berg schmutziger Wäsche im Badezimmerkorb waschen. Soll ich mir Fristen setzen oder nicht? Einen eigenen Kalender kaufen? Bis jetzt habe ich noch keine Antwort auf diese Fragen.

Nachdem ich die Haustür geöffnet habe, sprinte ich geradewegs zur Straße, die am Haus vorbeiführt. Auf einem Pfosten steht dort der silbrig schimmernde Blechbriefkasten. Die Nacht hat einen dunklen Mantel über die Umgebung gebreitet, aber mir scheint, als könnte ich trotzdem einige Umrisse erkennen. Die gedrungene Silhouette einer Trauerweide und ein paar Obstbäume am anderen Ende des Grundstücks. Madame Hugues’ Garten?

Als ich den winzigen Schlüssel ins Schloss stecke, meine ich erneut, eine kleine Gestalt zu erkennen, die sich zwischen den Bäumen bewegt. Eine Katze? Ein Fuchs? Gibt es hier Füchse? Meine Neugier reicht nicht aus, um mir weiter Gedanken darüber zu machen. Der Briefkasten öffnet sich mit einem schaurigen Quietschen, und ich entdecke einen schlichten weißen Umschlag mit einer unbeholfenen Handschrift darauf, genau wie Richard gesagt hat. Ich nehme ihn und gehe eilig zum Haus zurück. Die Vorstellung, der Geruch von Kiefern und Harz könne sich auf meiner Haut festsetzen, macht mir Angst. Es ist noch zu früh.

Ich schließe die Haustür hinter mir ab und öffne den Umschlag, noch bevor ich die Küche erreicht habe. Ein zweimal gefaltetes Blatt fällt heraus. Eine Seite aus einem Schulheft, Karopapier, der Text gespickt mit Ausstreichungen und Rechtschreibfehlern.

Ich runzle verständnislos die Stirn, lege den Brief zu den Kalendern auf dem Tisch und zünde weitere Kerzen an, um die holprige Schrift entziffern zu können.

Liebe Madame Luzin,

wir wollten Ihnen sagen das es uns leit tut, was mit ihrem Mann Benjamin und ihrem Baby pasiert ist. Wir hatten noch nie einen so coolen erziher und es ist echt fihs das er so jung gestorben ist. Aber es heist ja immer die besten müssen als erste gehen.

Wir wissen das wir das nicht wissen konnten, aber trotzdem, irgendwie ist es auch unsere Schuld. Wenn wir ihn nicht angerufen hätten, damit er kommt und uns den großen Schrank aufschlißt, wär das bestimt nicht pasiert. Außerdem hat Issam den Schlüsel danach wieder gefunden, er war in seinem Rucksack, also ist es trotsdem irgendwie unsere Schuld. Eigentlich sogar zimlich fiel. Issam macht sich große Forwürfe, Madame Luzin, aber ich auch, weil ich ihn an dem Abend doch angerufen hab. Wenn ich nicht angerufen hätte wär jetzt alles anders, so fiel ist sicher.

Ohne Benjamin ist es in der MJC nicht mehr das selbe. Wir hatten schon ein Geschenk für ihr Baby ausgesucht. Glauben sie, wir können es Ihnen trotsdem geben, weil wir wissen nicht was wir sonst damit machen sollen und es deprimirt uns total, wenn wir das Päkchen jeden tag im Proberaum sehen.

Wir schikken ihnen ganz fiel Kraft, Madame Luzin. Wir wissen, das wir das niewieder gutmachen können aber wir haben eine Videoshow über Benjamin gemacht, die zeigen wir bei der Weihnachtsfeier in der MJC. Und außerdem wollen wir den Proberaum nach ihm benennen. Wir werden niewieder einen Erziher haben wie ihn. Niewider.

Mika und die anderen.

Ich lasse das Blatt zurück auf den Tisch fallen. Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Lachen. Weinen. Wütend werden. Auf wen? Mika? Issam? Die Jungen, die ihre Böller gezündet haben? Den Lieferwagenfahrer auf der Gegenfahrbahn, der nicht schnell genug reagiert hat? Auf Benjamin, der die Gewalt über sein Motorrad verloren hat? Auf die Fête de la Musique, durch die er gezwungen war, das Motorrad zu nehmen? Oder auf mich selbst? Mich, die sich geweigert hat, ihr Baby tiefer sinken zu lassen? Die ihre Muskeln angespannt, gegen ihre Wehen angekämpft hat? Auf mich, die ohne Benjamin nicht niederkommen wollte? Auf mich, die Manon getötet hat?

Wem soll ich Vorwürfe machen? Dem Leben?

Ich erinnere mich noch gut an meine erste Begegnung mit Mika. Ein Junge mit kupferbraunem Haar und stechend grünen Augen. Kleiner als der Durchschnitt, mager, aber voller Elan. Benjamin erzählte mir oft von ihm. Er war der Schlagzeuger und Chef der Band. Es war Mai, und Benjamin und ich waren seit über einem Jahr zusammen. Da ich im Büro recht flexible Arbeitszeiten hatte, besuchte ich ihn regelmäßig nach Feierabend in der MJC. Für die Jugendlichen war ich immer die »Frau von der Suppenküche« geblieben. Sie grüßten mich respektvoll und mit kleinen, albernen Verbeugungen, über die Benjamin jedes Mal lachen musste. Er spürte genau, dass die Teenager in meiner Gegenwart nicht so unbefangen waren wie bei ihm. Und ich wusste es auch. Ich hatte nicht diesen besonderen Draht zu ihnen wie Benjamin. Mich behandelten sie höflich und zuvorkommend, Benjamin dagegen nannten sie »Benji« und sprangen ihm auf den Rücken, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Es war also Mai. Als ich die MJC betrat, herrschte dort abendlicher Hochbetrieb, und im Büro traf ich auf einen mageren Jungen, der sich einen Stift hinters Ohr geklemmt hatte und auf seinem Handy herumtippte.

»Guten Tag«, sagte er, als er mich hereinkommen sah.

Er hatte sich sofort aufgerichtet, gerader Rücken, seriöse Haltung – er nahm seinen Job am Empfang sehr ernst.

»Kommen Sie wegen einer Anmeldung? Oder einem Kurs?«

Ich unterdrückte ein Lächeln, als mir klar wurde, dass der Junge mich für eine der Ihren hielt. Wahrscheinlich weil ich so klein bin oder weil meine Haare damals noch ihren natürlichen Blondton hatten, ich weiß es nicht genau.

»Ist Elia nicht da?«

Elia ist die Sekretärin, die üblicherweise am Empfang sitzt.

»Nein, Elia musste früher weg. Sie ist beim Gynäkolocken.«

Diesmal kostete es mich größere Mühe, mein Lächeln im Zaum zu halten.

»Beim Gynäkolocken?«

»Ja«, bestätigte er in seinem übertrieben ernsthaften Ton.

»Ach so … Nun, eigentlich will ich ja auch zu Benjamin.«

Mit einer Professionalität, die meine Kollegen im Rathaus vor Neid hätte erblassen lassen, zog er den Stift hinter seinem Ohr hervor.

»Da müssen Sie einen Termin vereinbaren. Jetzt ist er gerade beschäftigt. Er hat gesagt, ich soll mich um die Anmeldungen kümmern, aber wenn Sie gar nicht wegen einer Anmeldung da sind …«

Er kramte einen dicken Terminkalender hervor und begann, darin zu blättern. Durch die Tür zur Eingangshalle wehten Dribbelgeräusche herein, Mädchengelächter und eine Melodie aus dem Raum nebenan.

»Ihr Name?«

In diesem Moment tauchte Benjamins Kopf im Türspalt auf. Offenbar hatte er meine Stimme erkannt.

»Die Dame braucht keinen Termin, Mika.«

»Ah …«, entgegnete Mika, aus dem Konzept gebracht, mit enttäuschter Miene.

»Das ist meine Freundin.«

»Deine Freundin?«

»Meine feste Freundin.«

Mika wurde puterrot, während Benjamin mich zu sich winkte.

»Tut mir leid, Madame«, rief er und versank hinter dem Schreibtisch.

»Kein Problem.«

»Du kannst sie Amande nennen, das reicht«, fügte Benjamin neckend hinzu.

In der darauffolgenden Woche begrüßte mich Mika mit geschäftsmäßiger Miene und einem höflichen »Guten Abend, Madame«. Ich fragte ihn, ob Elia wieder beim Gynäkolocken sei, aber er ging nicht darauf ein. Stattdessen erwiderte er in professionellem Ton, nein, sie sei bloß kurz weg, um für das Konzert am Wochenende einzukaufen.

»Es gibt ein Konzert?«

»Klar. Von unserer MJC-Band. Ich bin der Schlagzeuger, wissen Sie. Wir treten am Samstagabend auf.«

»Das wusste ich nicht.«

»Ah, tja …«, antwortete er verlegen. »Vielleicht darf Benji Ihnen nix davon sagen, wegen diesem Verschwiegenheitsdings, Berufsgeheimnis oder wie das heißt …«

Ich hatte größte Mühe, nicht laut aufzulachen.

Issam lernte ich später kennen. Er kam im Jahr darauf in die MJC. Ein Algerier mit fröhlichen Mandelaugen. Eigentlich wollte er Gitarre lernen, es endete aber immer damit, dass er zusammen mit Mika auf das Schlagzeug eindrosch. Ein verhinderter Drummer. »Meine Eltern haben keinen Platz für ein Schlagzeug, Madame.«

Sie haben mich immer gesiezt und Madame zu mir gesagt, alle. Benjamin machte sich deswegen über sie lustig.

»Schüchtert meine Frau euch etwa ein?«

Nein, schworen sie, sie hätten doch keine Angst vor einer Frau. Aber sie haben es nie geschafft, mich zu duzen.

Heute ist der erste Septembertag. Der Herbst ist nicht mehr fern. Endlich. Das Handy auf dem Tisch hallt noch von der Auseinandersetzung mit meiner Mutter wider.

»Was ist mit der Wohnung?«

»Die ist untervermietet.«

»Verkriechst du dich immer noch?«

»Ich verkrieche mich nicht.«

»Früher oder später musst du wieder zum Vorschein kommen.«

»…«

»Ich meine es nur gut mit dir, Liebes. Augen zu und durch. Such dir etwas, was dir hilft voranzukommen. Ganz gleich, was.«

»Es ist noch zu früh.«

»Dafür ist es nie zu früh.«

»Red bitte nicht für mich.«

Ich habe meinen Vater nie kennengelernt. Anscheinend wollte er bloß eine schnelle Nummer schieben. Wenn meine Mutter von ihm erzählt, klingt es, als sei er ein mieser Dreckskerl gewesen. Aber ich glaube, im Grunde war sie sogar froh darüber, diesen Kampf allein auszufechten: die Schwangerschaft, meine Erziehung, ihre Vollzeitstelle als Filialleiterin einer Schmuckhandlung. Sie hat sich immer gern als starke, unabhängige Frau präsentiert. Und sie hatte kein Verständnis für meinen »eklatanten Mangel an Kampfgeist«, wie sie es nannte.

»Und die Arbeit?«

»Ich habe unbezahlten Urlaub.«

»Den werden sie dir nicht noch monatelang gewähren.«

»Dann werden sie es mich wissen lassen. Aber so weit sind wir noch nicht.«

Ich bin immer noch wütend, lange nachdem wir das Gespräch beendet haben. Aber immerhin habe ich es jetzt hinter mir. Die nächsten Monate bleibe ich von ihren Anrufen verschont.

Heute ist also der erste September … Ich habe den Brief von »Mika und den anderen« an die Küchenwand gehängt und daneben mit Klebstreifen ein Blatt Papier befestigt. Weiß und unbeschrieben. Ich habe beschlossen, dass ich keinen Kalender haben werde. Keine Tage, keine Daten, keine Fristen, keine allzu konkreten Aufgaben. Ich brauche Freiheit. Nur ein weißes Blatt Papier, das mich an mein Ziel erinnert, den Grund für einen weiteren Schritt nach vorn. Das Problem ist, dass ich noch nichts entschieden habe. Ich dachte darüber nach, bevor meine Mutter angerufen hat. Ich dachte darüber nach, während ich heute früh meine Narbe mit der antiseptischen Salbe einrieb. Sie wird rosa. Ein hübsches Perlrosa, fast schon perlmuttschimmernd. Ich beobachte, wie sie sich von Tag zu Tag besser entwickelt, ein sanfteres Relief annimmt, eine samtigere Textur. Meine kostbare Narbe …

Meine Gedanken schweifen ab. Wieder einmal. Ich muss mich auf mein Ziel konzentrieren. Ein paar Wörter, mehr nicht. Ich nehme einen Kuli vom Tisch und trete an die Wand. Schreibe ein erstes Wort: Herein. Mein Blick wandert zum Fenster, zu den geschlossenen Läden, zu dem schwachen Lichtstrahl, der nur mit Mühe hindurchdringt. Ich schreibe weiter: lassen. Hereinlassen. Das ist noch kein Satz. Was soll ich hereinlassen? Ich weiß es nicht. Die Sonne? Das Leben? Ich belasse es dabei. Fürs Erste genügt das.

Hereinlassen

mehr nicht. Ich brauche ein wenig Spielraum.

Ich erinnere mich an den 24. Dezember vor drei Jahren. Benjamin hatte diesen Heiligen Abend ausgewählt, um mich offiziell seiner Familie vorzustellen. Seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Yann, der noch studierte, seiner Mutter Anne, einer Lehrerin, und seinem Vater Richard, einem Schreiner.

»Hör auf, dich verrückt zu machen.«

Immer wieder sagte er diese Worte und kniff mich dabei in die Nase, als sei ich ein Kind. Er hatte leicht reden. Ich hatte noch nie die Eltern einer meiner Freunde kennengelernt. Meine Mutter verbrachte Weihnachten in diesem Jahr auf La Réunion.

»Die Flugtickets sind unverschämt teuer, Liebes. Ich besuche dich lieber nach den Feiertagen.«

Ich hatte Tränen der Wut zurückgedrängt. Weihnachten allein. Das hatte sie mir bisher noch nie zugemutet. Zum Glück beschloss Benjamin, dass es an der Zeit sei, seine Familie kennenzulernen, und dass Weihnachten dafür die perfekte Gelegenheit bot.

Ich erinnere mich noch an den eisigen Wind, der durch die Stadt fegte, an die mit goldenen Lichterketten geschmückten Bäume in den Straßen, an den Schal, der mein halbes Gesicht verdeckte, an meine von Benjamins Fäustling umschlossene Hand, als wir vom Auto zum Haus seiner Eltern gingen. An seine peruanische Mütze.

»Da ist es.«

Mein Blick folgt dem seinen, und ich entdecke ein bescheidenes Haus mit beigefarbener Fassade. Vor dem Eingang blinkt ein Rentier aus blauen Lämpchen.

»Wenn du das Haus im Jura gesehen hättest …«

Es ist nicht das erste Mal, dass Benjamin mir gegenüber das Haus im Jura erwähnt, das für sie alle den Inbegriff des Glücks darstellte.

»War es größer?«

»Hmm, ja, bestimmt … Aber das war es nicht, was es so einzigartig machte.«

»Was war es dann?«

Er öffnet das Tor, durch das man auf den kleinen Hof vor dem Haus gelangt. Beim Hindurchschlüpfen achte ich darauf, nicht mit dem großen Strauß roter Amaryllen anzustoßen, den ich in den Händen halte. Die Flasche Champagner hat Benjamin in seiner Umhängetasche.

»Es lag mitten im Wald.«

»Wirklich?«

»Wirklich. Ringsum gab es nur Kiefern, und durch das Grundstück floss ein Bach, in dem wir jeden Sonntag geangelt haben. Nur drei Meter vom Haus entfernt, stell dir das mal vor.«

Ich nicke und freue mich über das strahlende Lächeln in seinem Gesicht.

»Danach ging ich für den Rest des Tages klettern.«

»Mit Yann?«

Er lacht, und ich begreife nicht recht, wieso.

»Yann ist ein Feigling!«

Wir stehen vor der Tür seines Elternhauses. Ich atme tief ein. Benjamin streicht mir mit der Hand über die Wange.

»Ich bin mir sicher, dass es dir dort gefallen würde.«

»Mir? Im Jura?«

»Wieso nicht?«

Mir bleibt keine Zeit zu antworten, denn er drückt auf die Klingel, und von drinnen höre ich gedämpfte Rufe, gefolgt von Schritten. Die Tür wird geöffnet und gibt den Blick auf einen etwa sechzigjährigen Mann frei, groß, mager, mit den gleichen braunen Haaren und Augen wie sein Sohn. Er trägt eine einfache Jeans und ein weißes Hemd. Er riecht angenehm nach einem nicht zu aufdringlichen Parfüm, einem sanften, dezenten Eau de Toilette. Doch was mir vor allem auffällt, ist sein Lächeln. Ein schlichtes, herzliches Lächeln.

»Ah, da ist ja der Junge!«

Ich sehe zu, wie sie sich umarmen und einander ein paarmal auf den Rücken klopfen, dann dreht sich der Mann im weißen Hemd, der die gleichen Augen hat wie mein Freund, zu mir um.

»Guten Abend, Amande … Das stimmt doch, oder?«

»Ja, genau.«

»Ich bin Richard. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Unkompliziert, freundlich, es ist genau so, wie ich mir diese erste Begegnung erhofft habe. Dieses ungewöhnliche Weihnachtsfest. Als er mich mit einem Wangenkuss begrüßt, legt er mir die Hände auf die Schultern, als wollte er der simplen Höflichkeitsgeste ein wenig mehr Nachdruck verleihen.

»Kommt rein, noch hat Anne den Truthahn nicht verkohlen lassen!«

Offensichtlich ist der Scherz nicht neu, denn Benjamin verdreht die Augen.

»Es gibt gar keinen Truthahn«, erklärt er mir.

Ich folge ihnen durch einen Flur, an dessen Ende sich das mit einem großen Weihnachtsbaum geschmückte Wohnzimmer befindet. Kleine Lichtpunkte blinken erst blau, dann rot, dann grün. Vergoldete Engel hängen neben weißen Federn.

»Legt eure Jacken da hin«, sagt Richard und deutet auf das Ecksofa.

Der Tisch ist stilvoll gedeckt. In der Mitte steht ein sechsarmiger Kerzenleuchter, die roten Servietten auf den Tellern sind zu Fächern gefaltet. Benjamin legt mir auffordernd eine Hand ins Kreuz, damit ich ihm in die Küche folge. Doch das ist nicht mehr nötig. Denn im selben Moment kommt auch schon Anne ins Wohnzimmer, das Gesicht von der Hitze am Herd gerötet, das braune Haar zum Knoten geschlungen. Um die Taille trägt sie noch eine verschlissene weiße Schürze mit Ölflecken, aber unter der Köchinnenkluft ist ein elegantes schwarzes Samtkleid zu erkennen.

»Ah, da sind sie …«

Auch aus ihrem Lächeln spricht ein aufrichtiges Wohlwollen. Ich bin gerührt. Sie begrüßt mich mit Wangenküssen, bevor sie ihren Sohn in die Arme nimmt.

»Es ist so schön, dass ihr hier seid.«

Sie sagt es mit einem Blick zu mir, also reiche ich ihr den Strauß leuchtend roter Amaryllen und antworte: »Danke, dass Sie mich eingeladen haben.«

Sie wischt die Worte mit einer Handbewegung beiseite, als verdiente diese Einladung beim besten Willen keinen Dank.

»Ich habe das Zimmer für euch vorbereitet.«

»Wir sind mit dem Auto da«, entgegnet Benjamin.

»Das mag ja sein, aber ich will nicht, dass ihr nach einem Weihnachtsessen, wenn ihr etwas getrunken habt, noch Auto fahrt.«

Benjamin widerspricht nicht. Er war schon immer vernünftig und geht kein unnötiges Risiko ein. Er führt mich in das Zimmer, von dem Anne gesprochen hat, damit ich dort meine Handtasche ablegen kann und er seine Umhängetasche. Es ist immer noch das Abbild des Jugendlichen, der er einmal gewesen sein muss. Ein Lattenrost auf dem Boden, schwarze Bettwäsche und an der Wand ein riesiges Poster von Jimmy Cliff. Auf dem winzigen Schreibtisch, an dem Benjamin früher seine Hausaufgaben gemacht haben muss, thront ein individuell verzierter, über und über mit Tipp-Ex beschrifteter Motorradhelm.

»Wie du siehst, hat sich hier nichts verändert.«

»Ja, das sehe ich.«

Er nimmt mir die Handtasche ab, legt die Hände um meine Taille und zieht mich an sich. Dann vergräbt er wie so oft die Nase in meinen Haaren. Er mag den Duft meines Shampoos, sagt er immer.

»Ich bin froh, dass du heute Abend hier bist.«

Er sagt das einfach so, fast schon beiläufig, ohne besonderen Nachdruck, aber ich weiß, dass er es ernst meint, und seine Worte sind kostbar.

»Ich auch.«

Er küsst mich auf die Stirn und löst sich von mir, denn gerade ist die Haustür zugefallen, was bedeutet, dass nun auch Yann eingetroffen ist.

»Komm mit.«

Wir gehen zurück ins Wohnzimmer, wo Anne in der Zwischenzeit die Schürze abgelegt und ihr Haar gelöst hat. Yann ist da, er trägt eine Lederjacke. Und er ist eindeutig Benjamins jüngerer Bruder. Das gleiche Gesicht, das gleiche Haar, wenn auch kürzer geschnitten, etwas hellere Augen, grün, sie ähneln denen von Anne. Aber trotz allem ist die Ähnlichkeit verblüffend.

»Hallo!«, sagt er, bevor er einen Schritt auf mich zukommt und mir einen Wangenkuss gibt.

»Hallo«, antworte ich.

»Cool, dich endlich mal kennenzulernen.«

Die einzige Antwort, die mir darauf einfällt, ist ein Lächeln.

»Fährst du auch Motorrad?«, frage ich schüchtern und deute auf seine Lederjacke.

Benjamin bricht in schallendes Gelächter aus.

»Yann und Motorradfahren?«

Yann verzieht gespielt gekränkt das Gesicht. Doch dann lächelt auch er.

»Ich dachte nur …«, stottere ich dümmlich.

»Ich habe es nie geschafft, ihn dazu zu überreden, auch nur auf einen gedrosselten Roller zu steigen«, stichelt Benjamin. »Mehr als Fahrradfahren ist bei dem nicht drin!«

Anne lächelt und betrachtet ihren jüngeren Sohn mit liebevollem Blick.

»Yann ist eben ein Kopfmensch und nicht so ein Draufgänger wie du.«

Yann strahlt.

»Kopfmensch, Benji, hast du das gehört? Kopf! Das ist da, wo bei allen außer dir das Gehirn sitzt!«

Sie kabbeln sich noch eine gute Viertelstunde. Und ich lerne durch leidvolle Erfahrung, dass man lieber nicht versuchen sollte, die beiden miteinander zu vergleichen, denn das ist unweigerlich der Auslöser zu einem gutmütigen, aber schier endlosen Brüderduell.

Ich erinnere mich noch an jede Einzelheit dieses Heiligen Abends zu fünft. Der lange Tisch mit dem Kerzenleuchter, die wohlige Wärme, Annes Lachs in Folie, zu dem wir einen hervorragenden trockenen Jurançon tranken, Richards misslungene Witze, die den einhelligen Spott seiner Söhne hervorriefen, Benjamins Hand auf meinem Knie, die Freundlichkeit und der warmherzige Empfang durch die Luzins, die ich an diesem Abend kennenlernte. Ich glaube, Benjamins Familie hat mich an jenem Abend adoptiert, ohne jede Bedingung oder Gegenleistung. Von ganzem Herzen. Und ich glaube, an jenem Abend erwachte auch in mir der Wunsch, ein Teil ihres Clans zu sein.

Als wir zwischen die schwarzen Laken von Benjamins Jugendbett glitten, verspürte ich einen tiefen, bislang ungekannten Frieden. Eine Hand in meinem Nacken, schlief er ein, und ich betete, dass sich niemals etwas ändern möge, dass ich für immer mit an ihrem Tisch sitzen dürfe, ich und all die Kinder, die wir einmal haben würden.

An diesem Abend lernte ich die Bedeutung des Wortes »Familie« kennen.