EINE ABFOLGE RASCHER ENTSCHEIDUNGEN hat mich an diesem eisigen Februarmorgen an Benjamins Grab geführt. Der Friedhof ist menschenleer. Es ist Sonntag, aber gerade wird die Messe gelesen, und die Gläubigen sitzen in diesem Moment mit gefalteten Händen auf den kalten, harten Kirchenbänken. Ich bin allein zwischen den Grabreihen. Allein mit einigen unheilvoll wirkenden Raben. Die Luft ist frisch, in meinen durchgefrorenen Händen halte ich einen Strauß Christrosen. Zarte blassrosa Blüten mit dunkelvioletten Tupfen.
»Hallo, Ben.«
So, das erste Wort ist gesagt. Das Schwerste habe ich hinter mir.
»Ich wollte dich überraschen, siehst du. Diesmal sind es keine Bartnelken, es sind überhaupt keine Nelken. Der Florist hat mir Stiefmütterchen empfohlen. Sie kommen gut mit der Kälte klar, aber ich fand die hier schöner. Christrosen heißen sie. Aber das wusstest du sicher schon, nicht wahr?«
Ich habe nie verstanden, warum die Leute vor einem kalten, rauen Stein mit allzu schroffen geometrischen Formen mit ihren Toten sprechen. Warum reden sie nicht einfach in Gedanken mit ihnen, ganz gleich, wo und wann? Das ist es jedenfalls, worum ich mich bisher bemüht habe. Vor dem Friedhof, dem kalten Stein zu fliehen, im Geiste mit Benjamin zu reden, in meinem Garten, im Wohnzimmer, eigentlich überall.
Und nun stehe ich doch hier wie alle anderen in der Kälte, um ihm physisch nahe zu sein. Beinahe zumindest. Hier stehe ich an einem Wintersonntag vor seinem Grabstein, vor verwelkten Blumen und ein paar Gedenktäfelchen. Für meinen Bruder steht auf dem einen. Es ist von Yann. Eine fliegende Taube mit einem Maiglöckchenstängel im Schnabel. Eine kleine schwarze Tafel mit weißen Linien. Ich finde sie nicht besonders schön. Und auch diesen rituellen Besuch auf dem Friedhof finde ich nicht sehr angenehm. Mir ist kalt, und die Füße tun mir jetzt schon weh davon, kerzengerade vor dem hellen Stein auf dem Kies zu stehen. Warum also bin ich überhaupt hier? Ich lege den Strauß auf den Stein, zwischen zwei hässliche, unpersönliche Täfelchen und versuche, die Ereignisse zu rekonstruieren, die mich an diesem Morgen hierhergeführt haben.
Zunächst war da Cassandra, die mir immer wieder versicherte, dass sie alle sehnsüchtig auf meinen Besuch warteten. Ich könne mit dem Zug kommen, sagte sie, sie würden mich am Bahnhof abholen.
»Sie verändert sich so rasend schnell, Amande. Wenn du zu lange wartest, hat sie bald alle Zähne und kann laufen.«
Ich wollte sie ja besuchen, und das wusste Cassandra auch. Das Problem war, mich auf die lange Fahrt zu machen, meinen Kokon zu verlassen, das Haus der Familie Luzin zu betreten, Benjamins Zimmer wiederzusehen, das Wohnzimmer, in dem wir ihnen vor einem Jahr verkündet hatten, dass ich schwanger war.
Cassandra schickte mir Fotos von Mae. Sie veränderte sich bereits. Ihre Augen waren jetzt offen, weit offen, und von einem tiefen, dunklen Blau. An die Stelle des Flaums auf ihrem Kopf trat nach und nach richtiges Haar, dicht und schwarz.
Und dann hatte auch Yann angefangen.
»Amande, Cassandra braucht dich.«
Cassandra … mich brauchen? Wirklich? Ich war skeptisch, doch Yanns Stimme wurde ernst.
»Ihre Schwestern wohnen weit weg. Sie sind so gut wie nie hier. Ich glaube, sie braucht ein bisschen weibliche Unterstützung. Das Gefühl, umsorgt zu sein … als Mutter anerkannt zu werden.«
Nichts als leeres Geschwätz. Ich war mir sicher, dass er selbst kein Wort davon glaubte, mehr noch, dass er seine Ansprache mit Richard zusammen vorbereitet hatte. Ein raffinierter Trick, um mich hierherzulocken, zu ihnen.
Und dann waren meine Kohlköpfe erntereif geworden. Eine Woche zu spät. Einer nach dem anderen. Julie war auf Geschäftsreise irgendwo bei Grenoble. Sie konnte nicht vorbeikommen und ein paar davon holen. Und mit wem sollte ich sie sonst teilen? Wem könnte ich einige Köpfe abgeben? Der Stolz, den ich über die Ernte meines ersten Gemüses empfand, war nichts, verglichen mit der Vorstellung, auch andere in dessen Genuss kommen zu lassen.
Ich weiß ja selbst, dass es lächerlich ist. Erst fünf Kohlköpfe zu brauchen, um endlich Benjamins Grab zu besuchen. Fünf Kohlköpfe und eine kleine Nichte.
»Komm am Sonntag«, hatte Cassandra gesagt. »Dann ist Yann zu Hause und Anne und Richard auch. Wir holen dich am Bahnhof ab.«
Doch mit dem Zug zu fahren, kam nicht infrage. Mit dem Auto blieb ich flexibel, ich konnte nach Hause fahren, wenn es zu schwierig wurde. Ich konnte sogar im letzten Moment beschließen, überhaupt nicht aufzubrechen, oder bei der Ankunft in Lyon noch kehrtmachen. Aber wieso hätte ich das tun sollen? Ich war zweieinhalb Stunden zu früh losgefahren, obwohl ich genau wusste, dass kaum Verkehr sein würde, und in meinem Kofferraum lag ein selbst gebasteltes, rosa angemaltes Windspiel. Keine Gabeln oder scharfen Gegenstände. Ich wollte schließlich nicht riskieren, Mae zu verletzen. Nur kleine hölzerne Stöckchen – die schönsten, die ich finden konnte –, mit einer hübschen pastellrosa Farbschicht überzogen. Mae könnte mit ihren winzigen Händchen danach greifen und selig lächelnd lauschen, wie die Zweige aneinanderstießen.
Da Richard und Anne die Messe besuchten, hatte Cassandra mich gebeten, nicht vor halb eins zu kommen. Trotzdem war es gerade einmal zehn Uhr, als ich den Wagen vor ihrem Haus abstellte. Was sollte ich tun? Benjamins Grab besuchen. Acht Monate nach seiner Beerdigung wurde es dafür auch langsam Zeit, nicht wahr?
»Vielleicht habe ich mir selbst eine Falle gestellt«, erkläre ich dem schweigenden Grabstein. »Beim eigenen Unterbewusstsein muss man auf alles gefasst sein, glaubst du nicht?« Jedenfalls hatte ich bei zweieinhalb Stunden Puffer genügend Zeit für einen Spaziergang zum Friedhof. Unterwegs habe ich noch kurz beim Blumenladen angehalten.
Was darf’s denn sein, junge Dame?, hat der Florist gefragt.
»Ich wusste gar nicht, dass man Frauen im einundzwanzigsten Jahrhundert noch ›junge Dame‹ nennt.«
Ich bin mir sicher, er hätte darüber gelächelt. Ich jedenfalls lächle, allein an seinem Grab.
»Ich hätte gern einen schönen Strauß für meinen Mann, habe ich gesagt. Er mag Nelken, aber diesmal möchte ich ihn überraschen. Als ich um Blumen gebeten habe, die Kälte und Frost vertragen, hat er verwundert entgegnet: Ist es für ein Grab? Und da musste ich Ja sagen. Warum hätte ich ihn auch anlügen sollen? Dabei hat es mir Spaß gemacht, so zu tun, als wäre alles noch wie früher, weißt du, als du noch da warst und ich einen Blumenstrauß für dich besorgte.«
Auf dem menschenleeren Friedhof verstreichen ein paar Sekunden. Aus der Kirche dringen Orgelklänge.
»Weißt du, dass deine Eltern da drin sind? Ja, du hättest darüber gelacht. Sie gehen jetzt wieder zur Kirche. Unter anderem deinetwegen … Sie sagen, es hilft ihnen dabei, den Schmerz zu ertragen, einen Sinn darin zu finden. Aber lach nicht zu sehr, für sie ist es auch schwer, weißt du, und ich mache alle möglichen verrückten Dinge, um wieder etwas Farbe in mein Leben zu bringen. Mein Haus sieht mittlerweile aus wie die Hütte einer verrückten alten Exzentrikerin. Oh, und ich habe jetzt eine Katze, Ben! Das passt doch zu einer alten Exzentrikerin, findest du nicht?«
Es kommt mir schon nicht mehr ganz so seltsam vor, mit einem weißen Stein zu reden. Allmählich lasse ich mich von meinen Worten mitreißen, finde einen gewissen Gefallen daran. Ich lache leise auf und hebe eine Hand vor den Mund.
»Meine Güte, Ben, ich habe jetzt einen Garten, ich koche Kompott, backe Tartes Tatin und gieße meine eigenen Duftkerzen … Du siehst, in die Kirche zu gehen, ist alles in allem doch nicht so verrückt.«
In der Ferne öffnet ein alter Herr das Friedhofstor. Er trägt einen schwarzen Mantel und einen grauen Filzhut. Obwohl er mich auf die Entfernung gar nicht hören kann, senke ich instinktiv die Stimme.
»Ich hatte, ehrlich gesagt, gar nicht vor, dich zu besuchen. Ich bin hier, um Mae zu sehen. Deine Nichte. Du hast nie erfahren, dass du eine Nichte bekommen würdest …«
Ich schweige einen Moment, wie um ihm Gelegenheit zu geben, die Information zu registrieren.
»Sie ist jetzt einen Monat alt. Und sie verändert sich so schnell … Ich habe schon Fotos von ihr gesehen, und sie kam mir so unglaublich groß vor. Groß und stark, verglichen mit Manon. Du hast Manon ja nicht gesehen. Es war schockierend, weißt du, sie war so winzig … Sie wog gerade einmal ein Kilo zweihundert Gramm, und ihre Augen waren wie versiegelt. Mae ist anders. Sie ist ein richtiges Baby. Bei ihr hat man sicher keine Angst, sie kaputt zu machen, wenn man sie auf dem Arm hat.«
Ich schiebe den Riemen meiner Handtasche zurück auf die Schulter und betrachte den alten Mann, der vor einem blumengeschmückten Grab stehen bleibt.
»Ich kann es kaum erwarten, Yann mit dem Baby zu sehen. Er ist ja manchmal so ungeschickt … Bestimmt zieht er Gummihandschuhe an, wenn er sie auf den Arm nimmt, um sie nicht zu kratzen. Das hättest du jedenfalls gesagt, um mich zum Lachen zu bringen und ihn zu ärgern. Bei dir war das anders, alle waren davon überzeugt, dass du das mit Manon wunderbar hinkriegen würdest. Man brauchte dich ja nur mit den Jugendlichen in der MJC zu sehen. Natürlich waren die viel älter, aber du hattest einfach so etwas an dir, das konnte dir niemand nehmen, bei Kindern warst du in deinem Element. Alle sagten, du würdest ein fantastischer Vater werden. Auch deine Mutter, als wir ihnen von meiner Schwangerschaft erzählten. Sie hatte feuchte Augen, und du hast dich über sie lustig gemacht, ihr den Rücken getätschelt und sie Oma genannt. Sie kam gar nicht auf die Idee, dich deswegen auszuschimpfen, sie war viel zu abgelenkt, und du hast sie nur geneckt, um deine eigene Rührung zu überspielen und bei ihren Komplimenten nicht rot zu werden. Ja, ich habe das gemerkt. Und Richard auch. Uns konntest du nichts vormachen, Ben … Ist dir klar, dass das jetzt schon fast ein Jahr her ist? Ich weiß nicht, ob die Zeit schnell oder langsam vergangen ist. Manchmal habe ich das Gefühl, es sei schon Jahre her, aber das liegt daran, dass ich durch deinen Unfall in eine ganz neue Welt katapultiert wurde. Ich habe Zeit und Raum gewechselt, ja, sogar die Galaxie. Und dann wieder erscheint es mir ganz nah, so nah, dass ich immer noch Manons leichte Tritte in meinem Bauch spüren kann.«
Ich seufze, den Blick in der Ferne verloren. So zu reden, tut mir gut. Ich frage mich, warum ich das nicht schon früher gemacht habe.
»Weißt du, Ben, zum Glück sind sie da, sie alle vier … Deine Eltern, dein Bruder, Cassandra … Du kannst dir nicht vorstellen, wie präsent sie sind … Ich bereue nicht, dass wir geheiratet haben. Um nichts in der Welt. Es war natürlich wichtig wegen Manon, damit wir alle den gleichen Namen tragen würden, aber jetzt ist es immer noch von Bedeutung. Jetzt, wo du nicht mehr da bist … Dank unserer Hochzeit bin ich auch eine Luzin.«
Ich lächle unter Tränen.
»Das kann mir niemand mehr nehmen, stimmt’s?«
Bald darauf rücke ich den Christrosenstrauß noch einmal zurecht und wende mich von dem weißen Stein ab. Die Messe ist gleich zu Ende, und ich möchte den Gläubigen nicht begegnen. Ganz besonders nicht Anne oder Richard. Ich will noch ein wenig allein spazieren gehen, einen Zwischenraum schaffen zwischen dem Friedhof und dem Haus der Familie Luzin. Ich weiß nicht, ob ich so bald wiederkommen werde, aber eines ist gewiss: An diesem Morgen fühle ich mich leichter, und das tut mir wahnsinnig gut.
An der Haustür empfängt mich der Duft des Bratens, der mit Thymian im Ofen schmort. Und Cassandra mit ihren vor Freude gerundeten schönen blauen Augen und dem nun wieder flachen Bauch.
»Amande, ich hatte schon Angst, du würdest uns versetzen!«
Sie sieht ausgeruht aus, finde ich. Wie ist das möglich mit einem Neugeborenen? Sie wirkt erwachsener, die Schultern gestrafft, der Hals gerader. Seit Weihnachten ist sie um zehn Jahre gealtert. Liegt es daran, dass sie Mutter ist?
»Komm rein. Yann hat das Essen übernommen. Die Kleine wollte den ganzen Morgen über an die Brust!«
Mit diesen Worten schließt sie den obersten Knopf ihrer pistaziengrünen Bluse. Mit ihrem riesigen Busen und strahlend vor Glück ist sie noch schöner als sonst.
»Leg deinen Mantel hier ab, Amande.«
Ich lege den Mantel auf das Sofa und das Päckchen mit dem Windspiel auf den Tisch. Den Strauß rosafarbener Lilien gebe ich Cassandra sofort. Ich habe ihn im Blumenladen gekauft, auf dem Rückweg vom Friedhof. Der Florist wirkte überrascht, mich zum zweiten Mal an diesem Morgen zu sehen, nun ohne meinen Christrosenstrauß.
»Haben sie ihm gefallen?«, fragte er mit einem schüchternen Lächeln.
Ich war froh über seinen Scherz und lachte ein wenig zu laut.
»Ja, sie haben ihm gefallen. Und jetzt brauche ich hübsche, fröhliche Blumen. Zu einer Geburt.« Obwohl er nicht nachfragte, fügte ich hinzu: »Meine Nichte.«
Er freute sich über die Gelegenheit, mir einen persönlichen Strauß zusammenzustellen. Eine Kombination unterschiedlicher Lilien: pastellrosa, bonbonrosa und rosaviolett.
»Anne und Richard sind noch nicht zurück. Wahrscheinlich sind sie nach der Messe noch bei seinem Grab vorbeigegangen. Aber es kann nicht mehr lange dauern. Komm, komm, ich zeige sie dir.«
Sie zieht mich hinauf in den ersten Stock, zu Yanns altem Zimmer, das nun ihr Familienzimmer geworden ist.
»Seid ihr jetzt endgültig hier eingezogen?«, frage ich auf dem Weg nach oben.
»O nein, auf keinen Fall. Es war nur praktischer so während der Schwangerschaft, weißt du. Anne war in der Klinik und Richard hier ganz allein. Nach Maes Geburt wollten wir eigentlich wieder zurück in unsere Wohnung, aber Anne hat darauf bestanden, dass wir noch ein bisschen bleiben. Es tut ihr so gut, ihre Enkelin im Haus zu haben …«
Ich nicke verständnisvoll.
»Wir warten noch, bis sie zwei Monate alt wird, dann gehen wir zurück. So hat Anne genügend Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, und wir können uns noch ein bisschen ausruhen. Es ist viel einfacher hier, mit so vielen Händen, die uns auch mal ablösen können.«
Oben angekommen, erwartet uns Yann in Schlafanzug und Morgenmantel.
»Hallo, Amande!«
»Hast du dich noch nicht umgezogen?«, schimpft Cassandra.
»Wie spät ist es denn?«
»Spät genug, um unseren Gast zu begrüßen.«
»Hallo, Yann.«
Froh über die Ablenkung, gibt er mir einen Kuss.
»Bist du also doch mit dem Wagen gekommen?«
»Ja. Ich habe die Gelegenheit genutzt und war noch auf dem Friedhof.«
Keiner von beiden geht darauf ein. Nach ein paar Sekunden deutet Yann auf die geschlossene Zimmertür.
»Sie schläft«, flüstert er. »Du kannst reingehen und sie dir anschauen, aber weck sie bloß nicht auf, sonst wird Cassandra böse …«
Cassandra packt mich beim Arm und zieht mich zu ihrem Zimmer.
Im Raum ist es dunkel, aber durch die Jalousie fallen ein paar Sonnenstrahlen herein, sodass wir Manons Gitterbettchen erkennen können, das nun Maes Gitterbettchen geworden ist. Die kleine schlafende Gestalt darin liegt auf dem Rücken, ihr Bauch hebt und senkt sich langsam im Rhythmus ihres Atems. Die geballten Fäustchen liegen rechts und links neben ihrem Gesicht. Wie friedlich sie aussieht … Ihre Atemzüge sind leicht und langsam, ihre Lider flattern unter dem Eindruck von Babyträumen. Wovon träumen Babys eigentlich?
Cassandra lässt mich nicht aus den Augen. Den Blick voller Liebe, erwartet sie mein Urteil. Ich lächle sie an. Ich wage nicht, Mae zu berühren, aus Angst, sie könnte aufwachen. Stattdessen begnüge ich mich damit, sie über die Gitterstäbe hinweg anzuschauen.
»Sie hat ein Gesicht wie ein Engel, findest du nicht?«
Ja, Cassandra, natürlich hat sie ein Gesicht wie ein Engel. Wer würde es wagen, das Gegenteil zu behaupten?
»Nachher nimmst du sie auf den Arm.«
Sie hat geflüstert, und jetzt deutet sie auf die Tür, damit das Engelchen Mae in Ruhe weiterschlafen kann.
Als wir zurück ins Wohnzimmer kommen, sind Anne und Richard eingetroffen. Kälte hat ihre Wangen gerötet, und sie tragen noch ihre Mäntel. Sichtlich froh, mich hier zu sehen, begrüßen sie mich mit ausgebreiteten Armen.
»Sind die Christrosen von dir?«, fragt Richard mit gerunzelter Stirn.
»Ja, die sind von mir.«
»Ich hatte es dir doch gesagt!«, ruft Anne. »Sie konnten nur von ihr sein! Sie waren frisch. Von heute Morgen.«
»Sie sind sehr schön«, ergänzt Richard. »Wirklich sehr schön. Warst du während der Messe da?«
»Ja.«
Sie ziehen die Mäntel aus, schlüpfen in ihre Hausschuhe und erzählen uns anschließend von dem neuen Pfarrer, der aus Paris stammt und von nun an die Sonntagsmesse lesen wird.
»Er hat die Messe in Notre-Dame gelesen! Ist das nicht unglaublich?«
Nein, ich finde das nicht unglaublich, aber ich nicke trotzdem. Yann kommt ins Wohnzimmer, jetzt in Jeans, Poloshirt und Mokassins. Das perfekte Outfit für einen perfekten Schwiegersohn, hätte Benjamin gespottet.
»Setzt euch!«, befiehlt Anne und klatscht in die Hände. »Richard serviert gleich den Aperitif. Nimm du den Chefsessel, Amande.«
Sie deutet auf Richards Sessel, der ebenso schwer wie bequem ist. Offenbar bin ich heute der Ehrengast.
Wir halten alle ein Glas mit Martini, Portwein oder süßem Weißwein in der Hand. Cassandra hat sich auf dem Sofa niedergelassen, allerdings so weit vorn auf der Kante, dass es scheint, als hielte sie sich bereit, beim geringsten Babyweinen wieder aufzuspringen. Richard wirkt ein wenig erschöpft. Er sieht blass aus.
»Ist alles in Ordnung? Bei der Arbeit …?«
Ich habe leise gesprochen, während Yann und Anne gerade in eine lebhafte Diskussion darüber verwickelt sind, ob die Arbeiten in der Straße planmäßig am kommenden Freitag oder doch erst am Samstag abgeschlossen sein werden.
»Ja, alles in Ordnung.«
Ich merke, dass er meiner Frage ausweicht.
»Ich habe mir wohl irgendetwas eingefangen. Nichts Ernstes.«
»Warst du beim Arzt?«
»Nein. Das ist nicht nötig. Wirklich nicht.«
Anne hingegen geht es besser. Mir fällt auf, dass sie sogar wieder angefangen hat, sich zu schminken.
»Na, Amande, wie geht es deiner Katze?«, erkundigt sich Cassandra.
»Der geht es gut. Sie hat mittlerweile drei Kilo zugenommen.«
»Drei Kilo? Wirklich?«
»Wirklich.«
»Das liegt sicher an ihrem Frühstücksporridge!«
»Ja, das könnte gut sein.«
Nun schließen sich auch Yann und Anne unserem Gespräch an.
»Und was ist mit dem Garten?«
»Wartet, ich muss euch etwas zeigen …«
Sie sehen mir nach, als ich in den Flur gehe und meine Tasche hole. Daraus ziehe ich den Kohlkopf hervor, den ich ihnen mitgebracht habe. Den schönsten von allen. Er ist aus der Plastiktüte gerutscht, in die ich ihn eingepackt hatte, und jetzt ist meine ganze Tasche voller Erde.
»Oh, wow!«, ruft Cassandra.
»Was ist …?«, fragt Anne und verstummt mitten im Satz.
»Ein Kohlkopf?«, wagt Yann einen zaghaften Versuch.
Ich nicke und halte ihn ihnen hin. Übervorsichtig reichen sie ihn von einem zum nächsten. Cassandra betrachtet meinen Kohlkopf so ungläubig, als hätte sie noch nie zuvor einen gesehen. Anne lächelt gerührt – wahrscheinlich erinnert er sie an ihr Gemüse aus dem Garten im Jura. Die Männer sind weniger beeindruckt.
»Hast du viele davon?«, fragt Yann.
»Nein, ich bin erst am Anfang. Feldsalat habe ich auch schon geerntet. Der Rest braucht noch etwas Geduld. Meine Winterendivien sind eingegangen, sie haben den Frost nicht überstanden. Die Rüben sind erst zu Beginn des Frühjahrs so weit, und der Knoblauch kommt im Juni.«
»Oh«, sagt Cassandra, die sich wahrscheinlich immer noch fragt, wie um alles in der Welt ich es geschafft habe, diese riesige Blätterkugel heranwachsen zu lassen.
»Gut gemacht«, lobt Anne.
Sie wollen mir den Kohl zurückgeben, aber ich schüttele den Kopf.
»Der ist für euch.«
Und so gesellt sich mein Kohlkopf zu dem Strauß rosa Lilien und dem roten Päckchen mit dem Windspiel auf dem Tisch.
Ohne Hast trinken wir unseren Aperitif und knabbern ein paar Erdnüsse. Ich erkundige mich, was es bei ihnen Neues gibt. Ich hatte recht, Anne geht es besser. Nach den Weihnachtsferien hat sie ihre Arbeit als Lehrerin wiederaufgenommen. In Vollzeit. Die Kinder waren sehr verständnisvoll und brav, wahrscheinlich hatte die Direktorin sie informiert. Auf Anraten ihrer Psychologin nimmt sie auch keine Antidepressiva mehr. Sie schläft besser und versucht, sich jetzt ausschließlich auf die Organisation der Klassenfahrt ans Meer zu konzentrieren, die im Juni stattfinden wird.
»Alles zu seiner Zeit. Schrittchen für Schrittchen, das hat meine Psychologin gesagt.«
Annes Weg führt also über die Klassenfahrt. Und die anderen? Bei Yann sind es Mae und Cassandra, die ihm helfen, nach vorn zu blicken. Da ein Glücksfall nur selten allein kommt, hat man ihm bei der Arbeit ein neues Projekt übertragen, aber er ist mit dem Herzen nicht bei der Sache.
»Du solltest sie mal sehen, all diese Affen in meiner Abteilung, wie sie da in ihren Glaskästen sitzen und dämlich grinsen, wenn ich um fünf Uhr gehe. Hey, Luzin, nimmst du dir den Nachmittag frei? Das finden diese Idioten witzig.«
»Aber er geht trotzdem«, ergänzt Cassandra stolz.
Ja, Yann macht jeden Tag um fünf Uhr Feierabend, zwei Stunden früher als üblich, und dann löst er Cassandra bei Mae ab. Er badet sie, liest stapelweise Bücher zum Thema Vater werden, kocht das Abendessen. Er hat sich verändert, und ich bin nicht die Einzige, die davon beeindruckt ist, das erkenne ich an dem stolzen Blick, mit dem Anne ihn betrachtet.
Cassandra braucht mir gar nichts zu erzählen, ich errate auch so, wie es ihr geht. Sie ist glücklich, so glücklich, dass sie beinahe platzt. Ihre Arbeit als Ärztin? Fehlt ihr kein bisschen. Es macht ihr solche Freude, sich hier den ganzen Tag um ein kleines Wesen zu kümmern, das nicht mehr verlangt als ihre Brüste und permanenten Körperkontakt. Sie selbst wundert sich darüber am meisten. Und später? Sie hat schon angefangen, sich darüber Gedanken zu machen. Irgendwo auf dem Land eine eigene Praxis eröffnen. Sich die Arbeitszeit selbst einteilen, genügend Freiraum lassen, um Mae aufwachsen zu sehen.
»Wo denn auf dem Land?«
»Das weiß ich noch nicht … Irgendwo im Umland von Lyon. Vielleicht im Département Ain.«
Yann hat den Ofen ausgeschaltet und winkt uns aus der Küche, dass wir uns an den Tisch setzen können. Ich fühle mich seltsam schwer, als ich aus meinem Chefsessel aufstehe. Von all den Erzählungen schwirrt mir der Kopf. Jetzt ist es also so weit, denke ich … Jetzt ist es so weit … Wir haben Februar, acht Monate nach dem Unfall, und das Leben ist in seine gewohnten Bahnen zurückgekehrt. Anne hat ihren Tiefpunkt überwunden, sie geht wieder zur Arbeit, schminkt sich und verhätschelt ihre Enkelin. Cassandra blüht in ihrer Mutterrolle auf, Yann hat ungewollt den Platz des Ältesten eingenommen und ist nun der ganze Stolz seiner Mutter. Das Leben geht weiter, trotz des Schmerzes, trotz des Gefühls, dass die Welt angehalten wurde und nichts jemals wieder so sein wird wie früher. Aber nicht für mich … Ich habe mich von all dem zurückgezogen, von dem Lärm, der Betriebsamkeit, dem Leben der gewöhnlichen Sterblichen. Ich bleibe in meinem Haus, klebe Zettel mit verrückten Zielen an die Wand und schmücke meine Weide mit Farben. Das ist nicht das normale Leben, es ist ein anderes Leben, das ich mir mühsam zusammenbastele, ein Leben nach Maß, das sich meinen zögerlichen Schritten anpasst und in dem genug Raum bleibt für die beiden Menschen, die ich verloren habe.
Und Richard? Geht das Leben für ihn auch weiter? Er war vorhin recht schweigsam, und ich bin mir nicht sicher, ob er uns überhaupt zugehört hat.
Beim Essen kommt das Gespräch unweigerlich auf Mae. Ihren Schlaf, ihre kleinen Fäuste. Ihr allererstes Reflexlächeln. Das ist schwer für mich. Ich fühle mich ausgeschlossen. Und Benjamin? Die Zeiten, in denen wir nur über ihn geredet haben, sind vorbei. Es ist egoistisch, und ich schlucke mühsam, um das alles aus meiner Kehle zu verdrängen.
Schließlich ertönt von oben ein Schrei, Cassandra sieht mir in die Augen und nimmt meine Hand.
»Komm.«
Sie fragt mich nicht, nein, sie zwingt es mir auf, ihr warmes Baby, an meinen Brüsten, in meinen Armen, die gar nicht wissen, was zu tun ist. Gehorsam setze ich mich auf Cassandras und Yanns Bett und achte darauf, die Kleine nicht fallen zu lassen.
»So, siehst du. Halt ihren Kopf gut fest. Das ist perfekt. Du bist perfekt.«
Cassandra lächelt mich an. Ich bleibe stumm, bringe kein Wort heraus, wie erschlagen von dieser Liebe, die mit der Wucht eines Tsunamis über mich hereinbricht.
»Sie sucht deine Brust.«
»Ich weiß. Sie braucht … Du musst sie zurücknehmen.«
Ich muss wieder zur Besinnung kommen. Manon. Dieses winzige, leblose, tote Gewicht. Mae, die sich mit der Anmut eines Engels schüttelt. Mein zersprungenes Herz. Ich brauche ein wenig Luft.
»Ich gebe sie dir danach wieder zurück«, verkündet Cassandra.
Sie nimmt mir Mae aus den Armen, und ich bleibe schwankend und aufgewühlt zurück. Immer noch lächelnd, knöpft sie ihre Bluse auf, nimmt ihre pralle, runde Brust aus dem Büstenhalter und bietet sie Mae wie selbstverständlich dar. Und sie lächelt weiter, als die Kleine zu trinken beginnt und sie zärtlich eine Hand auf ihren Kopf legt.
»Tut das weh?«
Ich habe mich gezwungen, etwas zu sagen, um das Schweigen zu brechen und meine fiebrige Anspannung zu vertreiben.
Ich betrachte einen schmalen Sonnenstrahl, der durch die Jalousie hereindringt. Das Ehebett, auf dessen Kante wir sitzen. Den Radiowecker auf Yanns Nachttisch, der einen grünlichen Lichtkranz wirft. Ich horche auf die gedämpften Stimmen aus dem Erdgeschoss. Auf Maes Schmatzgeräusche und ihr leises, zufriedenes Brummen. Ich glaube, wir beide teilen gerade einen intimen Moment, und ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll.
»Woran denkst du?«
Cassandras Frage überrascht mich. Etwas einfältig zucke ich mit den Schultern.
»An nichts.«
»Denkst du an Manon?«
Ich brauche ein paar Sekunden, um den Schlag zu verdauen, dann schüttele ich den Kopf.
»Nein … Jetzt nicht …«
Behutsam verschiebt Cassandra Maes Kopf, damit sie leichter trinken kann.
»Ich denke oft an sie, weißt du«, sagt sie sanft.
Wieder dauert es eine Weile, bis ich reagieren, schlucken, wieder atmen kann.
»Wirklich?«
»Ja. Sie hätten mit ein paar Monaten Abstand zur Welt kommen sollen. Sie hätten gemeinsam aufwachsen sollen. So hatten wir es geplant.«
Ich habe keine Lust, darauf zu antworten. Offen gestanden, wäre es mir lieber, Cassandra würde nicht darüber reden. Jetzt bin ich ein bisschen wütend. Auf das Leben, auf sie beide, auf diesen Plan, der ganz und gar nicht so aufgegangen ist, wie gedacht, auf die ganze Welt.
»Ich bin mir sicher, dass Manon die Vernünftigere von beiden geworden wäre. Und wir hätten dich und Ben gehasst, weil ihr das perfekte Kind bekommen hättet. Ein hübsches, braves, gut erzogenes kleines blondes Mädchen, das allen Eltern den Kopf verdreht hätte.«
Unwillkürlich beginnen meine Lippen zu zittern.
»Du bist doof …«
Cassandra lächelt, ihre Augen glänzen.
»Ich wette, du warst als Kind immer wahnsinnig brav.«
»Stimmt.«
»Ich glaube, Manon wäre so geworden wie du.«
»Und was, wenn sie nach Ben gekommen wäre?«
Cassandra denkt einen Moment nach.
»Draufgängerisch und furchtlos?«
»Ja.«
»Hmm … Dann hätten wir alle vier ein Problem gehabt. Aber ich glaube, sie wäre dir ähnlich gewesen. Ich bin davon überzeugt, dass Babys während der Schwangerschaft alle Emotionen ihrer Mutter spüren. Und ihren Charakter gewissermaßen in sich aufnehmen.«
»Und?«
»Und du warst immer der Inbegriff der Ruhe. Ich habe noch nie eine so ausgeglichene, entspannte Schwangere gesehen wie dich.«
»Ich hatte keine Angst … Ich war zuversichtlich, dass alles gut gehen würde.«
»Ich dagegen war die reinste Furie. Wegen drei Krümel auf dem Teppich bekam ich einen Tobsuchtsanfall, und wenn Yann auch nur eine Minute zu spät kam, habe ich ihn zur Schnecke gemacht.«
»Das waren die Hormone …«
»Die Hormone und meine Angewohnheit, erst zu reden und dann zu denken. Du wirst sehen, Mae wird vollkommen durchgeknallt sein!«
»Deine Schwangerschaft war ja auch ziemlich turbulent … Benjamin … dann Anne in der Klinik … das war nicht leicht.«
»Nein«, fällt mir Cassandra energisch ins Wort. »Du bist diejenige, für die es nicht leicht war. Nicht wir. Wir haben überhaupt kein Recht zu jammern.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also sage ich nichts, und Cassandra fährt fort: »Für uns war diese Schwangerschaft das Beste, was uns passieren konnte, selbst unter diesen Umständen. Mae hat Yann gerettet. Und zum Teil auch Anne.«
Ich sehe zu, wie sie den Körper der kleinen Mae von ihrer Brust nimmt, diese zurück in den BH schiebt und mit einer Hand ihre Bluse zuknöpft.
»Das wird uns Ben niemals zurückbringen, aber es hat uns geholfen, uns daran zu erinnern, dass das Leben ebenso viel gibt, wie es nimmt.«
Mit diesen Worten legt sie mir Maes kleinen Körper in die Arme, und ich bin wie erstarrt. Ich denke über Cassandras Worte nach und über die von Julie, und ich denke an das Gemüse in meinem Garten und an den Kompost, der verfault, um irgendwann wieder meinen Boden zu nähren. Gäbe es keine Unbeständigkeit, so bliebe das Getreidekorn für immer ein Getreidekorn; ihr hättet niemals eine Ähre und könntet auch kein Getreide essen.
Der kleine Körper wird schwer von Schläfrigkeit. Maes Finger schließen sich um meine Halskette, ein dünnes Silberkettchen, das Benjamin mir zum Jahrestag unserer ersten Begegnung geschenkt hat.
Der schmale Sonnenstrahl im Zimmer verblasst. Draußen schwindet wahrscheinlich das Tageslicht. In ein paar Stunden wird es dunkel. Die Stimmen aus dem Erdgeschoss erscheinen uns weiter entfernt als zuvor. Vielleicht flüstern sie.
Mae schläft ein, auf ihrem Engelsgesicht liegt ein Ausdruck vollkommener Seligkeit.
Als ich an diesem Sonntag nach Hause fahre, denke ich an meine graue Katze, die bestimmt in ihrem Sessel auf mich wartet. Es ist dunkel geworden. Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos blenden mich. Ich denke an Benjamins Grab, zu dem ich noch einmal zurückgekehrt bin, bevor ich mich auf den Weg gemacht habe, um ihm von meiner Begegnung mit Mae zu erzählen, von dem Windspiel, das Cassandra über ihrem Gitterbettchen aufgehängt hat, von Annes Feigen-Crumble und von Richards erschöpftem Gesichtsausdruck, über den er nicht mit mir reden wollte.
»Ich versuche, bald wiederzukommen«, habe ich ihm beim Abschied versprochen.
Als ich den Autobahnring um Lyon verlasse, kommt Wind auf, und er wird immer stärker, je weiter ich mich von den breiten Straßen, den Laternen, den Autos entferne und aufs Land hinausfahre. Ich schalte einen Nachrichtensender ein. Sturmwarnung in der Region Auvergne-Rhône-Alpes, wahrscheinlich Schneefälle. Ich denke an die Folientunnel in meinem Garten und an die Bänder in der Weide. Und dieser Gedanke trägt mich zurück zu meinem alten Haus, zu meinem grauen Sessel, zu meiner von Kaffeeduft erfüllten Küche, zu meinem Schlafzimmer mit Blick auf die Kiefern. Schon ist das Haus der Luzins wieder weit weg, dieser sonnige Sonntag, der Rinderbraten, Mae … Sie sind weit weg, aber ich vergesse nicht, was ich Benjamin versprochen habe: Ich werde an sein Grab zurückkehren und mit ihm reden.
»Hallo, meine Liebe!«
Die graue Katze kommt mir im dunklen Flur entgegen. Wie froh sie zu sein scheint, mich zu sehen! Sie schnurrt, reibt sich an meinen Waden und fordert mit leisem, klagendem Maunzen ein Streicheln ein.
»Warst du auch brav?«
Noch im Mantel gehe ich in die Küche. Ich lasse den Blick durch meine kleine Welt schweifen: mein alter Holztisch, meine vier Stühle, mein Spülbecken, in dem noch die schmutzige Tasse von heute Morgen steht, das Abtropfgestell mit den beiden dicken, grünen Kohlköpfen und das Papier an der Wand: Feiern. Draußen weht ein bedrohlicher Wind. Ich freue mich, wieder zu Hause zu sein. Ich war nur einen Tag fort, zum ersten Mal, seit ich hier eingezogen bin, und mein Haus hat mir gefehlt. An diesem Abend schlafe ich frohgemut ein. Meine erste Unterhaltung mit Benjamin, meine erste Begegnung mit Mae, die Rückkehr in mein Haus und zu meiner Katze. Ein selbst gebasteltes Glück, aber dennoch Glück.