ICH WEISS NICHT, was mich dazu bewogen hat, sie anzurufen. Vermutlich hat der Putsch der grauen Katze etwas damit zu tun. Ein donnerndes, an mich selbst gerichtetes »Ach, komm schon, verdammt!« Auf ein bisschen Leben mehr kommt es jetzt auch nicht mehr an.
Cassandras Stimme zittert vor Emotionen, als sie beim ersten Klingeln rangeht.
»Amande? Amande, bist du es wirklich?«
Auch mir fällt das Sprechen schwer, die Worte drängen sich in meiner Kehle.
»Wie geht es dir? Deinem Baby …?«
Ein paar Sekunden lang weiß keine von uns beiden, was sie sagen soll. Stattdessen füllen leise, erstickte Laute die Verbindung.
»Amande, es ist so lange her, seit … Ich dachte, du wärst mir böse …«
Ihre Stimme bricht, und ich beginne in meiner kleinen Küche unter den fragenden Blicken der grauen Katze, stumm zu weinen.
»Nein, nein … Das ist es nicht. Weißt du, ich …«
»Ich weiß«, unterbricht mich Cassandra sanft.
Wieder Schweigen. Das brauchen wir beide. Die Katze springt von ihrem Sessel und kommt, ohne mich aus den Augen zu lassen, langsam näher.
»Dein Baby? Wie geht es ihr?«, frage ich und wische mir über die feuchten Wangen.
»Es geht. Sie … sie kostet mich alle Kraft. Sie … sie strampelt Tag und Nacht.«
Ich lache unter Tränen ins Handy, und Cassandra tut es mir gleich.
»Ich sehe aus wie ein Wal, Amande. Ich glaube, Yann liebt mich nicht mehr.«
»Sag das nicht.«
»Er will nicht mehr mit mir schlafen!«
»Das hat doch nichts damit zu tun. Das ist wegen des Babys, er hat Angst … na ja … ihr zu nahe zu kommen, verstehst du?«
Cassandra lacht schallend auf, wegen der Hormone, weil mein Anruf sie aufwühlt. Ich bin so glücklich, ihre Stimme zu hören.
»Meine Güte, Amande, ich bin die Ärztin. Normalerweise erzähle ich den Eltern solchen Blödsinn!«
»Mag sein, aber im Moment gehörst du zu den Eltern.«
»Meine Güte, Amande«, wiederholt sie. »Wie geht es dir denn? Was treibst du da ganz allein in deiner Einöde?«
Ein Schauer läuft mir über den Rücken, die Katze reibt sich an meiner Wade. Immer noch kein Angriff? Wartet dieses heimtückische Tier etwa, bis es mich eingelullt hat, bevor es mir ins Gesicht springt?
»Möchtest du nicht herkommen und es dir selbst anschauen?«
»Was?«, fragt Cassandra.
»Möchtest du nicht herkommen und dir anschauen, wo ich wohne? Mit Yann und Richard? Und mit Anne, wenn es ihr wieder besser geht?«
»Ja! Ja, natürlich!«
»In einem Monat ist Weihnachten. Ihr könntet hier bei mir feiern … Ich … ich glaube nicht, dass ich den Mut aufbringe, mein Haus zu verlassen, aber wenn ihr herkommt …«
»Mein Gott, ja, ich würde dich wahnsinnig gern besuchen! Lass mich mit Yann und Richard darüber reden, ja? Ich glaube, Anne könnte uns sogar begleiten. Sie erholt sich allmählich wieder.«
»Ist das wahr?«
»Ja, sie soll in ein paar Tagen nach Hause kommen. Ich bin froh zu wissen, dass sie zur Geburt da sein wird.«
Ich weiß nicht, was ich antworten soll, etwas blockiert tief unten in meiner Kehle, aber Cassandra achtet gar nicht darauf.
Ich erinnere mich noch genau, auf welche Weise Benjamin mir zu verstehen gegeben hat, dass er Vater werden wolle. Es war an einem Montagabend in unserer Wohnung in einem Vorort von Lyon. Wir wollten gerade zu Abend essen. Ich weiß noch, dass Benjamin Pizza machen wollte. Tomatensoße, Chorizo, Ziegenkäse und eine doppelte Portion geriebener Gruyère.
»Was suchst du denn, Poupette?«
Ich kramte in der Küchenschublade, in der wir unsere Medikamente, Pflaster, das Desinfektionsmittel und – verstehe das, wer will – die Umschläge und Briefmarken aufbewahrten. Ich hatte den gesamten Inhalt ausgeräumt, aber das, was ich suchte, war einfach nicht zu finden.
»Meine Pille. Hast du die Schachtel irgendwo gesehen?«
Keine Antwort. Also nahm ich die Suche wieder auf. Lag sie vielleicht in meiner Handtasche? Unmöglich, ich nahm die Schachtel nie aus der Schublade.
»Ben?«, versuchte ich es erneut.
»Ja?«
Er steckte den Kopf zur Küchentür herein. Ein merkwürdiges Lächeln lag auf seinen Zügen. Natürlich verstand ich nicht das Geringste.
»Hast du meine Pille gesehen?«
»Ah … ja … auf dem Nachttisch, glaube ich.«
»Auf dem Nachttisch?«
»Ja, genau.«
»Aber ich lasse sie nie auf dem Nachttisch.«
Er zuckte die Achseln. Immer noch mit diesem verdächtigen Lächeln im Gesicht, aber ich reagierte nicht weiter darauf. Stattdessen ging ich ins Schlafzimmer und suchte dort nach meiner Pille. Wie Ben gesagt hatte, lag die Schachtel auf unserem Nachttisch, was absolut unbegreiflich war. Genauso unbegreiflich wie die Tatsache, dass sie leer war. Vollkommen leer. Kein einziger Tablettenstreifen. Nicht einmal mehr der Beipackzettel.
»Ben?«
»Ja?«, rief er aus dem Wohnzimmer.
»Da ist nichts mehr drin … Hast du eine Ahnung, was passiert ist?«
Ich wartete ein paar Sekunden und wollte gerade noch einmal rufen, als er fragte: »Nichts mehr drin?«
»Nein.«
»Gar nichts? Bist du sicher?«
Also sah ich noch einmal in der Packung nach. Und entdeckte, was ich beim ersten Mal übersehen hatte: An einer Seite klemmte ein Stück Papier in der gleichen Größe wie die Schachtel selbst. Mit wachsender Verwirrung zog ich es heraus, und es dauerte ein paar Sekunden, bis ich darauf eine ausgedruckte Zeichentrickfigur erkannte. Ein kleines Tierchen mit flauschigem, weißem Fell und einem Vogelschnabel, dessen riesige, weit aufgerissene Kulleraugen an den Kater aus Shrek erinnerten.
»Was ist das denn, Ben?«
Ich Dussel hatte immer noch nichts begriffen. Benjamin legte eine Hand auf meine Schulter, und ich zuckte zusammen, denn ich hatte ihn nicht ins Zimmer kommen hören.
»Das ist eine der Spinnen von Mune.«
»Mune?«
»Dem Wächter des Mondes. Die Spinnen helfen Mune mit ihren magischen Fäden, den Mond zu beschützen.«
»Die Spinnen? Welche Spinnen?«
»So eine, wie du sie vor dir hast.«
Ich musterte die kleine Fellkugel auf dem Zettel in meinen Händen genauer.
»Das soll eine Spinne sein?«
»Eine Mondspinne.«
»Warum hast du eine Mondspinne ausgedruckt und in meine Pillenschachtel gesteckt?«
Ich runzelte verwirrt die Stirn. In seinem Blick sah ich leise Enttäuschung. Seine Schultern sanken herab.
»Angeblich erweichen sie mit ihrem niedlichen Gesicht und ihrem flauschigen Fell jedes Herz. Es heißt, man könne ihnen einfach nichts abschlagen …«
Er sprach nicht weiter, und ich wiederholte skeptisch: »Nichts abschlagen?«
Und da begriff ich. Die leere Pillenschachtel, das ausgedruckte Bild. Vor Verblüffung brachte ich kein Wort mehr heraus. Benjamin lachte spöttisch.
»Natürlich wäre es einfacher, wenn meine Freundin nicht so vollkommen ahnungslos wäre und wenigstens ab und zu mal einen Zeichentrickfilm schauen würde.«
Ich brachte ihn mit einem Klaps auf die Schulter zum Schweigen. Selbst etwas sagen konnte ich immer noch nicht.
»Elia hat mir versichert, dass Munes Spinnen viel niedlicher sind als Shreks Kater. Aber ich hätte vielleicht doch lieber den Kater nehmen sollen …«
Ich öffnete den Mund, doch kein Laut kam über meine Lippen.
»Offenbar muss man sie reden hören, um vollends dahinzuschmelzen.«
»Ben …«
»Wenn du willst, schauen wir den Film beim Essen. Du kannst mir danach antworten.«
Er lächelte. Ich war kreidebleich.
An diesem Abend schauten wir Mune – Der Wächter des Mondes, aber Benjamin ließ mir nicht die Zeit für eine Antwort. Er trug mich ins Schlafzimmer und zog mich aus. Danach habe ich nie wieder meine Pillenschachtel gesucht. Fünf Monate später beschloss Manon, in meinen Bauch und unsere Herzen einzuziehen.
Der Vorschlag kam von Cassandra. Ich selbst hätte sie nie darum gebeten. Ich wusste, dass sie eine Menge um die Ohren hatte und sich nicht der Geburtshilfe, sondern der Allgemeinmedizin zuwenden wollte.
»Amande, ich würde gern dich und das Baby betreuen.«
Damit war sie einfach so herausgeplatzt, spontan, ungekünstelt, ohne Umschweife. Cassandra, wie sie leibt und lebt.
»Natürlich nur, wenn du willst«, hatte sie, ihre Begeisterung zügelnd, hinzugefügt.
Natürlich wollte ich. Abgesehen von der Familie Luzin gibt es niemanden, dem ich mehr vertraue als Cassandra.
»Geht das denn?«
»Sicher geht das! Ich meine … nicht für den Ultraschall und das alles … Aber ich kann eng mit deiner Hebamme zusammenarbeiten. Deine zweite Hausärztin werden.«
Selbstverständlich habe ich zugestimmt. Und Cassandra hat meine Hebamme ausgesucht.
»Sie ist die Beste, versprochen.«
Meine Schwangerschaft verlief völlig unproblematisch, Cassandras Vorkehrungen erwiesen sich als überflüssig, trotzdem bestand sie darauf, bei jedem Termin dabei zu sein, wiederholte die Erläuterungen der Hebamme und geriet vor Entzücken über meinen Bauchumfang, der mit jeder Woche ein paar Zentimeter zulegte, geradezu außer sich.
Sie war es auch, die uns nach dem Ultraschall im fünften Monat das Babygeschlecht verriet.
»Ein kleines Mädchen.« Und mit einem strahlenden Lächeln fügte sie hinzu: »Eine kleine Luzin.«
Eine Woge undefinierbarer Gefühle verschlug mir die Sprache. Es war Benjamins Stimme, die mich aus meiner Betäubung riss: »Willkommen, Poupinette.«
Im Laufe der nächsten Tage entwickeln die graue Katze und ich eine Strategie, um uns nicht gegenseitig zu erschrecken.
Das Zusammenleben ist nicht leicht, aber ich spüre, dass ich anfange, mich daran zu gewöhnen. Und wie sollte ich sie jetzt, da es draußen immer kälter wird, auch wieder vor die Tür jagen?
Mein gesamtes Wintergemüse ist unter der Erde. Kohl, Feldsalat, ein paar Rüben, Knoblauch und Winterendivien … Auch meine Erdbeerpflänzchen habe ich gesetzt. Dank des leichten Dauerregens im November brauche ich nicht zu gießen. Doch sobald die Temperaturen weiter sinken, werde ich etwas unternehmen müssen, um sie vor der Kälte zu schützen. Madame Hugues hat diesem Thema einige Seiten gewidmet. Der Bau von Gewächshäusern und Folientunneln.
Das ist mein nächstes Projekt. Ich will aus zurechtgebogenen Kleiderbügeln und schwarzen Müllsäcken Folientunnel bauen. Natürlich wäre es einfacher loszufahren und in einem Gartencenter fertige Tunnel zu kaufen, aber ich brauche Beschäftigung. Schon bald wird mein Gemüse abgedeckt sein, versehen mit einem System aus Löchern und Plastikflaschen, die das Regenwasser durchlassen, und dann habe ich nichts mehr, woran ich mich festhalten kann. Keinen Grund mehr, morgens aufzustehen. Ich versuche, nicht daran zu denken, dennoch setzt sich diese Vorstellung allmählich in meinem Kopf fest, und jedes Mal spüre ich einen Kloß in der Kehle. Also ja, ich versuche, diese letzte Aufgabe so weit wie möglich in die Länge zu ziehen: Folientunnel zu basteln, um damit mein Gemüse abzudecken.
Während die Tage kürzer werden, immer dunklere Schneewolken am Himmel aufziehen und die Temperaturen fallen, gehe ich mit doppelter Energie ans Werk. Erst den Tunnel für die Erdbeeren. Die Kleiderbügel in die passende Bogenform biegen. Löcher in die Plastiksäcke schneiden und die Bögen darin einfädeln. Große Steine suchen, damit die Tunnelränder nicht weggeweht werden. Die einzelnen Säcke mithilfe von Bindfäden oder Klammern miteinander verbinden. Meine Wunden versorgen. Nachsehen, ob ich auch wirklich gegen Tetanus geimpft bin. Stolz meinen ersten Tunnel bewundern. Neue Hundert-Liter-Müllsäcke kaufen. Sie am nächsten Morgen in den Laden zurückbringen und gegen große Planen eintauschen. Kapitulieren und richtige Tunnelbögen kaufen. Meine alten, verrosteten Kleiderbügel entsorgen.
Danach der Tunnel für die Blumen. Ein Kinderspiel, verglichen mit meiner vorherigen Bastelei. Die graue Katze kratzt sich immer öfter. Ich mache mir allmählich Sorgen und überlege, ob ich sie vielleicht zu einem Tierarzt bringen soll, damit er sich die rosa Flecken in ihrem schütteren Fell ansieht. Doch gleichzeitig weiß ich, dass ich sie unmöglich transportieren kann. Ich kann sie beim besten Willen nicht auf den Arm nehmen. Ratlos rufe ich Julie Hugues an.
»Sagen Sie … Sie haben nicht zufällig Ahnung von Tiermedizin?«
Julie Hugues ist zu Recht überrascht.
»Haben Sie ein Haustier adoptiert?«
»Ich habe eine Katze aufgenommen. Und ich glaube, sie hat Flöhe.«
Sie fragt, ob sie mich zurückrufen könne – es ist Nachmittag, und sie ist im Büro –, und schon hat sie wieder aufgelegt. Aus der Leitung klingt das Freizeichen, und ich bin immer noch nicht klüger als zuvor.
Also mache ich mich an den Tunnel für das Gemüse. Nur wenige Tage nachdem ich mit dieser Aufgabe begonnen habe, kann ich es jetzt kaum erwarten, endlich fertig zu werden. Meine Finger sind trotz der dicken Handschuhe durchgefroren. Ein eisiger Regen setzt ein, aber ich gebe nicht auf. Ich werde nicht reingehen, bevor dieser letzte Tunnel fertig ist.
Es ist dunkel geworden. Ich beende meine Arbeit im Schein einer Stirnlampe und frage mich, ob eine solche Besessenheit wohl noch normal ist.
Als ich ins Haus zurückkomme, liegt die graue Katze schlafend in ihrem Sessel. Auf meinem Handy erwartet mich eine Sprachnachricht von Julie Hugues.
»Versuchen Sie es mit in Wasser verdünntem Essig. Geben Sie ihr das direkt aufs Fell. Und kämmen Sie sie. Es gibt nichts Besseres. Rufen Sie mich zurück, wenn Sie Fragen haben.«
Ich habe Essig im Haus und auch einen Kamm, den ich der Katze gern überlasse. Das einzige Problem ist: Wie soll ich das anstellen, wo ich doch nicht einmal in der Lage bin, mich ihr zu nähern?
»Tut mir leid, meine Gute … du hast es schlecht getroffen … Warum wolltest du auch unbedingt bei mir einziehen? Ich hatte schon immer Angst vor euch …«
Stoisch bleibt sie auf ihrem grauen Sessel liegen. Noch verbindet sie die mit Essig gefüllte Sprühflasche in meinen Händen nicht mit jenem abscheulichen Geruch, den sie schon bald hassen lernen wird. Es ist nur noch eine Frage von Minuten …
»Sei mir nicht böse. Ich versuche doch nur, dir zu helfen.«
Es ist lächerlich. Ich habe drei Hosen übereinandergezogen, zwei Pullover, ein paar Fäustlinge und einen Schal, der die Hälfte meines Gesichts verdeckt. Wenn sie mich angreifen sollte, bin ich wenigstens halbwegs geschützt … Auf leisen Sohlen schleiche ich näher. Zögere. Einen Meter von ihr entfernt, erstarre ich. Ich kann ja wohl schlecht Mika oder Julie bitten, das für mich zu übernehmen … Sie hebt den mageren Kopf und sieht mich aus stechend grünen Augen an.
»Na gut, einverstanden … Morgen …«
Ich verfüge über keinerlei Autorität. Hatte ich das schon erwähnt? Ich hätte der nette Elternteil werden sollen. Regeln und Grenzen festsetzen, dafür sorgen, dass sie auch eingehalten werden, das alles wäre Benjamins Aufgabe gewesen. Du hast mich ganz schön hängen lassen, Ben. Durchaus ein wenig verstimmt warte ich auf seine Antwort.
Tut mir leid, Poupette …
Ich habe mir noch etwas anderes vorgenommen, und das erscheint mir mit einem Mal sehr viel dringlicher, als der grauen Katze Essig aufs Fell zu sprühen: Ich muss die ganzen Äpfel retten, die verfaulen werden, wenn ich sie nicht auf der Stelle zu Kompott verarbeite. Meine Küche verwandelt sich in eine Sauna. Nach Zimt und Äpfeln duftender Dampf breitet sich aus. Ich kann nur noch einen Meter weit sehen. Auf dem Herd köcheln die Äpfel in einem riesigen Topf vor sich hin, werden weicher und nehmen nach und nach eine goldbraune Farbe an. Auf der Anrichte steht ein knappes Dutzend Einmachgläser, die ich im Wohnzimmerschrank gefunden habe und nun Stück für Stück mit meinem Kompott fülle. Auf den Etiketten notiere ich das Datum. Vier Tage brauche ich, um die gesamte Ernte der beiden Apfelbäume zu verarbeiten. Und darüber wird es Dezember.
Die graue Katze erleichtert mir die Aufgabe sehr. Es ist Abend, und ich habe gerade die letzten Einmachgläser auf den Speicher gebracht. Ich komme wieder herunter, falte die Leiter zusammen und schließe die Luke. Ohne auf die Katze zu achten, die dreißig Zentimeter von mir entfernt ist, lasse ich mich erschöpft auf einen der Küchenstühle fallen. Bevor ich reagieren kann, springt sie mit einem Satz auf meinen Schoß. Keine scharfen Krallen, wie ich befürchtet hatte. Ich spüre nichts als ein warmes, nicht allzu schweres Gewicht, das sich an meinen Bauch kuschelt. Und plötzlich kann ich mich nicht mehr rühren. Nicht, dass ich Angst hätte, im Gegenteil … Es ist nur schon so lange her, seit ich zum letzten Mal so etwas gespürt habe. So lange her, seit ich zum letzten Mal von einem anderen Lebewesen berührt wurde, seit sich jemand an mich geschmiegt hat, seit ich einen Druck auf meinen Bauch gefühlt habe. Aufgewühlt sitze ich da, und eine Stunde lang machen weder ich noch die Katze auch nur die kleinste Bewegung.
»Hallo, Amande.«
Ich bin überrascht, Annes Stimme zu hören. Sie scheint guter Dinge zu sein.
»Ist es endlich so weit, haben sie dich entlassen?«, frage ich.
»Ja, ich bin wieder zu Hause.«
Ich glaube, heute ist Sonntag, aber ich bin mir nicht sicher. Ich stelle sie mir zu viert im Wohnzimmer vor, der Tisch ist gedeckt, der Duft von Rinderbraten erfüllt das Haus. Cassandra hat sich mit ihrem dicken Bauch sicher auf das Sofa fallen lassen. Richard und Yann stehen ungeduldig am Ofen, lassen die Uhr nicht aus den Augen, horchen auf ihre knurrenden Mägen.
»Cassandra hat mir erzählt, dass du uns zu Weihnachten einladen möchtest … In dein neues Haus.«
Ich nehme die Zärtlichkeit in ihrer Stimme wahr.
»Ja … Wenn ihr Lust habt, Heiligabend mitten im Wald zu feiern.«
Ich kann beinahe hören, wie sie ins Telefon lächelt.
»Natürlich. Schneit es bei dir?«
»Noch nicht, aber es kann nicht mehr lange dauern.«
Ich werfe einen Blick nach draußen. Raureif bedeckt das Gras, und dichter Nebel hängt über meinem Garten.
»Wir könnten etwas zu essen bestellen und mitbringen. Richard mag den Feinkosthändler in der Einkaufspassage sehr gern.«
»Nein! Darum will ich mich selbst kümmern!«, lehne ich, zweifelsohne ein wenig zu heftig, ab.
Eine kurze Stille folgt auf meine Worte. Ich fürchte schon, ich hätte sie gekränkt. Aber dem ist nicht so. Lediglich ein wenig Sorge schwingt in ihrer Stimme mit.
»Bist du sicher, dass du für fünf Personen kochen willst?«
»Ja. Das mache ich schon.«
»Es ist eine Menge Arbeit …«
»Ich habe reichlich Zeit.«
Ich weiß nicht, ob Anne mich versteht, ob auch sie ständig Beschäftigung braucht, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wie dem auch sei, sie gibt sich geschlagen.
»Dann übernehmen wir den Wein.«
»Perfekt.«
Ich lasse ein paar Sekunden verstreichen und beschließe, dass das Thema damit abgehakt ist.
»Na, wie fühlt es sich an, wieder zu Hause zu sein?«