18

WIR STECKEN MITTEN IN DEN VORBEREITUNGEN für unser Vollmondbankett, als an diesem Morgen mein Handy vibriert.

»Geh nur«, sagt Richard, »das schaffe ich auch allein.«

Ich hole das Telefon, das ich in einer Zimmerecke abgelegt habe, und lächle. Mir ist, als kehrte ein Geist zurück.

Brauchen sie hilfe beim rasen, madame Luzin?

»Richard?«

»Ja?«

»Würde es dich stören, wenn wir bei unserem Bankett heute Abend einen Gast hätten?«

»Nein, natürlich nicht. Du … du bekommst Besuch?«

»Das könnte sein … Jemand, der Benjamin gut gekannt hat …«

Er runzelt fragend die Stirn, doch mehr verrate ich nicht. Stattdessen richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Display. Ich bin mir sicher, dass Richard froh sein wird, Mikas Bekanntschaft zu machen.

Hallo Mika. Rasen ist schon gemäht. Was hältst du von einem langweiligen Abendessen mit Erwachsenen? Hier ist jemand, den ich dir gern vorstellen würde. Gleicher Lohn wie beim letzten Mal, und danach bringe ich dich zurück zum Bahnhof, damit du den Zug um halb elf erwischst. Unbeholfen füge ich noch ein Smiley hinzu und kehre zu Richard zurück, der gerade mit der Schere kämpft.

»Müssen wir noch einmal los und mehr Wein kaufen?«, fragt er.

»Hm … ich glaube nicht.«

Wieder unterbricht uns das Summen meines Handys.

Ok. Kan meine freundin zu irem langweiligen erwaksenen essen mitkomen?

Ich hebe den Kopf und blicke zu Richard hinüber, der sich konzentriert über die Tischdecke beugt.

»Wir werden schlussendlich zu viert sein«, verkünde ich gelassen.

Richard ist zu höflich, um nachzufragen. Er nickt, und ich lächle. Ich glaube, ich habe mich richtig entschieden.

Ursprünglich hatte ich mir dieses Bankett im Mondschein als ein einsames Mahl vorgestellt. Als einen Moment innerer Einkehr. Feierlich und ein wenig ernst. Aber das Leben hat anders entschieden.

Am späten Nachmittag fahre ich allein nach Clermont-Ferrand, um Mika und seine Freundin vom Bahnhof abzuholen. Richard möchte lieber an der Schaukel weiterarbeiten. Er hat eine Kiefer ausgesucht, deren Äste dick genug sind, um Maes Gewicht zu tragen, bis sie mindestens sechs Jahre alt ist. Auf meinem Dachboden hat er ein passendes Brett aufgestöbert, den Überrest eines früheren Fensterladens. Jetzt ist er damit beschäftigt, es abzuschleifen und zurechtzusägen.

Die Sonne sinkt bereits, aber uns bleiben noch gut zwei Stunden Tageslicht, bevor es dunkel wird. Das Obst ist in hübschen versilberten Schalen angerichtet, die ich in Madame Hugues’ Vorratsschrank entdeckt habe, aber da nun auch Mika und seine Freundin dabei sein werden, musste ich mein Obst notgedrungen um Chips, Tiefkühlpizzas und eine Flasche Coca-Cola ergänzen.

Ich sehe sie gleich, als ich vor den gläsernen Bahnhofstüren parke. Mika mit seinem zu Berge stehenden kupferbraunem Haar scheint seit unserer letzten Begegnung schon wieder zehn Zentimeter gewachsen zu sein. Das junge Mädchen neben ihm ist eine hübsche Brünette mit sehr hellem Teint in einem schwarzen Volantkleid. Eine Art gemäßigter Gothic-Stil. Mika hat eine Hand um ihre Taille gelegt, aber er lässt sofort los, als er mich entdeckt.

»Guten Tag, Madame Luzin.«

»Hallo, Mika.«

Ich wende mich dem jungen Mädchen zu, das mir schüchtern eine Hand entgegenstreckt.

»Das ist Lola«, erklärt Mika. »Die Sängerin unserer Band.«

Er mustert mich besorgt, und ich lächle.

»Freut mich, dich kennenzulernen, Lola.«

Ich weiß noch genau, was Mika beim ersten Mal über Lola gesagt hat: Sie wär gern mitgekommen, aber sie hat gesagt, das gehört sich nicht … weil sie Sie ja nicht kennt. – Das hättet ihr mir sagen sollen. Natürlich konnte sie mitkommen. – Außerdem war sie ein bisschen verknallt in Benjamin, also …

Erfreut stelle ich fest, dass sie jetzt nicht mehr davor zurückschreckt, mich kennenzulernen, und dass sie in Mika eine neue Liebe gefunden hat.

»Los, steigt ein. Ihr könnt euren Rucksack in den Kofferraum legen.«

Mika ist ruhiger als bei seinen letzten Besuchen, ernsthafter, erwachsener. Weil er jetzt verliebt ist … Sie setzen sich zusammen auf die Rückbank und lassen mich vorne allein als ihre Taxifahrerin.

Im Rückspiegel sehe ich die Hand, die er auf das Knie des Mädchens gelegt hat, ihre Blicke, die sich immer wieder begegnen, ihr verschwörerisches Lächeln. Mein Herz zieht sich ein wenig zusammen. Nicht, dass ich nicht froh darüber wäre, sie verliebt zu sehen. Es ist etwas anderes … Vielleicht meine eigene Einsamkeit, die mir dadurch umso deutlicher zu Bewusstsein kommt.

»Habt ihr gerade Schulferien?«, frage ich, um das Gespräch in Gang zu bringen.

»Nein, Madame Luzin! Wir hatten doch gerade erst Winterferien!«

»Ach so?«

»Ja. Im Februar. Die Schule hat vor zwei Wochen wieder angefangen.«

Ich bin eindeutig nicht mehr auf dem Laufenden …

»Wart ihr Skifahren?«

»Nein. Skifahren, das ist was für Snobs.«

»Aha. Dann seid ihr also in Lyon geblieben?«

»Ja. Wir haben für unseren Auftritt bei der Fête de la Musique geprobt. Wissen Sie, was wir machen wollen?«

»Nein …«

»Wir spielen Coverversionen der Cranberries. Kennen Sie die?«

»Ja, ein bisschen. Die sind noch aus meiner Zeit.«

»Echt?«

Mika wirkt enttäuscht. Ich unterdrücke ein Lachen. Lola bleibt still. Ich glaube, sie ist in meiner Gegenwart immer noch ein bisschen eingeschüchtert.

»Du singst also auf Englisch?«

Sie zuckt leicht zusammen, zwei rosa Flecken breiten sich auf ihren Wangen aus.

»Ich?«

»Ja.«

»Oh … Ja … Ich meine, ich versuche es …«

»Sie tut nur wieder so bescheiden«, mischt sich Mika energisch ein. »Madame Smith sagt, sie ist supergut in Englisch.«

»Madame Smith?«

»Die Englischlehrerin.«

Lola murmelt etwas. Es klingt wie: »Sie hat nicht supergut gesagt, sondern ich komme sehr gut zurecht

Darauf folgt ein Streit.

»Sehr gut zurechtkommen, das heißt doch gar nichts.«

»Doch, das heißt, dass ich flüssig reden kann. Nicht, dass ich perfekt Englisch spreche.«

»Das ist doch das Gleiche.«

»Nicht genau.«

»Du bist echt ätzend. Immer musst du dich selbst schlechtmachen.«

»Ich mache mich nicht schlecht.«

»Doch. Ich sage, du bist supergut. Das ist alles.«

Mika richtet den Blick auf die Straße, und Lola schüttelt in gespieltem Ärger den Kopf. Ihre Wangen sind leicht gerötet. Ich verkneife mir ein Lächeln und drehe verstohlen das Radio lauter.

»Wer ist denn Ihr Besuch?«, fragt Mika ein paar Kilometer weiter.

»Gut, dass du fragst … ich hätte fast vergessen, euch von ihm zu erzählen.«

Ich setze den Blinker und biege in die schmale Landstraße ein.

»Es ist Benjamins Vater.«

»Echt?«

Mika reißt überrascht die Augen auf.

»Was macht der denn bei Ihnen?«

»Er ruht sich aus. Er war ein wenig müde.«

»Aha.«

»Und er hilft mir bei ein paar kleineren Arbeiten.«

Wieder wird es still im Wagen. Mika nickt schweigend. Lola bleibt stumm.

»Ich dachte, es würde ihn freuen, euch kennenzulernen. Ihr könntet ihm ein bisschen von der MJC erzählen.«

»Na, das kann er haben!«

Im Rückspiegel sehe ich Lolas schüchternes Nicken.

»Was ist denn los?«

»Der neue Sozialpädagoge wird immer ätzender! Wir haben eine Petition gestartet, damit er gefeuert wird! Und wir haben schon zweiundvierzig Unterschriften.«

»Tatsächlich? Was hat er denn getan?«

»Sie können sich nicht vorstellen, was er mit dem Chor vorhat!«

Lola nickt entrüstet.

»Will er ihn auflösen?«

»Nein! Schlimmer!«

»Schlimmer? Was könnte denn noch schlimmer sein?«

»Sie sollen Kirchenkram singen!«

»Kirchenkram?«, wiederhole ich, und es fällt mir immer schwerer, meine Belustigung zu verbergen.

Da meldet sich Lola zum ersten Mal zu Wort, und ihre Stimme klingt geradezu niedergeschmettert: »Er will, dass sie Alléluia, gloire à Toi singen.«

Mika imitiert eine auf seine Schläfe gerichtete Pistole. Ich kann mich nicht länger beherrschen und lache los.

»Alléluia, gloire à Toi«, wiederholt Lola fassungslos.

Auch Benjamins Lachen klingt in meinen Ohren. Jenes Lachen, das ich so liebe, das, welches aus den tiefsten Tiefen seines Bauchs aufsteigt. Hast du das gehört, Poupette? Na, wenn das kein Sakrileg ist! Ich lache mit ihm zusammen, während die beiden Teenager auf der Rückbank ein verdrossenes Gesicht machen.

Als wir aus dem Auto steigen, kommt Richard uns entgegen. Überrascht sieht er, dass ich zwei Teenager mitgebracht habe.

»Guten Tag«, begrüßt er sie und reicht ihnen die Hand.

»Das sind Mika und seine Freundin Lola. Sie kennen Benjamin aus der MJC. Letztes Jahr haben sie zu Weihnachten ein Video über ihn zusammengestellt, und sie haben eine Tafel mit seinem Namen an der Tür zum Musikraum anbringen lassen.«

Ernst schüttelt Mika Richards Hand. Richard wirkt ein wenig orientierungslos, es scheint, als werde er von seinen Emotionen überwältigt. Ich hätte ihn warnen sollen. Ich hätte ihm schon früher von der Tafel und dem Video erzählen sollen. Warum habe ich nur nie daran gedacht?

»Guten Tag, Monsieur.«

Danach gibt auch Lola ihm die Hand, schüchterner als Mika und mit schwachem Druck. Richard ist sprachlos. Ich weiß nicht, ob er mir böse ist oder einfach nur gerührt. Ich möchte ihm Zeit geben, sich wieder zu fangen, also deute ich auf die Haustür.

»Kommt mit rein und legt eure Sachen ab«, fordere ich die beiden Jugendlichen auf. »Dann könnt ihr auch etwas trinken.«

Sie folgen mir, doch Mika blickt noch einmal zu Richard zurück. Das Seil, das dieser in der Hand hält, zieht sich wie eine weiße Spur durch das Gras.

»Was baut er da?«

»Eine Schaukel für Mae.«

»Mae? Was ist das denn für’n Typ?«

»Das ist meine Nichte. Richards Enkelin.«

»Oh … Tut mir leid, ich dachte …«

Ich wische seine gestammelte Entschuldigung beiseite. Wir gehen ins Wohnzimmer. Ich habe die Fenster offen gelassen, damit der Frühlingsduft sich im gesamten Haus ausbreitet.

»Was wollt ihr trinken? Cola?«

Lola nickt, aber Mika ist ans offene Fenster getreten. Von dort aus sieht er zu, wie Richard das Seil durch den Sitz der Schaukel führt und einen festen Knoten schlingt.

»Wie will er die Schaukel denn aufhängen?«

»Er klettert auf meine Trittleiter und bindet sie an einen Ast.«

»Glauben Sie, das schafft er allein? Vielleicht braucht er Hilfe?«

»Du kannst ja rausgehen und ihn fragen.«

Mika nickt zufrieden. Und schwingt sich aus dem Fenster. Er hat es so eilig, sich an die Arbeit zu machen, dass es ihm zu lange dauert, erst noch durch das ganze Haus zu gehen. Lola schimpft liebevoll, aber da ist er auch schon draußen.

»Möchtest du eine Cola, Lola?«

»Ja. Äh … Danke!«

Ich schenke ihr ein Glas ein, biete ihr einen Stuhl an, und als wir wieder aus dem Fenster schauen, sehen wir Mika auf der Trittleiter. Er greift nach dem Ende des Seils, das Richard ihm hochreicht.

»Es kann einfach nicht stillsitzen«, sagt sie schüchtern.

Ich deute auf das Fenstersims.

»Möchtest du auch nach draußen gehen?«

Sie zuckt mit den Schultern. Die Vorstellung, mich allein in der Küche zurückzulassen, bereitet ihr offensichtlich Unbehagen.

»Ich decke in der Zwischenzeit den Tisch«, füge ich begütigend hinzu.

Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, beginne ich, Teller auf die Anrichte zu stapeln.

Wenig später sitzt Lola in ihrem schwarzen Kleid im Schneidersitz unter der Kiefer. Sie pflückt Gänseblümchen, die sie zu einem Armband zusammenflicht, das sie sich ums Handgelenk bindet. Anschließend beginnt sie sofort mit einem neuen. Hin und wieder dringt ihr schüchternes Mädchenlachen zu mir herein, und dann sehe ich Mika, stolz wie ein Gockel auf seiner Trittleiter, wie er eine groteske Imitation von wem auch immer abliefert. Doch das Schönste an diesem Tableau ist Richard, der verwirrte Bauleiter, der nicht so recht versteht, wie ihm geschieht. Richard und das selige Lächeln in seinem Gesicht.

Der Tisch ist gedeckt, die Kerzen sind angezündet, Lola hat einen meiner Mäntel angezogen und trägt eine Hose und ein Paar dicker grauer Socken, die ich ihr geliehen habe. Mika behauptet, ihm sei nicht kalt in seiner Jeansjacke, und hat mein Angebot, ihm eine Strickjacke zu borgen, abgelehnt. Ich sehe, wie er einen Pack Bierflaschen und einen Beutel losen Tabak aus dem Rucksack nimmt, und lächle einmal mehr angesichts der Überraschungen, die das Leben für uns bereithält.

»Sollen wir ein Feuer machen?«, fragt er. »Pizza vom Grill ist saulecker.«

Lola stimmt ihm zu. Im Geiste höre ich Benjamins spöttisches Lachen. Pack die silbernen Schalen weg, du bist nicht mehr up to date. Richard wirft mir einen fragenden Blick zu, er wirkt nicht überzeugt. Und ich verkünde, wenn jemand in der Lage sei, mir innerhalb weniger Minuten einen improvisierten Grill zu bauen, dann gerne.

»Mein Vater hat mal einen Grill aus einem alten Boiler gebaut«, erklärt Mika in vollem Ernst.

Richard rettet uns mit dem Vorschlag, ein Lagerfeuer zu machen und einen meiner Ofenroste, durch Steine erhöht, darüberzulegen. Mehr braucht es nicht, um Mikas Begeisterung anzufachen. Ein Bier in der Hand – »Wollen Sie auch eins, Madame Luzin?« – und eine Zigarette im Mundwinkel, eilt er geschäftig in den Wald und sammelt Steine und Zweige, die Richard zu einer präzisen Ordnung aufschichtet. Lola, deren Schüchternheit im Laufe der Stunden verflogen ist, öffnet zwei Bierflaschen und reicht sie Richard und mir.

»Jetzt brauchen wir noch Zeitungspapier, um es unter das Reisig zu schieben«, sagt Richard.

Ich gehe ins Haus und hole alte Zeitungen. Lola reißt die Seiten auseinander, und ich zerknülle sie. Es dauert eine gute halbe Stunde, bis unser Werk vollendet ist. Als das Feuer dank der dicken Scheite, die Mika im Wald gefunden hat, schließlich auflodert, setzen wir uns zufrieden hin und sind uns einig, dass ein zweites Bier nicht schaden könne.

Und das ist nun mein Bankett: ein improvisiertes Lagerfeuer mit zwei Teenagern, einem glücklich wirkenden Sechzigjährigen und einer Dreißigjährigen, deren Wangen vom Alkohol gerötet sind. Ich weiß nicht, ob ich ein wenig betrunken bin, aber es fällt mir schwer, dem Gespräch zu folgen. Ich habe auch gar keine Lust dazu. Lieber betrachte ich den Mond, das Feuer, die Sterne, die drei Gesichter um mich herum. Von Zeit zu Zeit schnappe ich ein Wort auf oder höre ein Lachen, und ich lächle. Ich glaube, Mika versucht Richard die verschiedenen Gitarrentypen zu erklären. Lola lauscht gebannt seinen Worten, schiebt sich eine Strähne hinters Ohr und befeuchtet sich die Lippen. Ich finde sie rührend und frage mich, ob Benjamin jemals bemerkt hat, dass sie in ihn verliebt war.

Wir legen die Pizzas auf den Grill. Ich vergesse sie, und es ist Richard, der sie vor dem sicheren Feuertod rettet. Danach trinken wir weiter Bier. Mika erkundigt sich, ob wir Musik machen können, und ich hole mein Radio nach draußen unter die Weide. Mithilfe eines Kabels gelingt es ihm, sein Handy mit dem USB-Anschluss des Geräts zu verbinden.

»Das spielen wir am 21.«

Aus meinem kleinen Radio dringen die ersten Gitarrenakkorde, gefolgt vom außergewöhnlichen Timbre von Dolores O’Riordan, über die einmal jemand gesagt hat, ihre Stimme sei wie ein Sturm gewesen. Ich lausche mit geschlossenen Augen. Mir scheint, als spiele Mika auf einem imaginären Schlagzeug, sein Kopf wippt im Takt, und aus Lolas Mund glaube ich, leise Gesangsfetzen zu hören. Als ich nach einer Weile die Augen wieder öffne, lächelt Richard ins Leere, Mika raucht, und Lola hat den Kopf an seine Schulter gelegt.

Danach erzählen sie von dem neuen Sozialpädagogen in der MJC, Rémi de la Gaudillère, dem sie den Spitznamen Rémi de la Serpillière, Scheuerlappen-Rémi, verpasst haben, und berichten uns das Neueste von der Band: Issams Vater hat seine Gitarre zertrümmert, nachdem er wegen Schuleschwänzens zum Direktor zitiert wurde, Nathan hält sich für was Besseres und kommt nicht mehr in die MJC, Théo versucht, sich als Frontman aufzuspielen … Richard ist interessiert, fragt nach. Er wirkt verändert heute Abend. Wie von einem inneren Licht erfüllt. Und dann wendet sich das Gespräch unweigerlich den gesegneten Zeiten zu. Der goldenen Ära der MJC. Als die Band noch eine verschworene Gemeinschaft bildete, als Benjamin noch bei ihnen war, als Elia noch schallend lachte und ihnen bei den Proben zusah, die kein Ende fanden in dem kleinen Musikraum, wo Iliès im Notenschrank eingeschlossen wurde, wenn er mal wieder »austickte«. Als Benji ihnen regelmäßig den Kopf wusch, aber auch immer eine Runde Haribo spendierte.

»Primavera-Erdbeeren. Die schmecken am besten!«

Richard ist eigentümlich still. Ich weiß, wieso. Er speichert jedes einzelne Wort, um es sich später in Erinnerung zu rufen.

Ich gehe ins Haus, um eine Flasche Rotwein zu öffnen, und als ich wiederkomme, erzählt Richard gerade von den Bands aus seiner Zeit: den Rolling Stones, Pink Floyd, Queen … Mika tippt auf sein Handy, und mein kleines Radio spielt für uns »Another Brick in the Wall«, »Bohemian Rhapsody« und »Start Me Up«.

»Joah … Nicht schlecht, zugegeben.«

Das Feuer erlischt. Mika schaut auf seine Uhr und schrickt zusammen.

»Wir verpassen unseren Zug, Madame Luzin! Es ist schon zehn nach zehn!«

Ich glaube, ohne Richard wären wir nie pünktlich zum Bahnhof gekommen.

Mika und Lola bleiben noch drei Minuten, um ihre Fahrkarten zu kaufen, doch das scheint sie nicht weiter zu beunruhigen.

»Machen Sie sich keine Gedanken, Madame Luzin, das schaffen wir.«

Ich halte ihm den versprochenen Geldschein hin, aber Mika schüttelt entschieden den Kopf.

»Nächstes Mal holen Sie mich zum Mähen. Das ist echt nicht Ihr Ding.«

Vor Überraschung verschlägt es mir die Sprache.

»Ach ja?«

»Nein. Das habe ich gleich gesehen, was glauben Sie denn … Das Gras ist so was von unterschiedlich hoch. Besser, Sie lassen mich das machen. Behalten Sie Ihren Schein fürs nächste Mal.«

Ich würde gern darauf antworten. Aber was? Mir fällt nichts ein, und Mika lässt mir auch keine Gelegenheit mehr dazu. Der Zeiger der großen Bahnhofsuhr ist wieder eine Minute weitergesprungen, sie müssen sich beeilen, um ihren Zug nicht doch noch zu verpassen.

»Danke für das Essen und dass Sie uns hergefahren haben. Bis dann, Madame Luzin. Bis dann, Monsieur Luzin.«

Sie nicken Richard zu, der hinter dem Steuer sitzen geblieben ist. Flüchtig berühren ihre Wangen die meinen, und schon rennen sie Hand in Hand davon und verschwinden durch die Glastüren.

Als wir eine halbe Stunde später wieder zurück sind, erscheint mir das Haus sehr leer. Die Glut ist verloschen. Die Weide, die Sitzgruppe, mein tragbares Radio, die leeren Bierflaschen, die schmutzigen Teller, all das ist nur noch in den silbrigen Glanz des Mondlichts gehüllt. Ich höre kaum, wie Richard ins Haus schlüpft. Mit einem unbestimmten Lächeln beginne ich, den Tisch abzuräumen. Ohne es zu beabsichtigen, habe ich mein Bankett im Mondschein mit anderen geteilt. Mit Richard, aber auch mit Mika und Lola, selbst wenn die beiden gar nichts davon wussten. Während ich die Teller aufeinanderstapele, denke ich, dass diese Feier anders war als die vorherigen. Sie war nicht einsam. Sie war nicht so feierlich. Und doch hat sie mir sehr gutgetan. Vielleicht ist die Zeit reif für ein neues Ziel. Einen neuen Zettel an der Wand. Aber was? Ich weiß es nicht. Ich lasse meine Gedanken schweifen. Teilen? Offen sein? Wofür? Die Welt? Das Neue? Andere Menschen?

Richard kommt vom Haus her auf mich zu, und das Geräusch seiner Schritte lässt mich zusammenfahren.

»Du hast es doch hoffentlich nicht vergessen?«

Jetzt, wo wir nur noch zu zweit sind, klingt seine Stimme wieder ernster. Er trägt etwas in den Händen und hält es mir hin. Anfangs erkenne ich im schwachen Mondlicht nur eine braune Liane. Dann werden die Umrisse der Skulptur deutlicher. Ihre längliche Form. Ihre Kurven. Es handelt sich um zwei Schlangen, die gar keine echten Schlangen sind. Sie verwinden ihre Leiber, verschmelzen miteinander, und ihre menschlichen Köpfe finden sich zu einem Kuss. Es ist ein Paar. Ein Liebespaar. Ein vereintes Paar. Richard legt die Skulptur in meine Hände, und mir fehlen unversehens die Worte. Ich kann nur mehrmals nicken, um ihm meine Dankbarkeit auszudrücken.

»Es ist schon spät. Bring sie ihm morgen …«

Ich nicke erneut. Richard legt eine Hand auf meine Schulter, sehr leicht, und während er weiter den Tisch abräumt, richte ich allen heimlichen Dank der Welt an den Mond. Für Richard. Für diesen Abend. Für Mika und Lola, die einander lieben. Für die Holzskulptur. Für das Lagerfeuer. Für alles Schöne und Unverhoffte, das mir noch widerfahren wird.