DEN ENTSCHLUSS, in eine menschenleere Gegend zu ziehen, fasste ich binnen weniger Tage. Ich musste dem Sommer entfliehen. Musste Ruhe finden, um nachzudenken. An sie zu denken. Dort war das unmöglich. Im Krankenhaus ließ man mich keine Minute allein. Sie haben es nie gesagt, aber ich habe es erraten. Sie hatten Angst, ich würde mir die Pulsadern aufschneiden. Es gab da diesen Psychologen, der versuchte, mich zum Reden zu bringen, aber er hat nicht viel erreicht. Ich stand unter Schock, war unfähig zu begreifen, dass mein Universum in Trümmern lag. Buchstäblich. Nach dem Krankenhaus nahm Anne mich mit zu ihnen nach Hause, in ihr Gästezimmer, das einst Benjamins Zimmer gewesen war, als er noch bei ihnen lebte. Ich habe nicht widersprochen, dazu fehlte mir die Kraft. Yann, Benjamins Bruder, blieb regelmäßig über Nacht, manchmal mit Cassandra, manchmal ohne sie. Anne bestand darauf, dass wir die Mahlzeiten gemeinsam einnahmen, auch wenn keinem von uns der Sinn nach Reden stand. Wir müssten uns gegenseitig stützen, sagte sie. Aber so hockten wir zu viert in einem Haus, das mir viel zu eng erschien … Außerdem gab es dort zu viel Licht. Im Nachbargarten schrien Kinder, veranstalteten Wasserschlachten. Manchmal drang Grillgeruch ins Wohnzimmer, gefolgt von Gelächter, Geschirrklappern und dem Klirren aneinanderstoßender Gläser. Anne tat so, als höre und rieche sie nichts. Aber ich konnte es einfach nicht ertragen.
Und dann kam meine Mutter von ihrer Insel. La Réunion. Dort hatte sie sich niedergelassen, sobald ich alt genug war, um allein zu leben und auf eigenen Beinen zu stehen. Anscheinend hatte sie schon immer davon geträumt. Aber nun kam sie zehn Tage nach der Beerdigung zurück nach Frankreich, in das Haus von Anne und Richard.
»Es tut mir so leid. Das war der erste Flug, den ich nehmen konnte.«
Ich habe nicht verstanden, warum Anne sie eingeladen hat, ebenfalls bei ihnen zu wohnen. Bestimmt dachte sie, ich bräuchte in dieser schweren Zeit die Unterstützung meiner Mutter. Sie hat sich getäuscht. Ich habe meiner Mutter ihre ständige Kritik an Benjamin nie verziehen.
»Ein arbeitsscheuer Hippie ist das, mehr nicht.«
Außerdem habe ich ihr nicht verziehen, dass sie während meiner gesamten Schwangerschaft so distanziert geblieben ist. Ich glaube, es gibt vieles, was ich ihr niemals verziehen habe, und ihr Fehlen bei der Beerdigung war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
»Ich werde dir helfen, wieder auf die Beine zu kommen, Liebes.«
Ich weiß nicht, wie ich die ersten beiden Tage überstanden habe. Wahrscheinlich war ich in Gedanken einfach viel zu weit weg. Aber als sie mir am dritten Tag riet, möglichst schnell wieder arbeiten zu gehen, um »mein Leben in den Griff zu bekommen und nicht in Trübsal zu versinken«, forderte ich sie auf, wieder abzureisen. Als meine Mutter empört reagierte, sprang Anne für mich in die Bresche. Ich werde ihr auf ewig dankbar dafür sein, dass sie mir diese zusätzliche Krise erspart hat. Am nächsten Morgen flog meine Mutter zurück auf ihre Insel, und ich studierte die Anzeigen im Internet. Meine Suchanfrage lautete Haus zur Miete auf dem Land. Die Auvergne gehörte zu den ersten Treffern meiner Recherche. Ich habe nicht lange nachgedacht. Ich musste so schnell wie möglich weg. Beim ersten Besichtigungsangebot packte ich einen unpersönlichen Koffer und fuhr los.
Benjamin hatte nichts von dem arbeitsscheuen Hippie, für den meine Mutter ihn hielt. Zugegeben, in seinem braunen Haar waren noch ein paar Spuren der Dreadlocks zu sehen, die er in seiner Jugend getragen hatte. Sie verliehen ihm eine besondere Note, die mir gefiel. Als ich ihn kennenlernte, arbeitete er in einer Maison des jeunes et de la culture, einem Jugend- und Kulturzentrum, in Lyon. Er trug weite Jeans und einen Ohrring und war offen für jeden. Er verhielt sich stets unbefangen, ganz gleich, in welcher Gesellschaft. Er war weder eingebildet noch zu geschwätzig, das hätte mich abgeschreckt. Nein, er war einfach nur ungezwungen, entspannt, fühlte sich wohl in seiner Haut. Und er hatte ein gutes Herz. In der MJC war er als Sozialpädagoge angestellt. Die Jugendlichen nannten ihn Benji. Er war das genaue Gegenteil von mir – und das ist er immer geblieben. Groß und dunkel, ich dagegen zierlich und blond. Freundlich und aufgeschlossen, ich dagegen zurückhaltend und misstrauisch. Ich arbeitete im Bezirksrathaus des achten Arrondissements, und wir planten in Zusammenarbeit mit diversen Organisationen, darunter Anwohnervereinen, Seniorentreffs und den Jugendlichen aus der MJC, einen Abend mit Gratissuppenküche für Bedürftige. Also hatte ich mit dem Leiter der MJC des achten Arrondissements einen Termin vereinbart, um unser Projekt vorzustellen, und Benjamin war mir als Ansprechpartner zugeteilt worden. Ich hatte noch nie zuvor eine MJC betreten, und er hatte an jenem Tag alles getan, damit ich mich wohlfühlte. Er war freundlich gewesen, hatte mir Kaffee angeboten, den ich dreimal ablehnte, und mir vorgeschlagen, nach unserer Besprechung noch bei einer Bandprobe seiner Jugendlichen im Nebenraum zuzusehen. Das war keine spezielle Verführungstaktik von ihm, er versuchte lediglich, der kleinen, nervösen Blondine in ihrem schicken Kostüm die Anspannung zu nehmen. Doch ich blieb in der Defensive, beschränkte mich auf mein Suppenküchenprojekt und verzog jedes Mal verlegen das Gesicht, wenn er mich anlächelte. Mit einem Mann wie Benjamin hatte ich noch nie näher zu tun gehabt. Ich war auf der Hut. Er gehörte ganz einfach nicht in meine Welt.
Er brauchte einen Monat, in dessen Verlauf wir uns immer wieder wegen unseres Projekts getroffen hatten, um das Eis zu brechen und eine gewisse Kameradschaft zwischen uns zu begründen. Am Abend der Suppenküche, als der Duft von gekochtem Gemüse in der Luft hing und Sechzigerjahre-Rock-’n’-Roll aus den Lautsprechern dröhnte, gelang es ihm auf wundersame Weise, mich hinter das Hauptzelt zu führen. Wir hatten ein paar Bier getrunken. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Ich wehrte ihn nicht ab, als er mich zu küssen versuchte. An diesem Abend habe ich meine fehlende Hälfte gefunden.
Vor einigen Jahren, das war noch in meinem früheren Leben, habe ich einen Artikel gelesen, dem zufolge es mittlerweile unüblich geworden sei, eine festgelegte Trauerzeit einzuhalten. Das allerdings habe für die Menschen durchaus problematische Folgen. Früher dauerte die offizielle Trauerphase Wochen, wenn nicht gar Monate. Die Frauen trugen als Ausdruck ihres Kummers Schwarz, ein langer Kreppschleier bedeckte ihr Gesicht, und jeglicher Schmuck war verboten, es sei denn, er bestand aus geschwärztem Holz. Männer befestigten ein schwarzes Kreppband um ihren Hut oder trugen eine schwarze Binde am Arm. Sämtliche Aktivitäten kamen zum Erliegen, und die Familien scharten sich zusammen. Man ließ den Menschen Zeit, ihren Schmerz zu pflegen, sich zu erinnern und sich angemessen zu verabschieden. Heute soll der Alltag weitergehen, kaum dass die Beerdigung vorbei ist: Arbeit, Rechnungen … Die Gesellschaft hat für Trauer keine Zeit mehr.
Aber ich kann das nicht. Darum habe ich mich in die Auvergne zurückgezogen. Ich brauche Zeit.
Meine Mutter hat noch ein paarmal versucht, mich zu erreichen. Ich habe die Mailbox rangehen lassen, obwohl ich bereits wusste, dass ich ihre Nachrichten nicht abhören würde. Sie will sicher wissen, wann ich wieder anfange zu arbeiten. Einen anderen Grund, mich anzurufen, hat sie nicht. Im Rathaus hat man mir unbezahlten Urlaub angeboten, noch bevor ich überhaupt Zeit hatte, mir selbst Gedanken darüber zu machen. Wahrscheinlich hatten sie Angst, ich würde mich sonst immer wieder krankschreiben lassen. Offenbar greift das in den öffentlichen Verwaltungen gerade um sich. Ich habe akzeptiert. Vorerst brauche ich kein Geld.
Wegen meiner Schlaflosigkeit kann ich mich kaum auf den Beinen halten und verbringe einen Großteil des Tages im Bett. Ich starre an die Decke. Meine Augen brennen. Ich müsste schlafen. Können diese Albträume mich nicht endlich in Frieden lassen? Ich entdecke einen Fleck an der Zimmerdecke. Wahrscheinlich Feuchtigkeit, die vom Dachboden aus durchsickert. Ich lasse den Fleck wachsen, bis er mein gesamtes Blickfeld ausfüllt und verschwimmt. Ich schlafe ein. Ohne es überhaupt zu bemerken.
Ich erwache mit einem wohligen Gefühl. Ich spüre, dass ich über drei Stunden tief und fest geschlafen habe. Vielleicht sogar vier. Ich habe keine Ahnung, die Uhr ist kaputt, und mein Handy liegt tief in meiner Handtasche vergraben. Ich lasse die Decke, in die ich mich gewickelt hatte, im Bett zurück und gehe durch den Flur in das hintere Zimmer, das Esszimmer. Dort bücke ich mich und spähe durch den schmalen Spalt zwischen den beiden hölzernen Fensterläden. Es ist dunkel. Nacht. Besser noch, ich stelle fest, dass es regnet und der Himmel von dicken Wolken verhangen ist. Nicht ein Stern ist zu sehen. Ich zögere, wie erstarrt stehe ich vor den geschlossenen Läden. Ein verrückter Gedanke … Eine Minute oder zwei. Nicht mehr. Ich gehe hinaus in den Regen, in meinem Schlafanzug, den ich seit mehreren Sonnen nicht mehr ausgezogen habe. Sieben vielleicht. Ich habe jedes Zeitgefühl verloren.
Es ist ein feiner Nieselregen, der meine Haare kaum feucht werden lässt und nicht stark genug ist, um den Baumwollstoff des Schlafanzugs zu durchdringen. Die Luft riecht nach Erde, wie immer, wenn es regnet. Ein intensiver Humusgeruch. Zögerlich treten meine Füße auf das rutschige Gras. Ich kann mir nicht helfen, ich denke an Benjamin darunter, in seinem Sarg aus hellem Holz. Liegt er darin auch geschützt? Anne hat den Sarg ausgesucht. Ich lag im Krankenhaus. Man hatte mir in der Nacht des 21. Juni in aller Eile den Bauch aufgeschnitten, und die Narbe sah nicht gut aus. Die Ärzte fürchteten, sie könnte sich entzünden. Ich durfte nur kurz zur Beerdigung, und sie hatten mir verboten, stehen zu bleiben. Es war ein schöner Sarg. Anne hatte ein elegantes lackiertes cremefarbenes Holz ausgewählt.
Bei ihr hat man mir keine Wahl gelassen. Offenbar war sie noch nicht vollständig ausgebildet. Für mich hatte sie wie ein echtes Baby ausgesehen, ein vollauf lebendiges Baby, das weinen und an meiner Brust hätte trinken können. Aber sie atmete nicht. Ihr Herz hatte zu lange nicht geschlagen. Man hat mir erklärt, dass bei tot geborenen Föten grundsätzlich eine Feuerbestattung durchgeführt wird. Sie wurde noch am selben Tag eingeäschert, aber ihre Asche wurde erst drei Tage später im Garten der Erinnerung beigesetzt, zur gleichen Zeit, als man auch Benjamin in seinen Sarg legte. Bei ihr brauche ich mir wenigstens keine Sorgen wegen des Regens zu machen.
Ich weiß nicht genau, wohin ich gehe, aber ich setze einen Fuß vor den anderen. Bei diesem bedeckten Himmel, in dieser mond- und sternenlosen Nacht kann ich die Umrisse des Hauses nicht erkennen. Alles ist dunkel. Schemenhaft erahne ich die Kiefernwälder ringsum, mehr nicht. Also konzentriere ich mich auf die Gerüche. Die Erde, der Regen, das Harz, die Kiefernnadeln. Mir waren die Gerüche der Natur nie vertraut. Im Gegensatz zu Benjamin. Er ist im Jura aufgewachsen. Seine Eltern sind in den Großraum Lyon gezogen, als er achtzehn war. Und er hat die Liebe zur Natur, zu weiten, offenen Räumen nie verloren. Als er erfuhr, dass ich schwanger war, stand nicht eine Sekunde zur Debatte, in der Stadt zu bleiben. Er wollte, dass wir spätestens ein Jahr nach der Geburt unsere Jobs kündigten und aufs Land zogen. Wohin? Das hatten wir noch nicht entschieden. Er ging die Anzeigen durch, zeigte mir einige Fotos. Ich habe seinen Enthusiasmus nie geteilt, und meine vorgetäuschte Begeisterung war wenig überzeugend, aber er gab die Hoffnung nicht auf. »Du wirst schon sehen, wenn wir erst einmal da sind …« Und ich dachte, dass er womöglich recht hatte. Ich war mitten in Lyon aufgewachsen, der Parc de la Tête d’Or war für mich der reinste Nationalpark, ich musste das alles erst noch kennenlernen.
Meine Mutter war ein eingefleischter Stadtmensch. Zumindest während der ersten fünfzig Jahre ihres Lebens. In der Stadt konnte sie regelmäßig neue Freundinnen finden, abends etwas trinken gehen und außerhalb der Arbeit ein Sozialleben führen, obwohl sie weder einen Mann noch eine richtige Familie hatte. Doch als ich mein Studium begann und von da an den größten Teil meiner Zeit auf dem Campus verbrachte, kam sie zu dem Schluss, dass ich nun alt genug sei, um auf eigenen Beinen zu stehen, und entschied, endlich ihren Lebenstraum zu verwirklichen und auf eine tropische Insel zu ziehen. Ich schaffte es, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich hatte nur nicht unbedingt Lust dazu. Jedenfalls noch nicht so schnell.
Ob mit oder ohne Mutter, ich habe das Stadtleben immer gemocht. Dieses ständige Gewusel, das Gefühl, niemals allein zu sein, immer Menschen um mich zu haben, immer in Bewegung zu sein.
Und doch wandere ich heute Abend durch den Regen, in diesem abgelegenen Dorf inmitten der Kiefernwälder der Auvergne. Das ist bestimmt nicht das Haus, das Benjamin für uns ausgesucht hätte, aber die Umgebung hätte er geliebt, da bin ich mir sicher. Und so habe ich, umweht vom Duft nach Harz und frischer Erde, ein wenig das Gefühl, sein Projekt weiterzuverfolgen.
Ich putze Tag und Nacht. Das Haus ist nicht sonderlich schmutzig oder unaufgeräumt, aber ich muss mich beschäftigen. Da ich nicht schlafen kann, vergeht die Zeit unendlich langsam. Ich muss sie ausfüllen, sonst kehren meine Gedanken unablässig zu jenem Abend des 21. Juni zurück, zu Benjamins leblosem Körper, zu dem blutverschmierten Fötus. Ich fürchte mich so sehr vor diesen Bildern, dass ich mich mit Arbeit betäube, bis ich nicht mehr denken kann. Ich schrubbe die Anrichte in der Küche so energisch, dass ich die oberste Schicht des Schwamms abscheuere. Ich sortiere die Konserven in alphabetischer Reihenfolge. Brokkoli. Chili con Carne. Paella. Ratatouille. Rindfleisch in Tomatensoße. Sellerie. Spargel. Spinat. Zucchini-Rahmgemüse. Jeden Tag werden es weniger, aber ich fühle mich noch nicht bereit, der Welt da draußen entgegenzutreten.
Ich stöbere noch das kleinste Staubkorn auf den dunklen Lampenschirmen auf, inspiziere gründlich sämtliche Wandschränke. Hier eine alte Lokalzeitung. Dort ein vergilbtes Telefonbuch, dazu ein Kühlschrankmagnet mit den wichtigsten Notfallnummern. Im Wohnzimmerschrank zwei Bücher von Émile Zola und eine Straßenkarte. Die Tochter von Madame Hugues hat beim Aufräumen ein paar Kleinigkeiten übersehen. Ich stopfe all diese Dinge, die mir nicht gehören, in einen großen Müllbeutel und beschließe, ihn irgendwann, wenn ich mich nicht mehr so schwach fühle, auf den Speicher zu bringen.
Erst im letzten Moment fällt mir der drei Jahre alte Kalender ein, den ich neulich von der Wand genommen habe. Er liegt noch auf dem Tisch. Ich will ihn schon zu den anderen Zeugnissen aus Madame Hugues’ Leben in den Plastikbeutel stecken, als mir die Notizen ins Auge fallen, die die alte Dame darauf hinterlassen hat. Die Bohnen gießen. Die Zucchini abdecken. Den Treppenabsatz fegen. Die Fenster putzen. Die meisten Einträge sind belanglos, andere jedoch origineller: Mehr trinken. Oder dieser hier in Form einer Frage: Lockenwickler?
Der Kalender wandert nicht in den schwarzen Müllbeutel. Er bleibt bei mir in der Küche. Und dafür gibt es keinen anderen Grund, als dass es mir Freude macht, diese runde Handschrift zu entziffern.
Vor meiner Abreise aus Richards und Annes Haus habe ich ihnen versprochen, keine Dummheiten zu machen und regelmäßig anzurufen. Das zweite Versprechen habe ich nicht gehalten. Mir war gar nicht aufgefallen, dass mein Handy seit mehreren Sonnen keinen Laut mehr von sich gegeben hatte. Der Akku war leer.
»Anne, ich bin’s.«
Es ist erstaunlich, wie viele Emotionen in einem Schweigen mitschwingen können, wenn man nur darauf achtet. Annes Schweigen am anderen Ende der Leitung scheint Erleichterung auszudrücken. Riesige Erleichterung.
»Amande, ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Mein Handyakku war leer.«
Wieder Schweigen. Ich glaube, Anne sucht nach Worten, weiß nicht, wie sie anfangen soll.
»Wir haben die letzten Unterlagen mit dem Notar durchgesprochen. Sie werden dir zugeschickt. Ich habe ihm deine aktuelle Adresse gegeben. Ich … ich wusste nicht, ob dir das recht ist …«
»Doch. Das war sehr gut. So ist es einfacher.«
»Dann schau nach deiner Post.«
»Mache ich.«
Anne lässt ein paar Sekunden verstreichen. Ich habe den Eindruck, sie wartet darauf, dass ich etwas sage, aber es kommt mir gar nicht in den Sinn, mich nach der Wohnung zu erkundigen. Sie ist diejenige, die das Thema anspricht.
»Richard hat mit Yann die Wohnung ausgeräumt.«
»Ah.«
»Sie sind letztes Wochenende hingefahren. Ich wollte sie begleiten, aber dann …«
Ich schlucke. Sie braucht nicht weiterzureden, ich weiß Bescheid.
»Er hat ein Paar gefunden, das zur Untermiete dort wohnen würde«, fährt sie hastig fort. »Ab September. Ist das für dich in Ordnung?«
»Natürlich.«
»Sie haben die Sachen in unseren Keller gebracht. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen alles mit Plastikplanen abdecken. Ich wollte nicht, dass die Feuchtigkeit rankommt. Du kannst sie dann irgendwann abholen.«
Ich antworte nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Amande, ich wollte dich noch fragen, was mit den Sachen aus dem gelben Zimmer passieren soll …«
Diesmal stockt mir der Atem. Ich höre kaum noch Annes Stimme, die aus dem Telefon dringt: »Richard dachte, du möchtest sie vielleicht verkaufen oder loswerden, aber ich wollte lieber vorher mit dir darüber reden. Wir haben genug Platz im Keller … Wir können sie auch erst einmal hier einlagern. Das ist überhaupt kein Problem.«
Ich stehe in der Küche, in meinem alten Schlafanzug, der allmählich muffig zu riechen beginnt, und kann mich nicht entscheiden. Ich öffne den Mund, schließe ihn wieder. Ich weiß es nicht.
»Amande?«
»Ja.«
»Brauchst du noch etwas Zeit, um darüber nachzudenken?«
»Ja.«
Ich starre auf eines der Fenster, ohne es wirklich zu sehen. Ich warte darauf, dass dieses plötzliche Herzrasen, das mir Migräne bereitet, wieder nachlässt.
»Amande?«
»Ja.«
Die »Jas« kommen mir über die Lippen, ohne dass es mir wirklich bewusst ist, wie ein Atmen, ein automatischer Reflex, ich höre gar nicht richtig hin.
»Es ist jetzt drei Wochen her …«
»Drei Wochen?«
»Seit du da eingezogen bist. Bist du sicher, dass …«
Sie zögert. Sie will mich nicht kränken. Sie hat keine Ahnung, wie es mir im Moment geht, wie ich mit der Situation zurechtkomme.
»Möchtest du nicht vielleicht für eine Weile zurückkommen?«
»Noch nicht.«
Der Ton meiner Antwort ist unmissverständlich.
»Ich weiß, Anne. Danke …«
Ich bin erleichtert, dass sie mich nicht gefragt hat, ob ich schlafe oder etwas esse. Ich hätte sie wahrscheinlich anlügen müssen.
Das gelbe Zimmer war meine Idee. Eine Möglichkeit, dem traditionellen Rosa oder Blau zu entgehen. Wir waren nicht sehr originell. Benjamin träumte von einem Mädchen, ich von einem Jungen. Doch als wir erfuhren, welches Geschlecht das Baby hatte, war meine Freude genauso groß wie die seine. Er wollte aus der Stadt wegziehen, um ihr eine idyllische Kindheit zu ermöglichen. Ich wollte, dass wir heirateten, um denselben Namen zu tragen wie die beiden. Um eine richtige Familie zu sein. Wir haben kurz danach geheiratet. Auf dem Standesamt, nur wir beide und Yann und Cassandra, unsere Trauzeugen. Mein Bauch begann sich schon zu runden.
Ich habe das Zimmer gelb gestrichen, und Benjamin hat das Babybett und den Wickeltisch aufgebaut. Es waren hübsche weiße Holzmöbel. Über dem Bett habe ich einen Sticker an die Wand geklebt: ein Küken, das aus seinem Ei schlüpft. Die Bettwäsche war bereits gekauft, genau wie mehrere bunte Sets aus Body und Schlafanzug.
Sie sollte Manon heißen. Manon Luzin. Wir hatten auf blonden Haarflaum und Benjamins haselnussbraune Augen gewettet. Sie hätte am 20. August zur Welt kommen sollen. Stattdessen ist sie am 22. Juni um 5 Uhr 58 gestorben.
Es wird immer jemanden geben, der sich an Benjamin erinnert. Der von seiner Großzügigkeit berichtet, seiner Selbstlosigkeit, davon, wie sehr er seinen Beruf liebte, die Jugendlichen, die MJC, seine Familie. Sein Lächeln wird in Erinnerung bleiben, auch sein verwuscheltes braunes Haar und der Ohrring, über den sich alle lustig machten.
Bei ihr ist das anders. Sie hat für die anderen nie existiert. Sie haben sie nie gesehen, haben sie nie gespürt, berührt. Sie hätte sein sollen, aber sie war nicht. So einfach ist das. Ich bin die Einzige, die weiß, dass das nicht stimmt. Ich bin die Einzige, die weiß, dass sie existiert hat, wirklich existiert, abgesehen von diesen wenigen Sekunden im Krankenhaus, als ihr kleiner toter Körper dem meinen entrissen wurde. Benjamin hätte es auch gewusst. Sie existierte in unseren Köpfen, in unseren Herzen, lange bevor ihr Körper in die Welt kam. Aber Benjamin ist nicht mehr da, und jetzt gibt es nur noch mich, die sich an sie erinnert.
Ich glaube nicht, dass ich die Sachen aus dem gelben Zimmer abgeben möchte. Jetzt noch nicht.