36
Selma

Kent, Großbritannien
15. Mai 1992

Ich überprüfte mein Gesicht in meinem kleinen Taschenspiegel und trug unter den Augen mehr Concealer auf. Ich sah total fertig aus, was nicht verwunderlich war – schließlich hatte ich erst vor Kurzem ein Kind zur Welt gebracht. Zumindest mein Bauch war jetzt leicht zu verstecken, selbst wenn er noch nicht wieder ganz seine frühere Form angenommen hatte.

Ich blickte mich nach Catherine um, die in Idris’ Armen schlief, während er ehrfürchtig auf sie hinabsah. Ich musste Becky noch einmal sehen, es war ihr letzter Tag in Queensbay. Ich wollte sie sehen, natürlich wollte ich das, aber es war das erste Mal, dass ich Catherine alleine ließ, was mich regelrecht panisch werden ließ. Doch ich konnte Becky nicht enttäuschen.

Ich holte tief Luft und ging zum Café. Becky wartete mit Mike an einem Tisch und las in einer Zeitschrift, während er telefonierte. Von wegen drohende Kündigung – er musste mit dem Umzug nach Busby-on-Sea die Beförderung bekommen haben, die er immer gewollt hatte, und dazu ein Handy als Diensttelefon. Das Jugendamt hätte seine Freude an uns gehabt, wenn ich noch mit ihm zusammen gewesen wäre. Wir hätten die idealen Eltern sein können. Doch so war ich laut Behörde die schlechteste Mutter überhaupt, die in einer kalten, feuchten Höhle lebte, kein Geld und einen arbeitslosen Partner hatte.

Ich ballte die Fäuste. Hör auf mit den negativen Gedanken! Dunkelheit schien über mir zu schweben, eine stürmische Wolke, die nur darauf wartete, ihre Schleusen zu öffnen. Ich arbeitete daran, sie in Schach zu halten und konzentrierte mich auf die Liebe zu meinen Mädchen. Und heute ging es in erster Linie um Becky. Sie wuchs rasch und war inzwischen viel weniger das kleine Mädchen, als das ich sie in Erinnerung hatte. Durch ein Fenster schimmerte die Sonne herein und schien wie ein Heiligenschein über ihrem Kopf. Sie sah gesund aus.

Würde Catherine in acht Jahren auch so aussehen? Sie würde nicht den Luxus haben, den Becky hatte: vier Wände und ein sicheres Dach über dem Kopf. Drei anständige Mahlzeiten am Tag. Babykurse. Vorschule. Spielsachen. Besuche in der Eisdiele. Aber es war nicht nur das Geld. Das Jugendamt durfte nichts von Catherines Existenz erfahren. Wir mussten uns einen Großteil der Zeit versteckt halten, bis wir genug Geld hatten, um Großbritannien zu verlassen und nach Spanien zu gehen, und das schien in weite Ferne gerückt. Zu allem Übel hatte Catherine einen leichten Husten, der zweifellos vom Leben in der verdammten Höhle kam.

Eine Frau blickte kurz auf, als ich eintrat. Panik breitete sich in mir aus. Wenn das nun eine Sozialarbeiterin war, die mich ausspionierte? Wenn Mike mir eine Falle gestellt hatte?

Ich wollte gerade wieder gehen, als die Frau aufstand, zur Theke ging und sich eine Schürze anzog.

Sie war keine Sozialarbeiterin, sie arbeitete hier im Café.

Natürlich war sie keine Sozialarbeiterin.

Ich holte tief Luft und kontrollierte, dass mein Mantel auch über dem Bauch zugeknöpft war. Mike runzelte die Stirn, als er mich sah. Spürte er, dass ich ein Kind zur Welt gebracht hatte?

»Hallo, Liebling«, sagte ich, als ich bei Becky war.

Becky blickte gelangweilt auf. »Hi, Mum.«

Mum? Sie nannte mich doch sonst immer Mummy.

Mike stand auf. »Du siehst müde aus, Selma.«

»Ich war ja auch krank, erinnerst du dich?«, antwortete ich mit leicht zitternder Stimme. »Deshalb konnte ich auch in den vergangenen Wochen nicht kommen. Ich wollte nicht, dass Becky sich ansteckt.«

»Bist du dir sicher, dass du wieder ganz gesund bist?«, fragte Mike besorgt. »Vielleicht sollten wir ein neues Treffen vereinbaren? Wir sind in ein paar Wochen wieder hier.«

»Von mir aus«, sagte Becky und schob trotzig das Kinn vor.

»Nein, natürlich nicht«, widersprach ich. »Ich möchte mein Mädchen sehen.«

»Ich setze mich raus und mache noch ein paar Anrufe«, sagte Mike. »Ich muss noch etwas arbeiten und habe mir gedacht, das könnte ich doch gut mit Blick aufs Meer. Ich will noch das meiste aus den letzten Stunden in Queensbay herauszuholen.« Er sah mich traurig an, dann küsste er Becky auf die Stirn, verließ das Café und spazierte zu einer Bank.

Warum blieb er in der Nähe? Vertraute er mir nicht? Wollte er mich von dieser Bank aus für das Jugendamt ausspionieren?

»Du verhältst dich seltsam«, klang Beckys Stimme durch meine Ängste.

Ich drehte mich zu ihr um und zwang mich zu einem Lächeln. »Ich bin nur müde, das ist alles.«

»Das sagst du immer, wenn du lügst.«

Ich nahm ihre kalten Hände in meine. »Und jetzt erzähl mal! Wie war Ostern? Bist du aufregt wegen des Umzugs? Ich denke mir für das nächste Mal, wenn wir uns in zwei Wochen einen ganzen Tag sehen, etwas Schönes aus.«

Becky zog ihre Hände aus meinen und senkte den Blick. »Ostern war in Ordnung. Wir haben die meiste Zeit mit Cynthia und den Zwillingen verbracht.«

Ich runzelte die Stirn. »Ihr verbringt anscheinend viel Zeit mit ihnen.«

»Sie haben einen Swimmingpool«, sagte Becky und zuckte mit den Schultern. »Und außerdem ist Cynthia cool.«

Ich kam gegen die aufkeimende Eifersucht nicht an. »Ich kann die Frau nicht leiden.«

Beckys Gesicht wurde hart. »Ich mag sie. Sie ist eine richtig gute Mutter.«

Ich blinzelte. »Wirklich? Das überrascht mich.«

»Warum?«

»Ich fand sie immer ein bisschen zu eifrig, eine dieser Vorzeigemütter, verstehst du?« Ich versuchte, die Kellnerin auf mich aufmerksam zu machen. Ich brauchte dringend einen Kaffee.

»Zumindest kümmert sie sich«, erwiderte Becky.

Ich sah sie überrascht an. »Was soll das heißen?«

Becky verschränkte die Arme und sah weg. »Nichts.«

Die Kellnerin kam zu uns. »Was kann ich Ihnen bringen?«, fragte sie.

»Wir sind noch nicht so weit«, blaffte ich sie an. Die Kellnerin sah mich bedeutungsvoll an und ging wieder. Ich beugte mich zu Becky hinüber. »Was soll das heißen?«, wiederholte ich.

Becky seufzte und wandte sich mir wieder zu. »Du benimmst dich nicht wie eine richtige Mutter.«

Ich zuckte zurück, als hätte Becky mich geschlagen.

»Ich meine, wann haben wir uns das letzte Mal gesehen?«, fragte Becky. »Vor vier Monaten oder so.«

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich krank war.«

»Ja, das sagst du immer. Egal.«

»Woher kommt dieses Verhalten? Wo ist mein kleines Mädchen geblieben?«

»Und wo ist meine Mum geblieben?«, rief Becky.

Im Café wurde es still, die Leute sahen von ihren Tellern auf. Wir starrten einander wütend an. Dann stieß Becky ihren Stuhl vom Tisch weg und stand auf, Tränen in den Augen.

»Du bist das Letzte! Du hast uns einfach verlassen, Mum. Du hast uns verlassen für einen Hippie und eine stinkende Höhle! Richtige Mütter tun so was nicht!«

»Ich musste das tun«, sagte ich leise. »Ich fühlte mich gefangen. Das liegt nicht an dir und auch nicht an deinem Dad, sondern an mir! Ich fühlte mich durch mich selbst gefangen, durch meine Gefühle. Ich liebe dich doch.« Ich begann zu weinen. »Ich liebe dich mehr, als du dir vorstellen kannst. Bitte glaub mir, Becky.«

Ich griff nach ihrer Hand, doch Becky trat einen Schritt zurück. »Dad sagt, dass du gar nicht richtig weißt, was Liebe ist.« Wütend wischte sie ihre Tränen weg. »Und ich finde, er hat recht. Du denkst nicht wie andere Leute. Die ganzen Lügen, die du erzählst … Mich hast du auch angelogen. Ich hab die Nase voll. Ich will dich nicht mehr sehen.« Sie nahm ihren Rucksack und sah mich mit einem harten Blick an. Dann rannte sie aus dem Café und in die Arme ihres Dads.

Ich blieb wie betäubt sitzen, mein Atem tönte mir laut in den Ohren. Die Worte meiner achtjährigen Tochter hallten in meinem Herzen und in meiner Seele wider.

Ich will dich nicht mehr sehen.

Nach dem Zusammenstoß mit Becky ging ich nicht sofort in die Höhle zurück. Stattdessen spazierte ich zu einem Strand, an dem ich früher oft mit Becky gewesen war, als sie noch im Kinderwagen saß. Er lag entgegengesetzt, gar nicht weit von unserem Haus entfernt, zwischen Queensbay und Margate, und war nicht so gut besucht wie die anderen Strände der Stadt, da der Sand nicht so weiß und fein war. Stattdessen gab es dort kleine Felsenteiche und Kieselsteine. Ich war als Kind manchmal dort gewesen. Mein Vater hatte Steine über die Wellen springen lassen, und ich war glücklich gewesen.

Zumindest eine Zeit lang.

Ich spürte das vertraute Knirschen der Kiesel unter meinen Füßen und stellte mir Becky vor, an meine Brust gedrückt, ihre blonden Haarbüschel im Wind. Ich hatte es geliebt, mit meinem Baby im Arm hierzustehen, im kalten Wind. Ich hatte mir vorgestellt, dieser Strand wäre meine und Beckys private kleine Welt, ich hatte ihr sogar erzählt, dass wir im Sommer hier zelten würden. Nicht dass Becky mich verstanden hätte, sie war noch viel zu klein. Aber sie hatte gelächelt und mit ihren blauen Augen glücklich zu mir hochgeschaut.

Warum hatte ich nicht härter gekämpft, um Becky zu behalten? Ich hatte der großen Welt entfliehen wollen, aber es hätte nicht nur um mich gehen dürfen. Es hätte genauso um Becky gehen müssen. Wenn ich Becky nicht mitnehmen konnte, hätte ich nicht gar nicht erst gehen dürfen. Natürlich hatte ich vor Gericht um sie gekämpft. Doch danach hatte ich aufgegeben. Welche Mutter tat das?

»Na, das ist ja eine Überraschung.«

Ich erstarrte. Diese Stimme hätte ich überall wiedererkannt.

Sie gehörte meiner Mutter.