Als ich nach Mitternacht von dem Besuch in Idris’ Höhle nach Hause kam, war das Haus dunkel und ruhig. Mikes Auto stand in der Einfahrt, er war also mit Becky aus dem Pub zurück. Ich trat mit einer gewissen Beklemmung ein, doch dann besann ich mich. Was war falsch daran, sich ein paar Stunden Auszeit zu nehmen? Ich ging in die Küche und trank ein Glas Wasser, während ich hinaus auf die Felder sah. Ich hatte gehofft, meinen nächsten Roman mit dem Blick darauf zu schreiben. Würde es in der Höhle einfacher sein, mit dem Blick aufs Meer?
»Wo warst du?«, fragte eine Stimme in der Dunkelheit. Ich drehte mich um und sah Mike, der mich von der Tür aus beobachtete. Er kam im Schlafanzug in die Küche und blickte mich vorwurfsvoll an. »Du bist einfach verschwunden«, sagte er mit kalter Stimme.
»Das ist doch wohl erlaubt, oder? Es waren nur ein paar Stunden.«
»Nicht, wenn man ein Kind hat.«
»Du warst doch bei Becky!«
»Sie hat nach dir gefragt.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Mach mir keine Schuldgefühle, Mike. Ich habe hin und wieder ein Recht auf etwas Zeit für mich.«
»Du hast an zwei Tagen der Woche Zeit für dich«, erwiderte er.
»Da arbeite ich! Wie oft muss ich dich noch daran erinnern?«
Mike sah mich scharf an. »Du arbeitest? So nennst du das also?« Er griff nach ein paar Papieren, die auf der Anrichte lagen, und schwenkte sie vor meinen Augen. »Gemäß diesem Vertrag gibt es keine Vereinbarung über zwei Bücher – nur über eins. Und dieser Scheck über Tantiemen, der bald kommen soll, wie du gesagt hast, das ist auch Unsinn, nicht? Ich habe deine Honorarabrechnung gefunden. Dreihundertzwei Bücher sind verkauft worden. Hast du nicht gesagt, es wären Tausende?«
Ich wurde ganz still. »Du hast in meinen Sachen herumgestöbert.«
»Kannst du mir das zum Vorwurf machen? Du hast dich in letzter Zeit mehr als seltsam verhalten.«
Ich fuhr mir mit der Hand zum Kopf. Ich hatte bereits Spannungskopfschmerzen, obwohl ich erst wenige Minuten zu Hause war. Plötzlich sehnte ich mich nach der Höhle, nach dem Knistern des Feuers und der wehmütigen Gitarrenmusik, den Gesprächen über das Schreiben und die Kunst und darüber, »im Fluss zu sein« und die Kreativität zu nähren.
»Das sind nur Zahlen«, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung. »Was haben die schon zu bedeuten?«
»Was die zu bedeuten haben?«, fragte Mike und schleuderte mir den Vertrag entgegen, dass er zu Boden flatterte. »Wir müssen eine Hypothek abzahlen, Selma. Und du hast mich angelogen. Du hast gelogen, ohne mit der Wimper zu zucken.«
»Weil ich gewusst habe, dass du darauf herumreiten würdest.«
»Mein Gott«, sagte er und sah verzweifelt zur Decke. »Du begreifst es einfach nicht, oder?«
»Du begreifst es nicht!«, schrie ich mit zitternder Stimme zurück. »Du begreifst nicht, wie verdammt unglücklich ich bin.«
Mike hielt inne. »Unglücklich?«
Als er das sagte, wurde mir erst richtig klar, wie unglücklich ich war.
»Du hast alles bekommen, was du wolltest. Zwei Tage zum Schreiben, diese verdammte Aussicht, für die wir so viel Geld bezahlt haben«, sagte er und zeigte wütend zum Fenster. »Alles, was du wolltest.«
»Das habe ich nicht gewollt«, sagte ich kläglich.
»Was meinst du mit das? Mich? Becky?«
»Natürlich meine ich nicht Becky. Ich vergöttere sie.«
»Tust du das wirklich? Manchmal frage ich mich, was du mehr liebst, deine Tochter oder deine Schreiberei?«
»Wie kannst du es wagen, das zu sagen!«
Aber vielleicht hatte Mike recht. War meine eigene Mutter nicht genauso? Die ganzen Jahre hatte ich ihre Gefühlskälte ertragen müssen, wie sie am Küchentisch gesessen und an einer Zigarette genuckelt hatte, während ich sie still angebettelt hatte, mich nur mal anzusehen, mit mir zu sprechen, irgendwas zu sagen. Ich hatte auch die Verzweiflung im Gesicht meines Vaters gesehen. Seinen Wunsch, seine Frau möge zurück ins Hier und Jetzt kommen und ihre Familie wenigstens ein Mal anschauen. Ging es Mike genauso?
Nein, ich war nicht wie meine Mutter. Wie konnte ich das nur denken? Ich brachte Becky Aufmerksamkeit entgegen; ich redete mit ihr und hörte ihr zu. Becky wusste, dass ich sie vergötterte. Sie wusste, dass ich immer da war für Kuscheleien und Küsse, um sie in den Arm zu nehmen, wenn sie sich wehgetan hatte. Oder wenn sie nachts weinte. Mein Mutterinstinkt ließ mich schon in ihr Zimmer laufen, bevor Mike auch nur gemerkt hatte, dass unsere Tochter weinte. Das war meilenweit entfernt von dem Verhalten meiner Mutter mir gegenüber.
Und die Tatsache, dass Mike es wagte, mich zu verurteilen, machte mich wütender denn je. Mich als Frau zu kritisieren ging vielleicht noch. Aber als Mutter? Nein.
»Stell niemals meine Liebe zu meiner Tochter infrage«, zischte ich.
Mikes Gesicht versteinerte. »Und was ist mit deiner Liebe zu mir?«
Meine Schultern sackten nach unten. Ausnahmsweise einmal hatte ich das Lügen satt. »Da hat sich etwas geändert, du hast recht.« Er taumelte zurück. Ich hob den Blick, um ihm in die Augen zu sehen. »Es tut mir leid, Mike.«
Er hielt meinem Blick stand, seine Nasenflügel blähten sich. »Dann geh«, zischte er.
»Was?«
»Du hast gehört, was ich gesagt habe. Du hast in den letzten Monaten absolut nichts zur Tilgung der Hypothek beigetragen. Offiziell ist das also mein Haus. Pack deine Sachen und verzieh dich.«
Mein Herz begann, unkontrolliert zu schlagen. »Das kannst du nicht machen.«
»Ich kann, und das werde ich auch.«
Ich öffnete den Mund, um erneut zu protestieren, dann hielt ich inne. Vielleicht war es wirklich Zeit zu gehen, selbst wenn es nur für einige Tage war?
»Gut«, sagte ich.
Überraschung breitete sich auf Mikes Gesicht aus. Dann stürmte er ins Wohnzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Ich blieb noch ein paar Minuten, wo ich war. Mir drehte sich der Kopf. Dann ging ich nach oben und sah nach Becky. Sie hatte sich auf der Seite zusammengerollt, den Daumen im Mund, das machte sie immer noch, wenn sie schlief. Die Decke hatte sie weggestrampelt, ihr Gesicht war in der warmen Nacht gerötet, und ihre kleinen Beine guckten aus der kurzen rosa Hose.
Ich legte mich neben sie und beobachtete, wie sie atmete. Als Becky sich leicht rührte, hätte ich sie fast geweckt. Vielleicht würde ein Blick in die schönen, unschuldigen Augen meiner Tochter einen Schalter in meinem Gehirn umlegen. Dann würde die Vernunft siegen, statt dass ich diese Höhle vor mir sah und Idris’ wissende Augen.
Ich lag da, ohne zu schlafen, die Arme um Beckys warmen Körper geschlungen. Mike blieb unten, wahrscheinlich schlief er auf dem Sofa.
Als die Sonne durch die Vorhänge drang, stand mein Entschluss fest.
»Es tut mir leid«, flüsterte ich Becky zu und strich ihr über das weiche Haar. »Mummy muss sich nur über ein paar Dinge klar werden. Nichts davon ist deine Schuld, okay? Ich liebe dich sehr, und ich werde dich holen, das verspreche ich dir.«
Ich küsste sie auf die Stirn, dann ging ich zur Tür. Doch bevor ich das Zimmer verließ, hielt ich inne. Vielleicht sollte ich Becky einfach mitnehmen? Was konnte Mike schon sagen? Becky war schließlich auch meine Tochter.
Nein, das wäre nicht fair ihr gegenüber. Ich brauchte nur ein paar Tage, dann würde ich sie holen kommen. Ich würde sie nicht endgültig zurücklassen. Das konnte ich nicht.
Ich packte ein paar Sachen zusammen und ging auf Zehenspitzen nach unten. Ich wusste, wohin ich gehen würde.
Als ich kaum zwanzig Minuten später bei der Höhle ankam, tauchte die aufgehende Sonne das Meer in Rosa. Ich blieb einen Moment stehen, um den Anblick in mich aufzunehmen, die Schönheit, die Einfachheit. Die Welt war so friedlich um diese Zeit. Gewöhnlich schlief ich sonst noch, und erst Becky weckte mich.
Becky.
Ich stellte mir vor, wie sie aufwachte und sah, dass ihre Mum nicht da war. Ich hoffte, dass Mike es ihr so erklärte, dass unsere Tochter nicht traurig sein würde. Ich ertrug den Gedanken nicht, dass er das nicht tun könnte, dass es vielleicht anders sein könnte, dass er zu verbittert und zu wütend dazu war. Nein, so war er nicht. Und schließlich hatte ja er mich hinausgeworfen.
Als ich näher kam, sah ich Idris im Schneidersitz vor der Höhle sitzen und den Sonnenaufgang beobachten. Hinter ihm lagen die anderen still und leise in ihren Schlafsäcken, die Augen geschlossen. Und über allem ragte das alte verfallene Hotel auf. Was für eine Ironie, dass ich davon geträumt hatte, es zu kaufen, wenn ich erst eine erfolgreiche Autorin wäre. Stattdessen würde ich jetzt in der feuchten Höhle darunter leben. Aber irgendwie kam es mir genauso aufregend vor.
Als Idris sich umdrehte und mich ansah, wurde alles plötzlich sehr real. Das Gewicht meiner Tasche lastete schwer auf meiner Schulter. Er stand auf und kam auf mich zu, barfuß über den Sand.
»Komm, gib mir deine Tasche«, sagte er und streckte die Hand danach aus.
Ich nahm sie von der Schulter und gab sie ihm.
»Ich habe ein Bett für dich aufgestellt. Ich denke, es wird dir gefallen«, sagte er, als habe er nicht einen Augenblick daran gezweifelt, dass ich kommen würde.
Ich folgte ihm in die Höhle und ließ mein altes Leben zurück.