Ich beschleunigte meine Schritte und stieg die wacklige Treppe hinauf, die vom Strand zum Hotel führte. Die Stufen waren gesprungen und mit Gras überwachsen, das Metallgeländer verrostet.
Als ich oben angekommen war, war Idris verschwunden. Von Nahem sah das Hotel mit der abblätternden Farbe und den überwucherten, zerbrochenen Fensterscheiben noch vernachlässigter aus. Ich spähte durch die Spinnweben hinein und sah eine Gestalt, die an der Rezeption über der Theke zusammengesunken war. Es war Idris.
Ich drückte die Klinke herunter und zu meiner Überraschung ging die Tür sofort auf, und ich trat ein. Das Geräusch meiner Schritte hallte von den Wänden wider. Es war dunkel hier drin, und es roch nach Moder.
Idris blickte auf, auf seinen Wangen schimmerten Tränen.
»Was machst du denn hier oben?«, fragte ich ihn. »Warum bist du nicht unten bei den anderen?«
»Ich kann nicht. Es überfordert mich. Das ist alles meine Schuld. Was hab ich nur getan!«, stöhnte er und vergrub den Kopf in den Händen. Ich sah ihn schockiert an. Es war vollkommen surreal, ihn weinen zu sehen, diesen Mann, der uns allen wie ein Gott erschien, unzerstörbar. Es tat mir leid, ihn so zu sehen, doch ich unterdrückte meine Gefühle schnell. Er hatte sich das selbst zuzuschreiben.
»Hör auf«, befahl ich.
Er blickte auf. »Womit?«
»Mit dem Selbstmitleid!« Ich ging zu ihm, stützte mich auf die staubige Theke und sah ihn an. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Schwäche, verdammt noch mal. Sei jetzt der Mann, für den ich dich halte. Wir alle brauchen dich jetzt mehr denn je! Wir müssen allen zeigen, dass wir damit fertigwerden.«
»Und wozu?«, fragte er. »Es ist vorbei. Man wird uns auf keinen Fall erlauben, in der Höhle zu bleiben. Man wird sie für einsturzgefährdet erklären.«
»Dann gehen wir dagegen vor! Wir können doch bestimmt irgendwas unternehmen? Dieses Hotel wäre nicht hier auf den Klippen errichtet worden, wenn die Höhlen darunter einsturzgefährdet wären, oder?« Ich sah zur geschlossenen Tür hinter Idris hin. »Ist das das alte Büro? Vielleicht gibt es da ja Unterlagen, Dokumente zur Statik oder so.«
Ich ging auf die Tür zu, doch Idris griff nach meiner Hand. »Willst du mich nicht nach Oceane fragen?«
»Sollte ich das?« Meine Stimme zitterte leicht.
»Es ist passiert, bevor ich den Jungen gerettet habe. Später nicht mehr … nicht nachdem du gekommen bist.«
»Und was war das für ein Streit in der Höhle?«
»Caden und Oceane hatten eine ihre üblichen Streitereien. Ich bin reingegangen, um nach ihnen zu sehen, und Tom muss das Geschrei seiner Schwester gehört haben.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir glaube.«
»Aber es ist die Wahrheit.«
»Wirklich? Warum hast du mir das dann nicht schon gesagt, als ich dich mit den Gerüchten konfrontiert habe?«
»Du hast gefragt, ob da irgendetwas zwischen uns läuft. Und das war nicht der Fall, denn es war vorbei.«
»Hör endlich mit dem Scheiß auf!«, rief ich wütend, und meine Stimme hallte von den Wänden zurück. »Mir reicht’s! Ich will die Wahrheit wissen. Wenn wir überleben wollen, wenn die Kinder des Flusses überleben wollen, muss ich die Wahrheit wissen, und zwar die ganze Wahrheit! Zum Beispiel, warum du hier bist. Wie zum Teufel bist du hier ins Hotel hereingekommen?«
Idris seufzte. »Ich habe früher hier gelebt.«
»Hier im Hotel?«
Er nickte. »Es hat meinen Eltern gehört und die Höhle auch. Ich habe mich immer da unten versteckt.« Er zeigte unter den Empfangstresen. »Dort habe ich meinem Dad geholfen, Pints auszuschenken«, fügte er hinzu und wies auf die Bar. »Und draußen bin ich meiner Mum bei der Gartenarbeit zur Hand gegangen.«
»Warst du deshalb in der Höhle? Weil sie dir gehört?«
Er nickte.
Ich sah mich um und stellte mir ein Kind vor, das durch die Hotelhalle läuft und diesem Ort neues Leben einhauchte. Dabei dachte ich nicht an das Hotel, sondern an ein Heim für mich und Becky … und für mein Baby. Die Kinder des Flusses könnten weitermachen wie bisher, doch ich hätte ein sicheres Zuhause, um meine Kinder großzuziehen … und ich könnte mir das Jugendamt vom Leib halten, wenn wir vor der gerichtlichen Anhörung hier einziehen könnten.
Ich setzte mich auf den alten Bürostuhl hinter der Theke und rollte zu Idris hinüber. Ich saß jetzt direkt vor ihm, Knie an Knie, ergriff seine Hände und schaute ihm in die Augen. »Gehört dir wirklich dieses Hotel?« Mein Herz hämmerte in meiner Brust. »Oder gehört es deiner Familie?«
»Es gehört mir nicht mehr, nur noch die Höhle.«
Schwer enttäuscht ließ ich seine Hände los.
»Nach dem Tod meiner Mutter hatte mein Vater Probleme, das Hotel zu führen.«
»Du bist also der Sohn von Petersons?«, flüsterte ich. Er nickte. »Deine Mutter, sie …«, sagte ich leise.
Idris schloss die Augen. »Sie hat sich das Leben genommen.«
»Das tut mir leid. Es muss sehr schwer für dich gewesen sein. Es muss immer noch sehr schwer sein.«
Er nickte, sagte aber nichts.
»Und was ist mit dem Hotel passiert?«, fragte ich und sah mich um.
»Dad hat eine Frau kennengelernt. Sie ist hier eingezogen, um ihm zu helfen, und später haben sie geheiratet.« Seine Kiefer spannten sich an. »Sie war grauenhaft. Was ich alles tun musste, während sie auf der faulen Haut lag! Die Böden wischen, die Toiletten putzen, im Speisesaal servieren. Ich war ein Aschenputtel in Jungengestalt. Dabei war ich verdammt noch mal erst dreizehn.« Idris ballte die Fäuste, und ich war froh, wieder die alte Energie zu sehen, selbst wenn er wütend war. Es hatte mich sehr beunruhigt, ihn so niedergeschlagen zu erleben, ich brauchte ihn jetzt stark, mehr denn je. Für Becky, für unser gemeinsames Kind … für die Kinder des Flusses, um allen zu beweisen, dass sie sich irrten.
»Dad hat angefangen zu trinken«, fuhr er fort. »Es war für seine neue Frau ein Leichtes, ihn dazu zu überreden, ihr das Objekt zu überschreiben. Das Lustige ist: Sie hatte geplant, es zu verkaufen und mit dem Geld zu verschwinden.« Er lachte. »Aber es ist ihr nicht gelungen. Sie hat zu viel verlangt und sich geweigert, mit dem Preis runterzugehen. Deshalb steht das Haus seit fast zwanzig Jahren zum Verkauf.«
»Und die Höhle?«
»Die ist im Besitz der Familie geblieben. Meine Mutter hat dort gerne geschrieben, und Dad konnte sich nicht überwinden, die Höhle aufzugeben.«
»Und wo ist dein Dad jetzt?«, fragte sie leise.
»Er hat sich um den Verstand getrunken. Deshalb bin ich vor ein paar Monaten hier in die Gegend zurückgekommen, um nach ihm zu sehen. Ein Freund hat mich angerufen und mir erzählt, wie schlecht es ihm geht. Ich konnte nicht lange mit ihm in der gleichen Wohnung sein, mir aber auch kein Hotel leisten. Deshalb bin ich hier eingebrochen«, sagte er und sah sich um. »In mein altes Zuhause. Das ohne meine Stiefmutter immer noch mein Zuhause wäre. Dann habe ich Oceane kennengelernt. Sie ist an ein paar Abenden mit Freunden hergekommen, um zu trinken und Marihuana zu rauchen.«
»Und da habt ihr miteinander geschlafen?«
Idris seufzte. »Sie hat mich über ihr Alter belogen. Es war dumm und leichtsinnig von mir. Ich war high. Und ich habe getrauert.«
»Getrauert?«
»Mein Dad ist gestorben, kurz bevor ich den Jungen gerettet habe.«
Ich seufzte und drückte ihm die Hand. »Das tut mir leid.« Er hatte wirklich einiges durchgemacht. »Wo hast du denn die ganzen Jahre gelebt?«, fragte ich.
»Mit sechzehn bin ich abgehauen nach London. Du kennst doch sicher die Straßenkünstler, die Karikaturen zeichnen?« Ich nickte. »Bis vor ein paar Monaten war ich auch einer.«
Ich dachte an die vielen Gerüchte über ihn: Neuseeland, Australien, die USA, sogar Russland. Ein Rockstar. Ein Drogenhändler. Ein Millionär. Dabei hatte er in London seine Kunst auf der Straße verkauft.
»Konntest du gleich von Anfang an in London davon leben, deine Kunst zu verkaufen?«, fragte ich.
Er wich meinem Blick aus. »Ich hatte Geld … Geld, von dem meine Stiefmutter der Meinung war, es gehöre ihr.«
»Wie meinst du das?«
»Dad hatte ein gemeinsames Konto mit ihr. Einmal hat sie ein paar Tausend Pfund abgehoben, um ein Auto zu kaufen. Sie hat das Geld unbewacht liegen lassen und telefoniert. Ich habe es mir geschnappt und bin abgehauen. Ich habe sie noch hinter mir brüllen hören, als ich ins Taxi gesprungen bin.« Er schluckte und starrte in die Dunkelheit. »Seitdem lebe ich in ständiger Angst vor Verfolgung. Sie hat mal erzählt, dass sie aus einer bekannten Kriminellen-Familie stammt und dass ich nie wieder sicher sein würde, sollte ich sie jemals hintergehen. Daraufhin habe ich sie noch weniger gemocht. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie selbst kriminell war und meinen Vater nur des Geldes wegen geheiratet hat.«
Ich dachte an das Graffito an der Höhlenwand.
Dieb.
»Glaubst du, sie haben dich gefunden?«, fragte ich.
Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.« Er sah mich an. »Jetzt bin ich nicht mehr so anziehend, was? Ein Dieb, ein Straßenkünstler, der sich immer vor Verfolgung fürchtet.« Er schwieg einen Moment, dann runzelte er die Stirn. »Das Geld war nicht das Einzige, was ich gestohlen habe.«
Ich seufzte. »Was hast du denn noch gestohlen?«
»Das ganze Gerede über den Fluss, die Zahlen und das Schmausen – das habe ich alles von einem Wochenendseminar, auf dem ich vor ein paar Jahren war.«
»Ich dachte, du hättest mit einem Heiler zusammengelebt?«
»Das habe ich auch … zwei Tage lang, beim Seminar. Das war seine Lehre: der Fluss, keine Uhren.«
»Mein Gott«, flüsterte ich.
»Es ist alles aus, oder?«, sagte Idris. »Es ist vorbei. Die Kinder des Flusses … unsere Beziehung.« Er sank in sich zusammen. »Aus der Traum.«
Ich schaute ihm in die Augen. Dachte ich jetzt anders über ihn? Ja, natürlich. Aber meine alten Gefühle waren noch da, irgendwo verborgen unter der Enttäuschung. Und was war mit den Kindern des Flusses? Ich dachte an Gregs spöttischen Blick. Er hatte genau das Gleiche gesagt wie Idris. Aus der Traum, Selma. Und auch an Julies Worte musste ich denken: Du hast deine Familie völlig umsonst auseinandergerissen.
Nein, ganz und gar nicht. Ich würde nicht zulassen, dass alles umsonst gewesen war. Idris brauchte nur einen Ansporn, um wieder der Alte zu werden. Und ich wusste auch schon, welchen.
Ich griff nach seiner Hand und legte sie auf meinen Bauch. »Es ist nicht vorbei, Idris. Es fängt gerade erst an.«
Er runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Ich bin schwanger.«
Vor Überraschung blieb ihm der Mund offen stehen. »Du bist …?«
Ich lächelte. »Ja.«
Er sank auf die Knie und küsste meinen Bauch.
»Verstehst du jetzt, warum du stark sein musst?«, sagte ich, strich ihm übers Haar und sah auf ihn hinunter.
Er blickte auf. »Ich fürchte, ich bin zu schwach. Alle werden mich durchschauen.«
»Nicht, wenn ich bei dir bin. Denk an unser Kind – wir dürfen nicht aufgeben. Wenn wir zusammen an unserem Traum festhalten und allen beweisen, wie sicher und wie großartig es ist, so zu leben, wie wir es tun – dann ist so gut wie alles möglich.«
Seine grünen Augen glänzten vor neuer Hoffnung. »Glaubst du wirklich?«
»Ja, das glaube ich wirklich. Aber verrat niemandem das, was du mir eben erzählt hast, okay?«, sagte ich ernst. »Es wird nur funktionieren, wenn sie weiterhin zu dir aufblicken … zu uns.«
Er blickte mich an, als wäre ich eine Göttin. »Aber was ist mit meiner Stiefmutter? Wenn nun sie oder ihre Familie für die Verwüstungen in unserer Höhle verantwortlich sind?«
»Mehr ist aber nicht passiert«, sagte ich.
Er nickte, doch er sah nicht ganz überzeugt aus.
Als wir zurück in die Höhle kamen, saßen Julien und Maggie am Tisch. Sie verstummten, als wir Hand in Hand hereinkamen. Julien wollte etwas sagen, doch Idris hob beruhigend die Hand.
»Alles wird gut«, sagte er. »Solange wir zusammenbleiben und stark sind, wird alles gut. Und jetzt sollten wir versuchen in den Fluss zu kommen.«
Maggie und Julien sahen sich zögernd an.
»Es liegt jetzt nicht mehr in unserer Hand«, sagte ich. »Wir können aber das tun, worin wir gut sind – unsere Gedanken auf die Heilung der Verletzten konzentrieren.«
Es fühlte sich seltsam an, das zu sagen, doch alle glaubten daran. Und wenn es für das Überleben der Gruppe wichtig war, dass auch ich das predigte, dann sollte es eben so sein.
Idris setzte sich an den Kopf des Tisches und schaute zu mir hoch. Im brutalen Licht der batteriebetriebenen Lampe, die wir in der Küche aufgehängt hatten, sah ich die dunklen Ringe unter seinen Augen und die Blässe seiner normalerweise so gebräunten Haut.
Ich sah, dass er trotz seiner neuen Entschlossenheit in sich zusammensank. Jetzt musste ich das Kommando übernehmen.
»Fangen wir an«, sagte ich, zog einen Stuhl vor und setzte mich neben ihn an den Kopf des Tisches.
Am nächsten Morgen wachte ich spät zum Geräusch des fallenden Regens auf. Die Höhle war dunkler, als ich sie tagsüber je erlebt hatte, und es roch anders: Feucht. Nach Moos. Der lärmende Regen dröhnte wie Donner um die Höhle.
Ich stand auf und tappte vorbei an Julien, der seinen Stuhl strich, und an Maggie mit ihrer Vase.
Oceane war noch immer mit ihrer Mutter und ihrem Bruder im Krankenhaus und auch Caden wurde wegen seines Armes dort behandelt.
Es würde viel Arbeit sein, alles wieder aufzubauen, doch ich war mit neuer Energie erwacht. Ich war bereit für die Herausforderung – und das musste ich auch sein. Ein Kind wuchs in mir heran und eine gerichtliche Anhörung über das Schicksal meines anderen Kindes schwebte über meinem Haupt. Das verstärkte meine Entschlossenheit. Ich musste für meine Kinder eine gewisse Sicherheit schaffen. Natürlich könnte ich in ein normales Leben zurückkehren und mir eine kleine Wohnung in der Stadt mieten. Aber mir würde schnell das Geld ausgehen und ich bezweifelte, dass meine alte Chefin mich wieder einstellen würde, nachdem ich mit einem solchen Paukenschlag gekündigt hatte. Und was dann? Ich wollte nicht wie meine Mutter enden, die jeden Penny zusammengekratzt und sich darauf verlassen hatte, dass ihre diversen Männer für sie sorgen würden.
Durch das Leben in der Höhle war ich nicht so sehr auf Geld angewiesen. Es gab mir die Freiheit zu schreiben. Und damit das so blieb, mussten die Leute glauben, dass wir stark waren, dass auch Kinder hier glücklich sein konnten.
Aber was war mit Idris? Würde er dieser Herausforderung gewachsen sein? Es hatte mich beunruhigt, ihn gestern Abend so schwach zu sehen, so überfordert. Er musste sich zusammennehmen, und zwar bald, wenn wir allen beweisen wollten, dass die Kinder des Flusses jeden Sturm überstehen konnten.
Ich machte mich fertig und sah Idris am Eingang der Höhle Kaffee kochen. Seine Haut wirkte im düsteren Licht ganz anders und viel echter. Auch sein blondes Haar schien dunkler. Ich stellte ihn mir im Winter vor, in einen Pelz gehüllt, wie er aufs aufgewühlte Meer hinausblickte, das so voller Unruhe war wie die Hauptfigur in meinem Roman.
Er sah mich näher kommen, trat zu mir und gab mir einen sehnsüchtigen Kuss. Dann zog er einen Stuhl für mich heran. »Leg die Füße hoch«, sagte er. »Du musst dich ausruhen.«
Ich setzte mich und lächelte ihn an. Er schien wieder der Alte zu sein. Vielleicht hatte die Tatsache, dass er Vater wurde, ihm neue Kraft gegeben?
»Tee?«, fragte er. »Das ist besser für dich als Kaffee, nicht?«
»Ja, bitte.«
»Du hast den Sonnenaufgang verpasst«, sagte er. »Er war wunderschön.«
»Im Moment ist das Wetter aber alles andere als schön«, sagte ich mit einem Blick auf den Himmel.
»Ja, die Wolken haben sich zusammengezogen, als ich wieder heruntergekommen bin.«
»Heruntergekommen? Wo warst du denn?«
»Oben im Hotel.« Er lächelte. »Ich habe einen Brief von der Stadt gefunden, in dem steht, dass die Höhle als sicher angesehen wird. Sie können uns nicht einfach aus Gesundheits- oder Sicherheitsgründen hier rauswerfen.«
Ich lächelte zurück. »Brillant!«
»Und ich habe etwas in der Stadt besorgt«, sagte er und zog einen kleinen grauen Teddy hervor. »Für das Baby.«
Ich drückte den Teddy an meine Wange. »Er ist wunderhübsch.«
»Ich habe auch Farben besorgt, deshalb war ich so früh auf und habe mir den Sonnenaufgang angeschaut. Ich wollte genau diese Farbe und habe das perfekte Pigment dafür gefunden.«
Ich lächelte vor mich hin. Er war eindeutig wieder der Alte.
»Was willst du malen?«
»Unser Kind.«
Mein Lächeln vertiefte sich.
»Es wird ein Mädchen«, fuhr er fort, er klang absolut sicher. »Und ihr Haar wird die Farbe der aufgehenden Sonne an einem Septembermorgen haben.«
Er hockte sich hin, legte mir die Hand auf den Bauch, und ich legte meine Hand auf seine. Sein Kind wuchs in mir heran, das Kind dieses Mannes, dieser überirdischen Gestalt.
»Ihr beiden seht ja heute Morgen richtig vergnügt aus.« Wir blickten auf und sahen Donna im Eingang stehen. Sie sah erschöpft aus, ihr kurzes, dunkles Haar war zerzaust, ihr Gesicht regelrecht zerknittert.
Idris sprang auf. »Donna! Wie geht es Tom?«
»Ich bin überrascht, dass dich das interessiert«, sagte Donna mit zitternder Stimme, »so fröhlich und unbeschwert wie ihr beide seid. Fast als wäre mein Sohn nicht beinahe von der Höhlendecke erschlagen worden, obwohl ich dich angefleht habe, allen zu sagen, dass sie die Höhle meiden sollen.«
»Donna, beruhige dich«, sagte Idris und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Du fühlst dich so nur noch schlechter.«
Sie zog ihren Arm weg. »Sag mir nicht, dass ich mich beruhigen soll, Idris! Mein Sohn liegt dank eurer egoistischen Naivität und Ignoranz mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus.«
Ich stand auf. »Es tut uns sehr leid, Donna. Idris konnte doch nicht wissen, dass der ganze Höhleneingang zusammenbrechen würde, nur weil ein paar Steine von der Decke gefallen sind.«
»Ich weiß, dass Tom wieder gesund wird«, sagte Idris. »Ich kann es spüren.«
Ich nickte. »Wir waren letzte Nacht alle im Fluss, du hättest dabei sein sollen. Stunde um Stunde haben wir an diesem Tisch gesessen«, sagte ich. Ich wollte auf keinen Fall, dass Donna der Gruppe den Rücken kehrte, vor allem da sie Hebamme war. Das Jugendamt durfte nicht wissen, dass ich schwanger war. Eine Hebamme hierzuhaben, war von unschätzbarem Wert. Und je mehr wir waren, desto stärker waren wir. Es erschien mir so leer in der Höhle, jetzt, wo nur noch Idris, ich, Julien und Maggie da waren.
Donna schüttelte ungläubig den Kopf. »Mein Gott, Selma, hör dir doch mal zu! Du klingst ja wie Idris. Wer ist denn jetzt hier der Sektenführer, verdammt? Ihr müsst beide aufhören, euch was vorzumachen. Der Traum ist ausgeträumt und es ist an der Zeit, dass ihr allen den Gefallen tut und das akzeptiert.« Sie musterte mich von oben bis unten und schüttelte den Kopf. »Vor allem du, Selma. Bald ist der Gerichtstermin. Nimm dir eine Wohnung, verdammt noch mal, damit du wenigstens eine kleine Chance hast, das Sorgerecht für deine Tochter zu bekommen.«
Ich runzelte die Stirn.
»Donna«, sagte Idris und wollte ihr die Hand auf die Schulter legen. Doch sie schüttelte sie ab, marschierte zu ihrem Bett und ignorierte jeden, der versuchte, mit ihr zu reden. Sie sammelte ihre Sachen zusammen und stürmte hinaus.
Idris beobachtete sie und blinzelte schockiert. Donna hatte ihn immer so konsequent unterstützt.
»Warum war sie denn so wütend?«, fragte Julien und kam herüber.
»Das macht der Kummer«, sagte ich schnell. »Sie muss jemanden für das, was passiert ist, verantwortlich machen. In ein paar Tagen, wenn es Tom besser geht, wird sie das erkennen, nicht wahr, Idris?«
Idris nickte langsam, er war noch immer schockiert.
»Werden Tom und Caden wieder gesund?«, fragte Maggie. »Idris, du warst doch dabei. Waren sie schlimm verletzt?«
Idris öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
»Natürlich werden sie wieder gesund«, sagte ich. »Wir müssen nur weiter in den Fluss kommen und unsere Gedanken auf sie konzentrieren.«
Maggie und Julien sahen sich zweifelnd an und ich spürte so etwas wie Panik. Wir verloren sie.
»Wir haben übrigens Neuigkeiten«, sagte ich. »Neuigkeiten, die beweisen, wie viel es bewirken kann, im Fluss zu sein.«
Maggies Augen leuchteten auf. »Bist du etwa schwanger?«
Ich lächelte und Maggie nahm mich in den Arm, während Julien zögernd lächelte.
»Ich habe euch nicht erzählt, dass ich nach Becky keine Kinder mehr bekommen konnte«, log ich. »Ein Arzt hat mir sogar bestätigt, dass ich nicht mehr schwanger werden könnte.«
Idris sah mich überrascht an.
»Und dieses Wunder ist ein Zeichen«, sagte ich und legte die Hand auf meinen Bauch. »Ich habe mich nicht nur auf mein Schreiben konzentriert, wenn ich im Fluss war, versteht ihr? Ich habe mich auch darauf konzentriert, meinen Körper zu heilen. Und es hat funktioniert! Eine andere Erklärung gibt es nicht.«
Maggies Lächeln wurde breiter, während Julien Idris auf die Schulter klopfte.
Idris runzelte immer noch die Stirn. Er durchschaute meine Lüge. Doch es war wichtig für mich, dass Maggie und Julien den Glauben nicht verloren. Es war wichtig für mich, dass es ein neues »Wunder« gab, so wie Idris angeblich auf dem Wasser gegangen war. War es denn wirklich von Bedeutung, ob es eine Lüge war? Auch dass Idris auf dem Wasser gegangen war, war schließlich eine Illusion gewesen.
»Ich weiß, dass die letzten vierundzwanzig Stunden aufwühlend waren«, sagte ich leise. »Aber das hier ist der Beweis: Das, was wir machen, funktioniert. Ich schlage vor, dass wir jeden Abend zwei Stunden dafür ansetzen, gemeinsam in den Fluss zu kommen, um Tom und Caden zu heilen. Was meinst du, Idris?«
Er sah mich weiterhin nur an.
»Idris?«, wiederholte ich.
Er besann sich und nickte. »Ja, das ist eine gute Idee.«
»Es lohnt sich auch, während des Tages öfter spazieren zu gehen, wenn ihr könnt«, fügte ich hinzu. »Redet mit den Leuten, verbreitet die Botschaft. Der Einsturz der Höhle dürfte bei einigen Menschen für Beunruhigung gesorgt haben, sodass viel weniger Leute herkommen. Ich denke, wenn wir ihnen zeigen, wie freundlich wir sind, wird das eine große Hilfe sein. Je mehr Leute wir überzeugen können, in den Fluss zu kommen und sich auf Heilung zu konzentrieren, desto wirksamer wird es sein.« Ich strich mir mit der Hand über den Bauch. »Wie bei mir«, fügte ich hinzu. Ich drückte Maggie die Hand und lächelte Julien an. »Alles wird gut. Das Leben konfrontiert uns mit Herausforderungen, aber wir können an ihnen wachsen.«
Maggie und Julien nickten und lächelten sich an. Sie taten mir fast leid. Doch besser sie waren verblendet, als dass sie die traurige Wahrheit kannten. Idris war ein Hochstapler und ich … ich war eine Frau, die sich verzweifelt bemühte, stark zu erscheinen, um ihre Kinder nicht zu verlieren. Das war alles, was jetzt zählte. Becky und das Kind, das in mir wuchs.
In den nächsten Wochen nahmen wir trotz der Geschehnisse in der kleinen Höhle und obwohl wir jetzt nur noch fünf von der ursprünglichen Gruppe waren, unseren alten Rhythmus wieder auf. Überraschenderweise war Caden zurückgekehrt, er kam einfach mit dem Arm in der Schlinge in die Höhle spaziert. Wir hatten ihn begeistert empfangen, doch ich konnte nicht umhin, die Dynamik zwischen ihm und Idris zu beobachten. Wusste Caden, was oben im Hotel zwischen Idris und Oceane passiert war?
Aber ich war glücklich und optimistisch gestimmt, was das Baby und das Sorgerecht für Becky anging. Ich hatte endlich den Termin für die Gerichtsverhandlung bekommen, der sich durch die große Arbeitslast der Sozialarbeiter bis Ende November verzögerte. Es fühlte sich an, als wollte das Schicksal mir noch etwas Zeit geben.
Becky schmollte an unseren gemeinsamen Tagen weiterhin, doch es spielte sich eine gewisse Routine ein. Wir machten lange Spaziergänge am Strand und aßen im Café an der Strandpromenade zu Mittag. Dank der kühleren Temperaturen konnte ich meinen wachsenden Bauch unter Pullovern und Jacken vor ihr verbergen. Und, was noch wichtiger war, vor Mike, wenn er Becky zu unseren Treffen brachte.
Mit dem Roman ging es gut voran. Ich war bei den letzten Kapiteln angelangt und motivierter denn je, denn ich musste Geld verdienen, um allen zu beweisen, dass ich finanziell für meine Kinder sorgen konnte. Ich war fest entschlossen, den Roman zu beenden, bevor das Baby zur Welt kam. Maggie hatte mir angeboten, von den Fähigkeiten Gebrauch zu machen, die sie vor ihrem Leben in der Höhle erworben hatte, und ihn abzutippen. Anschließend konnte ich ihn bearbeiten, und sie würde ihn ein zweites Mal abtippen, bevor er im Frühjahr an meine Agentin ging.
Das musste man sich einmal vorstellen: ein Baby und ein neues Buch!
Ich dachte jedoch noch immer nicht darüber nach, wie das Baby zur Welt kommen sollte. Ich war nicht mal bei einem Arzt gewesen, weil ich zu große Angst hatte, dass er mich dem Jugendamt meldete. Jeder im Ort wusste von der »Sekte«, wie uns die Außenstehenden nannten. Donna musste einfach zurückkommen; sie hatte schließlich als Hebamme gearbeitet. Ich sagte mir, dass ich nach dem Gerichtstermin darüber nachdenken würde.
Doch die Wochen vergingen, und die Bedingungen in der Höhle wurden mit dem kühlen Herbstwetter immer schlechter. Das Regenwasser lief in den Eingang und die Höhlenwände vereisten, wenn es kalt war. Wir hatten zwar Heizkörper installiert, die von Generatoren, die Julien beschafft hatte, mit Strom versorgt wurden, aber es war trotzdem eisig. Ich wurde immer paranoider angesichts der Leute, die nachts um die Höhle herumschlichen. Sie wateten sogar durch die Flut, um hierherzukommen. Manchmal wachte ich auf und war mir sicher, dass mich Augen anblinzelten. Ich dachte an Idris’ wütende Stiefmutter und ihre Familie. Wenn sie nun wirklich versuchten, uns Schaden zuzufügen?
Einmal hatte ich versuchsweise das Thema angeschnitten, die Höhle mit einem Tor zu verschließen, doch der Gedanke schien alle zu entsetzen.
»Wir wollen doch hier den Elementen ausgesetzt sein«, sagte Maggie. »Mir gefällt es, wie es ist.«
»Ich stimme Maggie zu«, meinte Idris. »Tore würden den Zweck dieses Ortes zunichtemachen.«
Ich wollte erst widersprechen, merkte aber, dass die anderen nicht zu überzeugen wären.
Als ich am nächsten Morgen das letzte Kapitel meines Romans in Angriff nehmen wollte, stellte ich fest, dass Seiten aus meinem Notizblock herausgerissen und über den Boden verteilt waren. Ich hob sie auf und rannte zu Idris, um ihm davon zu berichten.
»So habe ich gerade meinen Notizblock gefunden«, sagte ich und hielt anklagend die Blätter hoch. »Jemand muss die Seiten herausgerissen haben, während wir schliefen.«
Idris schaute mich überrascht an. »Mir ist das Gleiche passiert.«