22
Selma

Kent, Großbritannien
11. August 1991

Im Trubel der vergangenen Tage hatte ich fast vergessen, dass ich am Montag wieder zur Arbeit musste. Am Vorabend traf es mich wie ein Hammerschlag, aber ich sah keine Möglichkeit, darum herumzukommen. Wenn ich kündigte, würde das meine Chancen auf ein gemeinsames Sorgerecht für Becky mindern – das hatte meine Anwältin gesagt.

»Dann gehst du morgen also wieder arbeiten?« fragte Donna beim Essen.

Ich seufzte. »Ja.«

»Wir werden dich vermissen«, sagte Idris leise. »Du weißt, dass du nicht gehen musst

»Wir hatten diese Diskussion schon mal, erinnerst du dich?«, sagte ich mit einem schiefen Lächeln. »Ihr mögt Zahlen zwar alle hassen, und ich hasse sie verdammt noch mal auch. Tatsache ist aber, dass ich zu einer Hypothek beizutragen habe. Außerdem käme es beim Jugendamt nicht gut an, wenn ich nicht arbeiten würde.«

»Sie wollen nur einen Einkommensnachweis«, sagte Julien. »Was ist mit den Tantiemen an deinen Büchern?«

»Die werden nur zweimal im Jahr ausbezahlt«, antwortete ich und rührte in der Suppe, die Donna für uns gekocht hatte. »Das ist dem Jugendamt zu unregelmäßig. Außerdem ist da immer noch die Hypothek.«

»Aber die Tantiemen müssen doch ziemlich hoch sein?«, sagte Donna. »Du bist schließlich eine Bestseller-Autorin.«

»Ich bin keine Bestseller-Autorin«, sagte ich und wurde rot.

Donna runzelte die Stirn. »Aber das haben mir die anderen Mütter in der Schule erzählt.«

Vielleicht hatte ich ja einigen Müttern am Schultor erzählt, dass mein Buch es in die Bestsellerliste geschafft hatte. »Das war nur ein paar Tage lang«, sagte ich schnell.

»Warum sprichst du von Zahlen, Donna?«, sagte Idris. »Du weißt, dass wir das nicht machen.«

Donna sah verletzt aus. »Entschuldige.«

Ich lächelte ihn an, erfreut über die Unterstützung. Ich holte tief Luft und sah Richtung Stadt, wo mein Büro lag. In nur dreizehn Stunden würde ich zurück an meinem Schreibtisch sein, Texte verfassen, die ich hasste, während die Leute um mich herum sinnloses Geschwätz von sich gaben.

Ich ballte unter dem Tisch die Hand zur Faust und bohrte sie in mein Bein.

»Wusstet ihr, dass viele Leute zwei Drittel ihres Lebens mit der Arbeit in einem Büro verbringen?«, sagte Idris leise. »Viele von ihnen hassen ihre Jobs und trotzdem nennen sie das Leben.« Er sah alle um den Tisch herum an. Wir hatten aufgehört zu essen und hörten ihm aufmerksam zu. »Wenn ihr im Wörterbuch nachseht, wird Leben definiert als Organismen, die nicht tot und anorganisch sind

Na toll. Ich brauchte keine Predigt, wie unsinnig das Neun-bis-fünf-Hamsterrad war, wenn ich ohnehin keine andere Wahl hatte. Ich liebte es, in der Höhle zu sein, es bewirkte Wunder für mein Schreiben, doch manchmal verblüffte mich die Naivität der Gruppe.

Idris stand auf und ging nach draußen, bückte sich und hob etwas zwischen den Meeresalgen und Muscheln auf, das die Flut zurückgelassen hatte. Als er zurückkam, hatte er einen dunklen Seestern in der Hand, dessen Beine in einem seltsamen Winkel verbogen waren.

»Er ist tot. Doch als er noch gelebt hat, hat er sich bewegt und verändert, wie der Fluss.«

Er stand hinter mir und legte den toten Sestern neben meinen Teller.

Ich zog eine Braue hoch. »Wow. Vielen Dank, Idris.«

Er lächelte nicht, wie er das gewöhnlich tat, wenn ich so etwas sagte. »Bewegt dich dein Job, Selma? Wie dich der Fluss bewegt? Oder bist du tot, wenn du dort bist, wie dieser Seestern?«

Ich betrachtete den armen Seestern und meine Kiefer spannten sich an. Dann blickte ich auf und sah, dass alle mich anschauten, als täte ich ihnen leid. Es machte mich wütend, wie naiv sie waren!

Aber es machte mich auch wütend, dass ich am nächsten Tag ins normale Leben zurückkehren musste.

Ich warf den Seestern auf den Boden und stand auf. »Wie oft muss ich das noch sagen? Ich habe keine Wahl.« Ich holte tief Luft und fühlte mich plötzlich total erschöpft. »Ich gehe jetzt schlafen.«

Dann ging ich zu meinem Bett und spürte, wie Idris’ Blicke mir folgten.

In dieser Nacht tat ich kaum ein Auge zu, wachte früh auf und machte mich leise für die Arbeit fertig. Als ich in die Morgensonne trat, zerrte ich am Kragen meiner Bluse. Ich hatte das Gefühl, die Uniform von jemand anderem zu tragen, in der falschen Größe, steif und ungewohnt. Es war, als wäre ich zurück vor Gericht. Ich hatte mich so an meine langen, fließenden Röcke, meine weichen Oberteile und Flipflops gewöhnt.

»Hast du dein Mittagessen eingepackt?«, rief Caden mir zu.

»Haha«, sagte ich.

»Ich wünsch dir einen guten Tag!«, rief Oceane und winkte.

»Ja, klar«, murrte ich zurück. Ich holte tief Luft und marschierte Richtung Stadt. Als ich wenige Minuten später das Büro betrat, begrüßte mich der Rezeptionist mit großen Augen.

»Wow, bist du braun!«, sagte er.

»Ja, das macht der Sommer mit den Menschen.«

Ich ging weiter zum Hauptbüro und blieb an den Glastüren stehen. Ich konnte sie alle dort drinnen sehen, Maschinen, wie Idris sie nennen würde, die Gesichter vom Kunstlicht ihrer Bildschirme beleuchtet, dunkle Ringe unter den Augen, während ihre Finger zu einer stumpfsinnigen Melodie tippten. Sie sahen alle so grau aus, so tot wie der Seestern.

Aber das war nun mal das Leben. Das wirkliche Leben – nicht die abgehobene Blase, in der die Höhlenbewohner lebten. Ich rief mir Beckys Gesicht in Erinnerung und atmete tief durch, während ich eintrat.

Monica entdeckte mich und sah zu einer Kollegin hinüber, während sie wie wild auf mich zeigte. Ein paar Kollegen schauten zu ihr hin, während ich hoch erhobenen Hauptes quer durchs Büro ging.

Mein Gott, ihr Leben musste wirklich langweilig sein, wenn sie gebräunte Haut so aufregend fand.

»Selma!«, rief Monica, als ich an ihr vorbeikam, worauf weitere Leute die Köpfe hoben. »Willkommen zurück!«

»Danke!«, sagte ich, ohne sie anzusehen und schwenkte die Hand in der Luft.

Geh einfach weiter, sagte ich mir. Es sind nur acht Stunden, dann ist es für heute vorbei, und du kannst zurück in die Höhle, Gin trinken und diesen gottverdammten Ort vergessen.

Ich ging an meinen Schreibtisch, setzte mich und stützte den Kopf in die Hände, als würde ich warten, dass mein Computer hochfuhr. Ich blickte auf, schaute zur Sommersonne nach draußen und stellte mir vor, wie sie meine Haut wärmte, während Idris in der Nähe malte. Ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren statt auf die Realität dieses Büros. Ich stellte mir den Geruch von Salz, Ölfarben und Orangen vor statt des synthetischen Bürogestanks aus Kaffee, Druckertinte und Raumspray. Ein Frühstück mit Fisch, den Idris gefangen hatte, statt des trockenen Croissants, das ich mir auf dem Weg hierher gekauft hatte. Und dann die Abenddämmerung, Gitarrenmusik und die Flammen des Feuers, Idris’ grüne Augen auf mich gerichtet.

Nicht mehr lange …

»Ah, sie ist zurück.« Ich blickte auf und sah, wie Matthew seine Tasche auf den Schreibtisch warf. Er setzte sich, und sein Stuhl gab unter ihm nach. »Monica hat mich in der Küche abgefangen, als der Artikel erschienen ist«, sagte er leise. »Ehrlich, diese Frau scheint noch nie was von Abstand halten gehört zu haben.«

»Du glücklicher Mann«, antwortete ich mit gerunzelter Stirn. »Dann sind ja all deine Träume wahr geworden.«

Er sah mich angewidert an. »Bitte, bring mich nicht dazu, mir das auch nur vorzustellen. Oh Gott, da kommt sie ja schon wieder.« Schnell setzte er seine Kopfhörer auf und tat so, als würde er tippen.

»Sag mal«, sagte Monica und setzte sich auf meinen Tisch, während ich gegen den Drang ankämpfte, sie herunterzustoßen, »stimmt es, dass du mit diesen Leuten in der Höhle lebst?«

»Ja«, sagte ich und loggte mich in meinen Computer ein.

»Und was sagt Mike dazu?«

»Ich brauche seine Erlaubnis nicht.«

»Und ist Becky bei dir?«

»Sie besucht mich.«

Monica runzelte die Stirn. »Verstehe. Und wie ist er so … dieser Idris? Hat er die Flasche Wein erwähnt, die ich ihm dagelassen habe?«

Weitere Kollegen kamen zu uns herüber, sie gierten nach Informationen über die Höhlenbewohner.

»Er ist in Ordnung«, sagte ich. »Hör zu, ich hab viel zu tun. Vielleicht sehen wir uns ja später in der Küche?« Ich hatte natürlich nicht die geringste Absicht, mich an ihrem Tratsch zu beteiligen.

Monica runzelte die Stirn. »Okay. Aber kannst du bitte allen sagen, dass er kein Pädophiler ist? Er hat meinem Sohn das Leben gerettet. Ich sage allen Menschen, die ich treffe, immer wieder, dass sie die Gerüchte bloß nicht glauben sollen. Aber du lebst mit ihm, du kannst es ihnen auch sagen, und dir werden sie vielleicht glauben.«

»Himmelherrgott noch mal!«, zischte ich.

»Ja, zum Beispiel das Gerücht, dass er dieses blonde Mädchen vögelt, das nie einen BH trägt«, rief der Mann von der Buchhaltung zu uns hinüber.

Ich sah ihn angewidert an. »Nein, das tut er verdammt noch mal nicht. Er würde sich Oceane nie nähern.«

»Oceane?«, sagte Matthew und nahm seine Kopfhörer ab. »Meinst du Oceane Norman?«

»Ja, warum fragst du?«

»Mein kleiner Bruder ist letztes Jahr mit ihr zur Schule gegangen. Anscheinend hat sie ihren Freundinnen erzählt, dass zwischen Idris und ihr etwas läuft.«

Ich sah ihn ungläubig an. »Was?«

Er hielt die Hände hoch. »Ich kann nichts dafür, ich erzähl es dir bloß.«

»Aber sie hat einen Freund«, sagte ich.

»Seit wann hält euch Hippies das davon ab?«, flötete der Mann von der Buchhaltung.

»Ich weiß nur, dass sie siebzehn ist«, sagte Matthew mit gerunzelter Stirn. »Noch ein Kind quasi. Wenn das stimmt …« Seine Stimme verlor sich.

Ich stand auf und griff nach meiner Tasche. »Ich halte das hier nicht aus. Sag Daphne, dass ich einen Magen- Darm-Infekt habe.«

»Schon wieder?«, fragte Monica und sah mich spöttisch an. »Du hast aber dieses Jahr furchtbar viele Magen-Darm- Infekte.«

»Gut, dann sag ihr, dass ich kündige. Die Entschuldigung habe ich noch nicht gebraucht, richtig?« Ich stieß meinen Stuhl weg und ging.

Das waren doch bloß Gerüchte über Idris und Oceane. Bestimmt waren es nur Gerüchte, oder? Doch als ich mich der Höhle näherte, tobte der Ärger in mir.

Was, wenn es kein Gerücht war?

Zu allem Überfluss waren Idris und Oceane die Ersten, die ich sah, als ich zur Höhle kam. Sie standen im seichten Wasser und hielten nach Fischen Ausschau.

Hatte die Naivität der Leute, die in der Höhle lebten, auf mich abgefärbt? Sah ich Idris durch eine rosarote Brille, sah ich nur den Mann in ihm, den ich sehen wollte? Was, wenn er mich die ganze Zeit zum Narren gehalten hatte, mich glauben gemacht hatte, dass er etwas für mich empfand? Wenn er auch Oceane zum Narren gehalten hatte, eine naive Siebzehnjährige?

Oceane kicherte, als Idris sie herumwirbelte. Hatte er mit ihr geschlafen? Mit diesem albernen, biegsamen Teenager? Das würde einen Sinn ergeben, ein halbes Kind wie Oceane, das seinem Charme erlag. Aber ich? Fast vierzig, Autorin und Mutter. Was war ich doch für eine Närrin gewesen! Zu denken, dass er sich von mir angezogen fühlte. Ich dachte an die Orangenhaut an meinen Oberschenkeln, die Dehnungsstreifen auf meinem Bauch und daran, wie meine Brüste leicht herunterhingen, wenn sie vom BH befreit waren.

Aber warum sah er mich dann immer so an?

Dann dachte ich an meine Mutter. Es hatte eine kurze Zeit gegeben, als ich ungefähr zehn war, da war sie ungewöhnlich nett zu mir gewesen. Sie hatte mich oft umarmt und mir schöne Kleider gekauft, und ich hatte zu hoffen gewagt, dass sie sich geändert hätte. Doch es dauerte nicht lange, bis mir klar wurde, warum sie sich so verhielt – ein potenzieller neuer Freund war aufgetaucht, ein reicher Mann mit drei Kindern, um die er sich nach dem Tod seiner Frau kümmern musste. Meine Mutter hatte nur sein Geld im Kopf, schöne Kleider und Partys. Der Mann hatte in ihr eindeutig eine neue Mutter für seine ungebärdigen Kindern gesehen, was der Ironie nicht entbehrte, wenn man bedachte, dass sie kaum für ihre eigene Tochter sorgen konnte – geschweige denn für drei weitere Kinder. Aber meine Mutter war gerissen genug, um zu wissen, dass sie den Mann mit einer Lüge beeindrucken und ihm zeigen konnte, was für eine wunderbare Mutter sie war. Es hielt nicht lange. Meine Mutter begriff sehr bald, wie schwierig es mit den drei Kindern werden würde. Sobald ihre ehrgeizigen Pläne, diesen Mann einzufangen, verflogen waren, verflog auch ihre vorgetäuschte Zuneigung für mich. Ich weinte und wollte, dass die »nette Mummy« zurückkam.

»Du bist ja so naiv, Selma«, hatte meine Mutter gesagt. »Das war alles nur gespielt, verstehst du? Du weißt doch, dass ich Umarmungen und Getue hasse.«

War Idris genauso, spielte er mir nur etwas vor? Tränen stachen in meinen Augen bei dem Gedanken, dann schüttelte ich den Kopf und ballte die Fäuste. Wie lächerlich, so zu reagieren! Zwischen Idris und mir war schließlich nichts passiert.

Beim Abendessen sagte ich kaum etwas und zuckte nur mit den Schultern, wenn jemand mich nach der Arbeit fragte. Ich vermied jeglichen Blickkontakt mit Idris, spürte aber, dass er mich ansah. Später ging ich im Dunkeln den Strand entlang, weil ich nicht in der Nähe der anderen sein wollte, besonders nicht in der von Idris und Oceane. Nach einer Weile hörte ich Schritte hinter mir. Ich drehte mich um und sah, dass es Idris war.

»Hast du etwas dagegen, wenn ich dir Gesellschaft leiste?«, fragte er.

Ein weiteres Schulterzucken.

»Du bist völlig durcheinander«, sagte er und sah mich von der Seite an. »Hat in der Arbeit jemand etwas gesagt, das dich verärgert hat?« Er wirkte bekümmert, seine grünen Augen betrachteten ernst mein Gesicht. Er legte mir die Hände auf die Schultern.

Ich holte tief Luft. »Oceane erzählt ihren Freundinnen, dass da etwas läuft zwischen euch.«

Idris Hände rutschten von meinen Schultern. Er sah mich mit einem Blick an, der mich zögern ließ.

»Sie ist siebzehn, Idris!«

»Das ist nur eine Zahl.«

Ich schloss die Augen und kniff mich in die Nase. »Da läuft also was zwischen euch?«

»Nein. Du darfst nicht auf die Leute hören. In deinem Herzen kennst du die Wahrheit.« Er legte die Hände wieder auf meine Schultern. »Du weißt, wenn ein Baum …«

»Ich will jetzt keins deiner verdammten Sprichwörter hören«, sagte ich und schob seine Hände weg. »Ich will nur nicht angelogen werden. Ich dachte, du seist mehr als der sexgeile Sektenführer, zu dem die Leute dich gemacht haben, aber vielleicht haben sie ja recht?«

Sein Gesicht wurde hart. »Ich habe dich nicht angelogen, Selma. Zwischen Oceane und mir läuft nichts. Und davon abgesehen bist du wohl kaum die Richtige, dich über Lügen zu beschweren, nicht?«

Ich starrte ihn an und wurde rot. Dann ging ich den Strand weiter hinunter. »Komm mir nicht nach!«, rief ich ihm über die Schulter hinweg zu.

Schließlich landete ich in der Höhle, die Idris mir am Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet waren, gezeigt hatte. Ich sah zu den Umrissen der Steinvögel und Fledermäuse hoch, die von der Decke hingen, und dachte an meine Mutter, an ihr schönes Gesicht, das so starr war wie Stein, und an ihre harten Augen.

»Du kannst mich wohl kaum der Lüge bezichtigen, Selma«, hatte sie einmal gefaucht, »wo du doch selbst die Königin des Betrugs bist.«

Vielleicht hatte ich mir mit der ganzen Höhlensache etwas vorgemacht, auch mit Idris? Was hatte der alte Mann in dem Café gesagt? Ich für meinen Teil kann es kaum erwarten zu sehen, wie euch alles um die Ohren fliegt.

Vielleicht passierte das gerade? Der Zeitungsartikel, die Enthüllungen über Idris und Oceane. Selbst wenn er die Wahrheit sagte und das alles Lügen waren – die Leute glaubten es. Dazu kam, dass ich gekündigt hatte und vielleicht das geteilte Sorgerecht für Becky nicht bekommen würde …

Plötzlich stürzte die ganze furchtbare Realität auf mich ein. Was hatte ich da bloß getan!

Ich kniff die Augen zusammen, Tränen liefen mir über die Wangen.

»Selma.« Ich blickte in die Dunkelheit. Es war Idris. »Darf ich hereinkommen?«

Ich sagte nichts und er kam herein, sein Schatten ließ ihn wie einen Riesen erscheinen. Er setzte sich neben mich, seine Schulter nahe an meiner. Wir sahen beide zu den erstarrten Vögeln hoch.

»Vielleicht war ich die ganze Zeit hier erstarrt«, sagte ich und wischte mir wütend die Tränen ab. »In einer albernen, naiven, kleinen Blase und habe mir über die Höhle etwas vorgemacht, über dich, nur um eine Entschuldigung zu haben, meiner Ehe zu entfliehen.«

Er sah verletzt aus.

»Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich zurück nach Hause gehe«, fügte ich hinzu.

Idris sah auf seine Hände hinunter und seine gebräunte Stirn legte sich in Falten. »An dem Abend, an dem ich den Jungen gerettet habe, habe ich dich gesehen. Unter all den Menschen habe ich dich gesehen. Deine Traurigkeit, deine Komplexität.« Er sah mich an, sein Blick senkte sich tief in meinen. »Jetzt sehe ich, wie du deine Flügel ausbreitest, und der Gedanke, dass du gehst, wenn es gerade beginnt, bringt mich um.« Er nahm meine Hand. »Ich spüre, wie sich meine Flügel gemeinsam mit deinen ausbreiten, und es schmerzt. Ich weiß, wie sehr das wehtut, weil es so neu ist. Es tut mir leid, wenn ich dich eben verletzt habe, Selma, wirklich. Es wird nicht wieder vorkommen, das verspreche ich dir. Und zwischen Oceane und mir läuft nichts.« Er holte tief Luft, sein Daumen streichelte meine Hand. »Es gibt nur einen Menschen, den ich begehre, und ich denke, du weißt, wer das ist.«

Ich spürte, wie sich mein Atem beschleunigte, ein merkwürdiges Gefühls baute sich tief in mir in Wellen auf, als ich ihn ansah.

»Wir haben beide große Angst, den Sprung zu wagen«, sagte Idris. »Aber ist es nicht an der Zeit, dass wir diese letzte Hürde gemeinsam nehmen?«

Ich schluckte. Das war mein Problem: Ich hatte immer solche Angst. Ich hätte Mike schon vor Jahren verlassen sollen. Ich hätte meiner Mutter viel früher sagen sollen, dass sie mir mal im Mondschein begegnen konnte, ich, hätte schon von zu Hause weggehen sollen, bevor ich achtzehn war. Ich hätte in meiner Zeit an der Uni einen Roman schreiben sollen, als ich noch mehr Zeit dazu gehabt hatte. Ich hätte, ich sollte – aber ich wartete immer zu lange. Genau wie mit meinem Entschluss, in der Höhle zu leben. Jetzt flüchtete ich aus einem Leben, in dem ich mich schlecht fühlte, wo doch meine Tochter mich am meisten brauchte. Nicht, als ich hätte gehen sollen – vor vielen Jahren schon.

Und was war mit Idris? War das eine weitere Gelegenheit, die ich mir da gerade durch die Lappen gehen ließ?

Ich berührte sein Gesicht mit den Fingerspitzen und spürte die weichen Stoppeln seines blonden Barts. Dann glitten meine Finger zu seinem Nacken, sanft wölbte sich meine Hand darum, als meine Blicke mit seinen verschmolzen.

Ich spürte sein langes Haar an den Fingern und seufzte.

»Ich habe versucht, dagegen anzukämpfen«, sagte er leise, als seine Hand zu meinem Gesicht wanderte. »Ich habe mich gefragt, wie es aussehen würde, mich mit jemandem in der Gruppe einzulassen. Aber ich komme nicht mehr dagegen an.«

Er beugte sich zu mir hin und presste seine Lippen auf meine, er umfasste meine Taille und zog mich näher an sich heran. Wir wurden immer hektischer, die Finger im Haar des anderen.

Und dann spürte ich, wie sich etwas in mir löste. Das hatte ich lange nicht mehr gespürt. Mit Mike war es immer ruhig gewesen, als würde ich nach Hause kommen. Doch mit Idris fühlte ich mich ungebunden, gelöst, mein Herz schlug unregelmäßig. Jede Faser meines Körpers sehnte sich verzweifelt danach, ihm so nahe wie möglich zu sein.

Er stieß mich gegen den kalten Stein, und ich spürte ihn hart an meinem Oberschenkel, als ich das Bein hob. Meine Hände wanderten zu seinen Pobacken, und ich drückte mich an ihn.

Dann wurde ich mir plötzlich meines Körpers bewusst.

»Warum ich?«, fragte ich. »Du könntest jede haben.«

»Die Art, wie du schreibst«, flüsterte er. »Die Worte, die du wählst, sagen unglaublich viel über dich aus. Deine Stärke und deine Souveränität. Deine Schönheit.« Er wickelte sich eine meiner Locken um den Finger. »Und dein Zynismus«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

Wir atmeten beide schwer, drückten uns aneinander, ein Herz klopfte gegen das andere. Ich lehnte den Kopf zurück, spürte seine Lippen auf meinem Hals, wie sie weiter zu meinem Schlüsselbein und unter meine Bluse wanderten, während sein Daumen den silbrigen Stoff meines BHs wegschob und meine Brustwarze umkreiste. Ich stöhnte, Gefühle pulsierten in mir, als meine Hand über seine straffen Muskeln glitt.

Er ließ sich auf den Rücken sinken und zog mich mit, sodass ich rittlings auf ihm saß. Ich beugte mich hinunter und tauchte in seinen Mund, während er an meinen Lippen stöhnte. Unsere Küsse wurden dringlicher, intensiver, wir merkten kaum, wie draußen der Regen herabdonnerte und der Wind auffrischte.

Idris schob meinen Rock hoch, seine Finger fanden die Feuchtigkeit unter meinem Seidenslip. Ich ließ meine Hand unter den Bund seiner Shorts gleiten und spürte seine Härte. Draußen krachte der Donner, und die Wellen tobten wild, als ich Idris’ Shorts herunterzog und ihn zwischen meine Beine führte, während meine Blicke noch immer mit seinen verschmolzen waren.

Dann ließ ich mich auf ihn sinken.

»Oh Gott«, stöhnte er, wobei er menschlicher erschien, weniger gottgleich.

Ich bewegte mich auf und ab, neigte mich zu ihm hinunter und küsste ihn, während meine Finger durch sein langes, sandiges Haar fuhren und er seine Hüften hochstieß, tiefer in mich eindrang, sodass ich laut aufschrie.

Als ich den Kopf zurückbog, meinte ich, in der Dunkelheit zwei Augen zu sehen, die uns blinzelnd beobachteten. Doch als ich das nächste Mal hinsah, waren sie verschwunden.