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Becky

Kungar-Eishöhlen, Russland
4. Juli 2018

Becky und Kai stehen vor der Höhle. Sie sind zurück aus dem Krankenhaus, wo ihnen bestätigt wurde, dass Kais Knöchel nur verstaucht ist. Überall laufen jetzt Touristen herum, die großen Eisentore zu den riesigen Eishöhlen sind geöffnet. Doch Becky steht still in dem ganzen Trubel und denkt daran, dass sie endlich das Kind treffen wird, das ihre Mutter vor so vielen Jahren zur Welt gebracht hat.

»Alles klar?«, fragt Kai.

»Mir geht’s gut«, sagt Becky. Sie schüttelt den Kopf. »Nein, das ist gelogen. Ich bin verdammt nervös. Ich bin seit meinem Examen nicht mehr so nervös gewesen. Es ist sogar schlimmer als damals«, fügt sie hinzu und lacht nervös. »Oder sollte ich sagen: besser als damals

»Auf jeden Fall besser!«, sagt Kai mit einem strahlenden Lächeln. »Das ist eine Riesensache, vielleicht die wichtigste Begegnung deines Lebens.«

»Das beruhigt mich jetzt wirklich sehr, Kai!«

Da nähert sich Lev mit einer Frau. Sie hat langes weißes Haar wie Idris und ist groß und schlank. Ein Kind ist bei ihr, es muss drei oder vier Jahre alt sein. Beide tragen sie Sommerkleider, Sandalen und Blumen im Haar.

Becky verschlägt es kurz den Atem. Ist das ihre Schwester … und bedeutet das, sie hat auch eine Nichte? Die beiden sind wunderschön.

»Nach den Fotos zu urteilen, die ich von Idris gesehen habe, sieht sie aus wie er«, flüstert Kai.

»Ja, nicht wahr?«, antwortet Becky. Sie merkt, wie ihre Stimme zittert.

»Das ist Solar« sagt Lev, als sie bei ihnen sind. »Und das ist Liliya.« Sanft schiebt er das kleine Mädchen vorwärts, das vor Becky und Kai einen Knicks macht.

Becky lächelt. »Du bist wunderschön, Liliya.« Sie sieht zu Solar hoch … zu ihrer Schwester. Steht sie wirklich hier, direkt vor ihr? »Hallo, Solar«, sagt sie.

»Hallo, Becky.« Sie hat braune Augen und die Züge einer Elfe.

»Ich habe dich überall gesucht«, sagt Becky nervös lachend.

Solar lächelt. »Das habe ich gehört.«

»Können … können wir uns hinsetzen?«

»Natürlich.«

»Wir lassen euch dann mal allein«, sagt Kai und lächelt Becky an, während er mit Lev und Liliya davongeht.

Die beiden Frauen schlendern zu einer nahen Bank.

»Ich weiß nicht so richtig, wo ich anfangen soll«, sagt Becky und sieht Solar in die Augen. Sie wirkt nervös und still. Vielleicht war Idris auch so, eigenbrötlerisch, nachdenklich? Becky hat nie Gelegenheit gehabt, ihn besser kennenzulernen.

»Dann lass mich anfangen«, sagt Solar. »Es tut mir leid, ich muss dir sagen, dass ich nicht deine Schwester bin.«

Becky ist zutiefst enttäuscht. »Aber … dein Name. Und du hast mit Idris in den Höhlen gelebt, richtig? In Spanien und Slowenien, und du warst mit ihm zusammen hier«, sagt Becky und sieht sich um.

»Ja, Idris ist mein Vater. Aber wir haben nicht dieselbe Mutter.«

Becky denkt an den anderen Namen, der in die Höhlenwand eingeritzt war.

»Ist Oceane deine Mutter?«, fragt sie.

Solar nickt. »Ja.«

»Aber ich habe gedacht, sie wäre mit Caden zusammen gewesen?«

Solar nickt erneut. »Es ist passiert, bevor Idris deine Mutter kennengelernt hat. Meine Mutter ist weggelaufen, als sie herausgefunden hat, dass sie schwanger ist. Sie hat sich Sorgen gemacht, was ihre Schwangerschaft für die Beziehung zwischen Idris und deiner Mutter bedeuten würde. Und außerdem hatte sie Angst vor der Reaktion meiner Großmutter. Sie hat recht gehabt, Großmutter war sehr wütend.«

Becky schlägt die Hände vors Gesicht und versucht zu begreifen, was Solar sagt. »Ich bin die ganze Zeit einer falschen Sache hinterhergejagt!«

Solar legt ihr die Hand auf die Schulter. »Es tut mir sehr leid, Becky. Deshalb wollte ich es dir auch selbst sagen, nachdem Lev mir heute Morgen alles erzählt hat.«

»Und was ist mit dem Kind, das meine Mum zur Welt gebracht hat? Hat sie überhaupt ein Kind bekommen?«

»Ja, das hat sie. Doch viel mehr weiß ich auch nicht. Meine Mutter ist in Urlaub, deshalb habe ich mit meiner Großmutter gesprochen und sie hat mir bestätigt, dass deine Mutter wirklich ein Baby bekommen hat. Sie möchte mit dir sprechen, wenn du wieder in Großbritannien bist. Hier ist ihre Nummer – sie heißt Donna. Sie hat gesagt, du kannst sie jederzeit anrufen.«

Becky ist eine Weile still, während sie auf den Zettel schaut und die vielen neuen Informationen verdaut. Dann steht sie auf. »Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du gekommen bist, um mit mir zu reden.«

Solar lächelt traurig. »Es war mir ein Vergnügen. Wenn du reden willst, ich bin hier. Als Kinder des Flusses müssen wir zusammenhalten.«

Becky sieht das Mädchen an, das sie für ihre Schwester gehalten hat, und schüttelt den Kopf. »Ich war nie ein Kind des Flusses.« Dann geht sie davon, während ihr eine Frage immer wieder im Kopf herumgeht: Was ist aus dem Baby geworden, das meine Mutter zur Welt gebracht hat?