Ich rannte den Strand hinunter zur eingestürzten Höhle. Dort hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Julien und Maggie führten die Polizei und die Rettungssanitäter zum Höhleneingang, der jetzt verschwunden war. An seiner Stelle türmten sich herabgestürzte Felsbrocken auf. Ich schlug mir erschrocken die Hand vor den Mund. Gestern Morgen waren Idris und ich noch dort drinnen gewesen.
»Was genau ist passiert?«, fragte einer der Polizisten.
»Wir haben Schreie gehört, gefolgt von einem Krachen«, antwortete Maggie mit zitternder Stimme.
»Wie viele Menschen sind da drinnen?«, fragte er.
»Wir glauben, es sind vier«, antwortete Julien.
»Ist Idris da drinnen?«, fragte ich und beugte mich vor, um wieder zu Atem zu kommen.
Er nickte. »Oceane, Tom und Caden auch.«
Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen. Was, wenn Idris, der Vater meines Babys, verletzt in dieser Höhle lag … oder schlimmer noch: tot?
Der Gedanke, das Kind abzutreiben, ohne ihm etwas davon zu sagen, erfüllte mich plötzlich mit Schrecken. Die Vorstellung, dass er in dieser Höhle sterben könnte, ohne von dem Kind gewusst zu haben, das in mir wuchs!
Mir wurde endgültig schlecht.
»Was ist los?« Wir drehten uns um und sahen Donna den Strand entlanggerannt kommen. Die Einkaufstaschen schlugen ihr gegen die Beine.
»Die Decke ist eingestürzt«, sagte ich. »Es tut mir leid, Donna – Oceane und Tom sind da drinnen.«
Donna rang nach Luft. Die Einkäufe fielen ihr aus der Hand. Gläser zerschlugen, Sauce färbte den Sand scharlachrot.
»Ich habe dir und Idris gesagt, wie gefährlich diese verfluchte Höhle ist«, schrie sie mich an. »Ich habe dir verdammt noch mal gesagt, du sollst mit ihm reden!«
Ich öffnete den Mund, dann schloss ich ihn wieder. Ich hatte komplett vergessen, Idris etwas davon zu sagen.
Donna rannte auf die Höhle zu, doch die Polizisten hielten sie zurück.
»Wir haben die Feuerwehr gerufen und ein paar Höhlenkletterer«, sagte einer von ihnen. »Sie dürfen jetzt nicht näher rangehen.«
Während der nächsten halben Stunde beobachteten wir, wie Männer mit Helmen die heruntergefallenen Steine aus dem Weg räumten und den Eingang der Höhle freilegten. Ich wollte Donna trösten, aber sie ließ es nicht zu. Ich verstand sie. Wenn Becky dort drinnen gewesen wäre, wäre ich auch außer mir. Ich hätte ihre Bedenken Idris gegenüber erwähnen, meinen Einfluss auf ihn geltend machen müssen.
Gerade als ich mir diese Vorwürfe machte, kam Oceane herausgehumpelt, den Arm um einen gequält aussehenden Tom gelegt, der auf einem Bein hüpfte. Flüchtig sah ich sein blutiges Bein, ein Teil eines Knochens stand heraus. Ich zuckte zusammen und drehte mich weg.
Donna und die Sanitäter rannten zu den beiden.
»Wo sind Caden und Idris?«, fragte Julien Oceane.
»Ist Caden nicht hier? Ich dachte, er wäre nach unserem Streit rausgerannt.«
Streit?
»Da kommt noch jemand«, sagte Julien. Idris und Caden traten aus der Höhle, Caden hielt sich vorsichtig den Arm.
»Idris!«, rief ich, als ich sein staubbedecktes, schockiertes Gesicht sah. »Geht’s dir auch gut?«
Er sah zu Tom hin, der von den Sanitätern behandelt wurde und vor Schmerzen schrie. Dann zu Caden, der zu einem anderen Krankenwagen geführt wurde. Oceane lief auf Caden zu und versuchte, ihn zu trösten, aber er schob sie einfach weg und schaute sie gar nicht an.
Was war in dieser Höhle passiert, bevor sie eingestürzt war?
Oceane blickte auf, und ihr Blick begegnete dem von Idris. Er schaute schnell weg.
Panik ergriff mich.
»Was ist da drinnen passiert?«, fragte ich Idris. Er sagte nichts und konnte mir nicht in die Augen sehen. Meine Panik wurde stärker. »Idris, was zum Teufel ist passiert?«
»Nicht das, was du denkst«, sagte er, während sein Blick erneut auf Oceanes traf.
Ich schaute zwischen den beiden hin und her. Demütigung durchfuhr mich.
In diesem Moment wurde mir klar, dass sie doch miteinander geschlafen hatten … Caden musste sie in flagranti in der Höhle erwischt haben. In derselben Höhle, in der Idris und ich uns geliebt hatten.
Ich warf ihm einen angewiderten Blick zu und rannte weg.
Gefühlte Stunden saß ich jenseits der Kreidefelsen und beobachtete, wie die Blaulichter der Polizei und der Krankenwagen über die weißen Felsen flackerten.
Leute gingen vorbei, begierig, möglichst viel von dem Schauspiel mitzubekommen.
»Ich habe gewusst, dass so etwas passieren würde«, hörte ich eine Frau sagen, als sie vorbeiging.
»Es musste ja zur Katastrophe kommen. Diese verdammte Sekte!«, antwortete ihre Freundin.
Sie hatten recht, sie hatten die ganze Zeit recht gehabt. Die Decke war uns buchstäblich auf den Kopf gefallen, hatte zutage treten lassen, wer Idris wirklich war: ein Betrüger, ein Nichts. Ein ganz gewöhnlicher Mann auf der Suche nach ein bisschen billigem Nervenkitzel.
Und wozu machte mich das? Zu der verzweifelten Hausfrau mittleren Alters, die ich nie hatte werden wollen?
Ein Paar ging vorüber und schaute zu dem Drama hin, das sich vor der Höhle abspielte.
Es waren Julie und Greg.
Julie sah mich und starrte mich wütend an. Greg folgte dem Blick seiner Frau, sein Gesicht zeigte erst Überraschung, dann Furcht. Julie wandte sich mir zu, doch Greg griff nach ihrem Arm und sagte etwas zu ihr. Aber sie schüttelte den Kopf und kam auf mich zu.
Und jetzt?
Ich stand langsam auf. Mir drehte sich der Magen um, als ich die Wut im Gesicht meiner alten Freundin sah.
»Ich weiß Bescheid, was du für Lügen über Greg erzählt hast«, fauchte Julie, als sie bei mir war. Sie stand ganz steif da und versuchte, ihren Ärger unter Kontrolle zu halten. »Diese Yogalehrerin hat allen, die es hören wollten, von deinen Lügen erzählt.«
Ich hatte Anita erzählt, wie Greg mich lüstern angestarrt hatte. Na toll.
»Das sind keine Lügen, Julie«, sagte ich leise. »Ich wollte nicht, dass du es so erfährst, aber ich habe die Wahrheit gesagt, ehrlich.«
Greg lachte, während er neben seine Frau trat. »Ach, komm schon, Selma. Du bist eben ein Flittchen, immer schon, hast keine Gelegenheit zum Flirten ausgelassen. Und ich stehe als Bösewicht da, weil Männer das bei Frauen wie dir nun mal sind, oder?«
Ich traute meinen Ohren kaum. Er wollte offenbar so verzweifelt seine Ehe retten, dass er die Wahrheit komplett verdrehte. Dabei war er noch vor Kurzem bereit gewesen, sie durch seine Flirterei aufs Spiel zu setzen.
»Er lügt«, sagte ich zu Julie und sah sie an.
Julie lachte. »Es ist lustig, das aus deinem Mund zu hören. Weißt du, dass dich alle Selma, die große Geschichtenerzählerin nennen?«
Ich runzelte die Stirn und schlang die Arme um mich. Ich fühlte mich von ihren Bemerkungen kleingemacht.
»Das Ganze ist schwer danebengegangen, was?«, sagte Greg und zeigte auf die eingestürzte Höhle. »Aus der Traum, Selma.«
»Du hast deine Familie völlig umsonst auseinandergerissen«, fügte Julie kopfschüttelnd hinzu.
Völlig umsonst.
War es wirklich völlig umsonst gewesen? Ich hatte meinen Job aufgegeben und meine Ehe … und Becky? Ich dachte an Idris und Oceane. Hatte ich alles für einen Haufen Lügen aufgegeben? Mal ganz ehrlich, wäre ich ohne die Anziehung, die Idris auf mich ausübte, wirklich in dieser Höhle geblieben?
Mit geballten Fäusten stand ich da. Ich konnte nicht zulassen, dass alles völlig umsonst gewesen war. Ich würde nicht zulassen, dass alles völlig umsonst gewesen war.
»Sieh’s endlich ein, Selma«, sagte Julie. »Du hast einen Fehler gemacht – einen Fehler, der dich deine Tochter gekostet hat. Erst recht, nachdem die Höhle eingestürzt ist. Die Kinder des Flusses«, sagte sie und zeichnete Anführungszeichen in die Luft, »gibt es nicht mehr und auch keine Höhle, in die du Becky mitnehmen kannst. Du kannst nicht länger vor deinen Problemen davonlaufen, Selma. Du bist schwach.«
»Da irrst du dich aber«, sagte ich und sah sie an. »Ich bin stark. Wir alle sind stark.« Ich spürte, wie die Entschlossenheit in mir wuchs. »So was wie das hier stecken wir weg, du wirst schon sehen. Und dann bist du uns jederzeit willkommen. Vor allem, wenn du erkannt hast, wie Greg wirklich ist.«
Damit ging ich entschlossen davon.
Ich würde allen beweisen, dass sie unrecht hatten. Ich würde nicht beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten zusammenbrechen wie meine Mutter, als ihr letzter Ehemann sie allein und ohne einen Cent zurückgelassen hatte. Ich würde das hinbekommen, koste es, was es wolle.
Als ich auf die Höhle zuging, bemerkte ich oben beim Hotel eine Bewegung.
Ich blickte hoch und stellte fest, dass mich jemand beobachtete.
Idris.
Warum war er dort oben?