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Selma

Kent, Großbritannien
27. Juli 1991

Idris trug Shorts und hielt eine Angel in der Hand. Sein goldenes Haar fiel auf die gebräunten Schultern und seine grünen Augen waren so lebendig, dass sie unwirklich erschienen. Seine nackte Brust war in Mondlicht gebadet und in diesem Licht sah ich die Narben, die auf seiner Brust nach unten hin spitz zuliefen.

»Du kannst«, wiederholte er und trat auf mich zu. »Wie auch immer die Frage in deinem Kopf lautet, die Antwort ist Ja.«

Ich sah ihn überrascht an. »Woher hast du überhaupt gewusst, dass ich eine Frage habe?«

»Du stehst vor einer schwierigen Entscheidung. Das kann ich spüren.« Er legte seine Angel hin, setzte sich neben mich und sah aufs Meer hinaus. Er roch nach Meer, salzig und wohlig. »Dein Körper schreit es hinaus«, sagte er. »Deine Haltung, dein Gesichtsausdruck, einfach alles.«

Ich ballte die Hände zu Fäusten und beobachtete, wie sich der Sand zwischen meinen Fingern hindurchdrückte. Ich saß nicht an diesem Strand, um mir von jemandem wie ihm einen Vortrag halten zu lassen, egal, wie sehr er mich faszinierte.

»Ich bin hierhergekommen, um allein zu sein«, sagte ich.

»Dann gehe ich.« Er stand auf.

»Warte mal!« Ich konnte ihn nicht gehen lassen, ohne ihn etwas gefragt zu haben. »Woher weißt du so viel über mich? Und dass ich Schriftstellerin bin?«

Er zeigte in Richtung der kleinen Buchhandlung. »Du hast dort Bücher signiert.«

»Das ist ewig her.«

»Sie haben hinten immer noch ein Plakat hängen.«

»Ah, verstehe.«

»Wir lesen dein Buch. Es ist wunderbar.«

»Dann seid ihr jetzt der Queensbay-Höhlenbewohner-Buchclub?«

Er lachte. »So was Ähnliches. Dann lass ich dich jetzt mal allein.«

Er wandte sich um, doch irgendwie wollte ich jetzt, dass er blieb. Ich war neugierig, was ihn anging. Warum schickte ich ihn weg?

»Warte. Bleib da, es ist okay. Jetzt weiß ich zumindest, dass du bei Büchern einen guten Geschmack hast.«

Er lächelte und setzte sich wieder neben mich. »Beurteilst du die Leute danach, was sie lesen?«

»Warum nicht?«

Wir saßen einen Moment schweigend da, dann drehte ich mich zu ihm hin. »Du hast gesagt, dass ich die Frage in meinem Kopf mit Ja beantworten soll. Wenn aber Ja bedeutet, dass ich alles verliere?«

Er dachte mit gerunzelter Stirn darüber nach. »Was bedeutet ›alles‹ für dich?«

»Meine Familie. Meinen Mann und meine Tochter.«

Er betrachtete mein Gesicht ganz intensiv. »Nein. Ich denke nicht, dass das alles ist.«

»Wie bitte?«

»Wenn deine Familie wirklich alles für dich ist, wenn sie dich ganz und vollkommen macht, warum siehst du dann jetzt so leer aus?«

Ich holte tief Luft und atmete wieder aus.

»Die Gesellschaft sagt dir, dass die Familie alles ist«, sagte er und zeichnete im Mondlicht mit dem Finger einen Kreis in den Sand. »Aber für manche ist das nicht genug. Sie brauchen mehr.« Er zeichnete ein Oval um den Kreis und machte ein Auge daraus.

»Mehr – wovon?«, fragte ich und spürte mein Herz in der Brust schlagen und die Härchen an meinen Armen zu Berge stehen. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, an einem Wendepunkt meines Lebens zu stehen, Idris hatte recht.

»Du bist Schriftstellerin«, erklärte er. »Wie fühlst du dich, wenn du schreibst?«

Ich überlegte eine Weile. »Richtig«, sagte ich schließlich. »Es fühlt sich einfach … richtig an.«

»Du fühlst dich ganz?«

Ich nickte. »Ja.«

»Es gibt im Leben Berufungen.« Ich konnte nicht anders, als mich darüber lustig zu machen, und Idris lächelte. »Ich weiß, wie klischeehaft das klingt, aber es ist wahr. Wir alle haben eine Rolle auszufüllen. Unsere wahre Berufung. Und alles, was uns davon abhält, macht uns unglücklich.«

»Das ist eine zu simple Sichtweise. Und zu idealistisch. Das wahre Leben bedeutet, dass wir nicht unsere ganze Zeit einer einzigen Sache widmen können.«

Er sah mir in die Augen. »Wessen Sichtweise des wahren Lebens ist das?«

»Die Sichtweise aller.«

»Nein, das ist die Ansicht der Gesellschaft. Sie unterdrückt uns.«

»Dann empfiehlst du, dass wir alle in einer Höhle leben und schreiben oder malen oder was auch immer du und die anderen in eurer Höhe tun?«

Er zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?«

Ich seufzte. »Weil es da meine Familie gibt. Darauf läuft es immer wieder hinaus.«

»Bring sie mit.«

Ich lachte. »Ich bin mir nicht sicher, ob mein Mann dazu bereit sein würde.«

»Deine Tochter wäre es. Sie würde es lieben.«

»Ich bin mir sicher, das würde sie, aber nur, bis es regnet und ihre Puppen nass werden.«

Er lächelte und sah aufs Meer hinaus. »Kinder lieben ein bisschen Regen.«

Ich studierte sein Gesicht, die goldenen Stoppeln auf seinen Wangen, das weiße Glänzen seines Bartes im Mondlicht. »Ich glaub’s einfach nicht, dass ich überhaupt mit dir darüber diskutiere.«

»Was ist falsch daran, darüber zu diskutieren? Mach doch noch einen Schritt. Komm mit und lern die anderen kennen.« Er reckte sein Kinn in Richtung der Höhle. »Die Höhle ist größer, als sie von draußen aussieht. Wir machen ein richtiges Zuhause daraus.«

»Du versuchst ernsthaft, mich zu rekrutieren?«

Er neigte den Kopf und sah mich forschend an. »Rekrutieren? Das ist eine interessante Wortwahl.« Seine Augen blickten ernst, sein Gesichtsausdruck war freundlich. Er schien nicht verwirrt oder gestört, wie einige Leute behaupteten.

»Wer bist du?«, fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern. »Ein Maler. Ein Bildhauer.«

»Woher kommst du?«

»Woher kommst du

»Ah, verstehe, du bist ein Politiker, der eine Frage mit einer Gegenfrage beantwortet.«

Er lachte. »Weit gefehlt.« Sein Gesicht wurde ernst. »Aber das ist eine interessante Frage. Wer bist du, Selma Rhys? Schließ die Augen und denk ernsthaft darüber nach. Sperr das Licht aus. Die Klarheit kommt mit der Dunkelheit. Wer bist du?«

Ich versuchte, mich an die Frage heranzutasten. Ich sah Becky, Mike … dann meine Mutter und ihr wunderschönes Gesicht. Ihre eiskalten Augen. »Was glaubst du, wer du bist, Selma?« Ich erinnerte mich, dass meine Mutter mich das einmal gefragt hatte. »Was glaubt du eigentlich, wer du bist?«

Zwanzig Jahre später fühlte ich das Gewicht meines ersten Romans in den Händen, nachdem er mit der Post gekommen war. »Ich bin Schriftstellerin, Mutter. Ich bin Schriftstellerin, verdammt«, hatte ich damals laut gesagt.

»Ich bin Schriftstellerin«, sagte ich und riss die Augen auf. Ich merkte, dass mir Tränen übers Gesicht liefen. Verlegen wischte ich sie weg. »Von warmem Wein werde ich immer so emotional«, sagte ich mit einem leisen Lachen.

Idris stand auf und streckte mir die Hand hin. »Komm, komm mit und lern die anderen kennen.«

Ich sah seine Hand an und zögerte. Dann merkte ich, wie ich sie ergriff und mit ihm in der Dunkelheit stand.