Dreck. Und noch mehr Dreck.
Aber dieser spezielle Dreck würde eine Geschichte erzählen, wenn April nur genau genug hinhörte.
Durch ihre Schutzbrille betrachtete sie die letzte Bodenprobe des Geländes und verglich die verschiedenen Brauntöne mit ihrer Farbkarte. Dann notierte sie den Wassergehalt, die Plastizität, die Beschaffenheit, Korngröße und -form sowie alle anderen relevanten Daten der Probe auf ihrem Feldformular.
Keine Farbveränderungen. Auch kein eigentümlicher Geruch, was sie nicht überraschte. Der von Lösungsmitteln wäre süßlich, wohingegen Benzin – na ja, nach Benzin stank. Eben wie alle Kohlenwasserstoffe. Blei hingegen würde einfach nach Dreck riechen. Genauso wie Arsen.
Nachdem sie die behandschuhten Finger am Oberschenkel ihrer Jeans abgewischt hatte, schrieb sie ihre Beobachtungen auf.
Normalerweise würde sie sich mit ihrem Assistenten Bashir über die nervigsten Kollegen oder den letzten Reality-Show-Marathon unterhalten. Aber um diese Zeit am Nachmittag waren beide zu müde für belangloses Geplauder, also beendete April schweigend ihr Protokoll, während Bashir das Etikett für das Probenglas beschriftete und das Formular zur Ergebnisdokumentation ausfüllte.
Nachdem April das Glas mit Erde befüllt und erneut ihre Hand an der Jeans abgewischt hatte, brachte sie den Aufkleber auf dem Gefäß an, ließ es in einen Zip-Beutel gleiten und stellte es in die mit Eis gefüllte Kühlbox. Noch eine letzte Unterschrift, um zu bestätigen, dass sie die Probe dem wartenden Labor-Kurier ausgehändigt hatte, und sie konnten für heute Schluss machen. Gott sei Dank!
«Das war’s?», fragte Bashir.
«Das war’s.» Sie sahen zu, wie der Kurier mit der Kühlbox verschwand. April stieß den Atem aus. «Ich kann hier aufräumen, wenn du dich ein paar Minuten ausruhen willst.»
Er schüttelte den Kopf. «Ich helf dir.»
Abgesehen von ihrer dreißigminütigen Mittagspause, hatten sie seit sieben Uhr morgens konzentriert durchgearbeitet, also fast neun Stunden. Ihr taten in ihren staubbedeckten Arbeitsstiefeln die Füße weh, ihre Haut brannte von der Sonne, und Flüssigkeitsmangel ließ ihren Kopf unter dem Schutzhelm schmerzhaft pochen. Sie war mehr als bereit für eine schöne, lange Dusche in ihrem Hotelzimmer.
Ihre Wange juckte, wahrscheinlich von einem Schmutzfleck. Das war schlecht, da es sich bei Boden-Haut-Kontakt, wie es in der Fachsprache hieß, um einen Expositionspfad handelte. Oder, wie April es nannte: keine gute Idee.
Sie öffnete ihre Wasserflasche, benetzte ein Papiertuch und wischte sich über die Wange, bis sie sich wieder sauber anfühlte.
«Du hast da …» Bashir kratzte mit seinem Finger an einer Stelle in der Nähe seiner Schläfe. «… noch was.»
«Danke.» Trotz der Kopfschmerzen war ihr Lächeln aufrichtig. Sie konnte die Anzahl ihrer echten Freunde in dieser Firma an einer Hand abzählen, und Bashir war einer davon. «Das war gute Arbeit heute.»
Sie rieb noch ein letztes Mal über ihr Gesicht, und Bashir nickte bestätigend – anscheinend war sie allen Dreck losgeworden. Dann landete das benutzte Papiertuch auf Nimmerwiedersehen im selben Müll wie ihre gebrauchten Handschuhe.
Der Boden hier war auf mehr als nur eine Weise verschmutzt. Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts war auf diesem Gelände eine Pestizidfabrik betrieben worden, die die Umgebung mit Blei und Arsen vergiftet hatte. Deshalb hatte April die vergangenen Wochen damit verbracht, Bodenproben zu nehmen und sie auf beide Chemikalien zu prüfen. Sie wollte keine von beiden auf ihrer Haut haben. Eigentlich auch nicht auf ihrer Jeans, aber Papiertücher waren einfach lästig.
«Hab ich dir das eigentlich schon erzählt?» Während April ihre Unterlagen zusammensuchte, ließ Bashir ein verschmitztes Grinsen aufblitzen. «Letzte Woche hat Chuck der Neuen erklärt, dass man in einem potenziell kontaminierten Gebiet unter keinen Umständen Wasser trinken darf. Weil es unprofessionell ist und gegen Gesundheits- und Sicherheitsrichtlinien verstößt.»
Gemeinsam starrten sie auf die rote Kühlbox mit den Wasserflaschen, die April am Morgen auf die Ladeklappe ihres Trucks gestellt hatte.
«Chuck ist ein selbstgefälliger zweiundzwanzigjähriger Blödmann, der so gut wie keine Zeit im Außeneinsatz verbracht hat.» Angesichts ihrer deutlichen Ansage weiteten sich Bashirs Augen. «Er hat keine verdammte Ahnung, wovon er redet, und trotzdem erklärt er allen, wie sie ihre Arbeit erledigen sollen.»
Bashir schnaubte. «Nicht nur unsere Arbeit.»
«Oh Gott.» April verdrehte ihre Augen gen Himmel. «Hat er dir schon wieder einen Vortrag über Hummus gehalten?»
«Ja, obwohl ich nicht mal viel Hummus esse und mir Kichererbsen echt egal sind. Ich glaube, er geht einfach davon aus, weil …» Bashir deutete auf sich selbst. «Du weißt schon.»
Zusammen trugen sie die Unterlagen zum Firmentruck.
«Ich weiß», seufzte sie. «Bitte sag nicht, dass er dich überreden wollte, den …»
«Genau, den Schokoladen-Hummus zu probieren», bestätigte Bashir. «Mal wieder. Und falls du gern mehr über dessen Ballaststoffe und Proteingehalt erfahren möchtest oder vielleicht darüber, wie diese Version eine gigantische Verbesserung gegenüber dem traditionellen Hummus – dem Hummus deines Volkes , wie er gesagt hat – ist: Ich bin jetzt bestens informiert, und es wäre mir eine Freude, mein neu gewonnenes Wissen mit dir zu teilen.»
Er hielt ihr die Tür zur Beifahrerseite auf, und sie befestigte die Unterlagen an ihrem Klemmbrett.
«Oh Mann, es tut mir so leid.» Sie zog eine Grimasse. «Falls es dich irgendwie tröstet, er hat auch eine sehr genaue Vorstellung darüber, wie sich seine wenigen weiblichen Kolleginnen kleiden sollten, um mehr Aufträge zu ergattern.»
In einer kleinen Firma wie ihrer waren alle angehalten, sich um Kunden zu bemühen. Sie sollten sie in Mittagspausen und bei Geschäftstreffen umwerben, sie auf Kongressen und Konferenzen zu Reinigungstechnologien beiseiteziehen. April musste die Leute davon überzeugen, sie ernst zu nehmen und ihrem Unternehmen viel Geld für ihre geologische Expertise zu zahlen.
Um optimale Ergebnisse zu erzielen, musste sie auf eine bestimmte Weise aussehen. Auf eine bestimmte Weise klingen. Und sich stets so professionell präsentieren wie nur möglich.
Optimierung war in den letzten Jahren zu einem Schimpfwort geworden.
Der Ruf konnte in ihrer Branche ein zerbrechliches Gut sein. Er konnte ruiniert werden. Zum Beispiel durch die Enthüllung, dass eine scheinbar seriöse und erfahrene Kollegin sich gern als ihr Lieblingscharakter aus einer TV -Serie verkleidete und den Großteil ihrer Freizeit damit verbrachte, sich über erfundene Halbgötter auszutauschen.
Bashir verdrehte die Augen. «Natürlich hat er Vorstellungen zu deiner Kleidung. Das hast du dem Management erzählt, oder?»
«Ungelogen fünf Minuten später.»
«Sehr gut.» Bashir lief neben ihr her zurück zum Tisch mit den Proben. «Hoffentlich schmeißen sie ihn bald raus.»
«Er hat keine Ahnung. Er hat weniger als keine Ahnung, wenn das irgendwie möglich ist.» Sie zupfte an ihrem Shirt, um zu demonstrieren, dass es feucht an ihr klebte. «Ich mein, guck, wie viel wir heute geschwitzt haben.»
«Reichlich.» Er warf einen Blick auf sein eigenes schweißgetränktes orangefarbenes Shirt. «Ekelhaft viel.»
Sie hielt vor dem Tisch an und schüttelte den Kopf. «Irgendjemand muss es der Neuen noch mal richtig erklären. Wenn sie nicht wegen Dehydrierung im Krankenhaus landen will, sollte sie Wasser mitnehmen.»
Bashir neigte den Kopf. «Du musst es wissen.»
«Ich muss es wissen.»
Und das tat sie. Fast ein Drittel ihrer gesamten Arbeitszeit als Geologin hatte sie damit verbracht, im Windschatten von Bohrgeräten, wie sie auch hier eines hatten, über Bodenproben zu brüten, die protokolliert, in Gläsern gesammelt und zu Laboruntersuchungen weggeschickt werden mussten. Lange Zeit hatte sie diesen Prozess, die Herausforderungen und sogar die körperlichen Anstrengungen geliebt, die solche Außeneinsätze mit sich brachten. Ein Teil von ihr liebte es immer noch.
Aber nicht alles von ihr. Nicht genug.
Als sie den Tisch auf die Seite gelegt hatten und seine Beine einklappten, hielt Bashir inne. «Du gehst wirklich, oder?»
«Yup.» Heute war ihr letzter Tag im Außeneinsatz, ihre letzte Woche als Angestellte in einer Privatfirma und das letzte Mal, dass sie Dreck von ihrer Jeans waschen würde. «Ich werde dich vermissen, aber es war an der Zeit. Nein, es war eigentlich schon lange überfällig.»
In weniger als einer Woche würde sie von Sacramento nach Berkeley umziehen. Und in weniger als zwei Wochen würde Zukunfts-April ihren neuen Job bei der staatlichen Aufsichtsbehörde in Oakland anfangen. Sie würde dann die Arbeit von Leuten wie Gegenwarts-April beaufsichtigen, was bedeutete: mehr Meetings und Dokumentenprüfung und weniger Außeneinsätze.
Sie war so was von bereit – aus so vielen Gründen, persönlicher wie professioneller Natur.
Sobald Bashir und sie all ihr Material in den Truck verladen hatten, setzte sie ihre normale Brille auf und legte ihre Schutzausrüstung ab. Mit einem erleichterten Seufzer schnürte sie die staubigen Stiefel auf und deponierte sie in einer Plastiktüte. Anschließend schlüpfte sie in ihre abgetragenen, aber sauberen Sneaker. Bashir tat neben ihr das Gleiche.
Dann war alles erledigt. Endlich, endlich erledigt. Jetzt brauchte sie eine Dusche, einen Cheeseburger und mindestens fünf Liter eiskaltes Wasser. Und ein bisschen Lavineas-Fanfiction, ein paar Gruppenchats auf dem Server und PNs mit Book!AeneasWouldNever. Hoffentlich hatte BAWN geschrieben, während sie gearbeitet hatte.
Doch zuerst musste sie sich von Bashir verabschieden.
«Ich weiß nicht, ob du schon Pläne fürs Wochenende hast, aber Mimi und ich würden dich gerne zum Abendessen einladen. Um auf deinen neuen Job anzustoßen und Abschied zu nehmen.» Obwohl sie seit Jahren zusammengearbeitet hatten, war er immer noch so schüchtern, dass er nervös herumzappelte, während er die Einladung aussprach. «Sie weiß, dass du meine Lieblingskollegin bist.»
Das beruhte auf Gegenseitigkeit, und seine Frau Mimi war ebenfalls eine gute Freundin für April.
Trotzdem wussten die beiden nicht alles über sie. Insbesondere hatten sie keine Ahnung, dass sie die meisten ihrer Abende damit verbrachte, tief in das Gods-of-the-Gates- Universum einzutauchen: Sie twitterte über ihr OTP , ihr One True Pairing, das einzig wahre Traumpaar. Sie las und schrieb Fanfiction, fungierte als Betaleserin für die Geschichten anderer, chattete auf dem Lavineas-Server und arbeitete mit enormer Begeisterung und deutlich weniger Talent an Kostümen für ihr Lavinia-Cosplay.
Ein zufälliges Bild von einer Convention oder ein klitzekleiner Versprecher, und schon würde ihr Ruf darunter leiden. Sie könnte als albernes Fangirl abgestempelt werden, schneller als sie eine Bodenprobe nahm.
Deshalb hatte sie bisher auch noch nie eine Gods-of-the-Gates -Convention besucht. Sie hatte ihren Freunden bei der Arbeit nichts von ihrem Fan-Dasein erzählt. Nicht mal den Freunden, die sie so sehr mochte wie Bashir.
Die Kollegen bei ihrer neuen Stelle wiederum …
Der Unterschied in der Arbeitskultur könnte deutlicher nicht sein. Das Persönliche und das Professionelle schienen in der Aufsichtsbehörde untrennbar miteinander verbunden. Auf erfreuliche Art.
Wenn sie in weniger als zwei Wochen dort eintraf, würde sie das fünfte Mitglied in dem Geologen-Team werden. Die dritte Frau. Als sie letzte Woche da war, um ein paar Formalitäten zu erledigen, boten ihr die anderen Frauen, Heidi und Mel, ein Stück vom Kuchen an, den die Kollegen anlässlich des zehnjährigen Pärchen-Jubiläums der beiden mitgebracht hatten.
Mel und die zwei Jungs aus dem Team – Pablo und Kei – spielten sogar zusammen in einer Band. Einer verdammten Band . Sie traten anscheinend bei Pensionierungsfeiern und ähnlichen Veranstaltungen auf, bei denen man ihrer eigentümlichen Begabung für Folk Music nicht erfolgreich entgehen konnte.
Sie sind furchtbar , hatte Heidi geflüstert, den Mund halb hinter einer Wasserflasche versteckt. Aber sie haben so viel Spaß daran, dass wir nichts sagen .
In diesem Moment, in diesem tristen Büro, hatte sich etwas in April gelöst, das so lange so angespannt gewesen war, dass es beinahe gerissen wäre. Alle verbliebenen Zweifel waren plötzlich verschwunden.
Es war die richtige Entscheidung, den Job zu wechseln, trotz eines geringeren Gehalts. Trotz der Immobilienpreise in der Bay Area. Trotz der Mühen eines Umzugs.
In ihrem neuen Job würde sie nicht Teile von sich selbst verstecken müssen, aus Angst vor der Missbilligung der anderen. Ab nächster Woche gehörte Optimierung nicht länger zu ihren Sorgen.
Eigentlich …
Eigentlich kümmerte es sie bereits jetzt nicht mehr.
«Danke für die Einladung, Bashir.» Sie umarmte ihn, und er klopfte ihr dabei zögerlich auf den Rücken. «Ich bin dieses Wochenende leider schon verplant. Ich muss in die neue Wohnung und den Umzug vorbereiten. Allerdings bin ich Ende nächster Woche wieder in der Stadt, vielleicht können wir das Dinner dann nachholen?»
Als sie sich aus der Umarmung löste, lächelte er zufrieden zu ihr hinab. «Aber sicher. Ich kläre mit Mimi ihre Termine ab und schreibe dir später noch mal. Wir sind heute bei ihrer Familie zum Essen. Sie wohnen nicht weit weg von hier, daher mache ich mich direkt auf den Weg dorthin.»
Scheiß auf Optimierung , dachte sie.
«Ich werde den Abend wohl damit verbringen, mir einen Burger aufs Zimmer zu bestellen und Fanfiction zu Gods of the Gates zu schreiben!», teilte sie ihm mit. «Deine Feierabendpläne klingen definitiv aufregender.»
Einen kurzen Augenblick blinzelte er, dann ließ er ein schiefes Grinsen aufblitzen. «Das sagst du nur, weil du meine Schwiegereltern nicht kennst.»
Sie lachte. «Okay.»
«Bei unserem Abendessen will ich mehr über deine Schreiberei erfahren.» Er neigte den Kopf und musterte sie neugierig. «Mimi liebt diese Serie. Vor allem den gut aussehenden Kerl.»
«Marcus Caster-Rupp?» Im Grunde könnte jeder der Schauspieler gemeint sein, aber Caster-Rupp war zweifellos der hübscheste von allen. Und der langweiligste. So langweilig, dass sie sich manchmal wunderte, wie jemand, der so aufregend aussah, so entsetzlich einschläfernd sein konnte.
«Ja, genau der.» Er blickte schmerzerfüllt gen Himmel. «Er steht auf ihrer Freebie-Liste. Du weißt schon, sollte sie ihm jemals begegnen, darf sie … na ja. Jedes Mal, wenn wir uns eine Folge anschauen, betont sie das.»
April tätschelte seinen Arm. «Sie wird ihn niemals in echt treffen. Keiner von uns wird das, es sei denn, wir ziehen nach L. A. und fangen an, lebenswichtige Organe zu verkaufen, um uns einen Haarschnitt leisten zu können.»
«Hmm», seine Miene hellte sich auf, «das stimmt.»
Bevor sie das Gelände verließen, bedankten sie sich bei der Bohr-Crew. Danach verabschiedete sie sich abermals von Bashir, er stieg in sein Auto, und sie schwang sich hinter das Lenkrad des Trucks. Mit einem letzten Hupen machte sich April auf den Weg zum Hotel, während er zu seinen Schwiegereltern aufbrach.
Es fühlte sich an, als würden mit jeder Meile, die sie zurücklegte, unsichtbare Fesseln zerreißen, und sie blieb mit einer seltsamen, schwindelerregenden Leichtigkeit zurück. Gut, in ihrem Schädel brummte immer noch ihr ganz persönliches Bohrgerät, aber die Kopfschmerzen waren nichts, was sich nicht mit ein paar Gläsern Wasser richten ließe, kein Problem.
Und was machte es schon, dass ihre Jeans dreckverschmiert war? Nicht einmal kontaminierte Erde konnte die freudige Wahrheit überdecken.
Sie erhaschte einen Blick auf sich im Rückspiegel. Ihr Lächeln war so breit, dass sie in einem Zahnpasta-Werbespot hätte auftreten können.
Und das war kein Wunder. Gar kein Wunder.
Das war ihr letzter Tag im Dreck gewesen.
Die Zukunft begann jetzt.
Zurück im Hotel, stopfte sie ihre Jeans in eine Plastiktüte und zog sich aus. In der Dusche schrubbte sie sich unter dem heißen Wasser, bis ihre Haut rot wurde.
Danach fühlte sie sich in ihrem sauberen Flanellpyjama wie in eine Wolke gehüllt. Sie stürzte ein Glas Wasser hinunter und las BAWNs letzte Nachricht. Endlich hatte er sich entschieden, wie er seine nächste Geschichte schreiben wollte. Die Themenvorgabe vom Montag für die kommende Aeneas-und-Lavinia-Woche verlangte einen Showdown zwischen Aeneas’ beiden Geliebten , und BAWN hatte tagelang darüber gegrübelt, wie man das am besten darstellen könnte.
Da sich die beiden Frauen bisher weder in den Büchern noch in der Serie über den Weg gelaufen sind, könntest du dir eine fluffige Alternate-Universe-Geschichte ausdenken. Das mache ich auch , hatte sie ihm heute Morgen vor der Arbeit geschrieben, wohl wissend, wie er auf einen solchen Vorschlag reagieren würde. Oder – und ich glaube, dass diese Idee für dich funktionieren würde – vielleicht könnte Aeneas von dem Showdown träumen? Dann könntest du kanontreu und bei seiner Perspektive bleiben. Was denkst du?
Letztere Option bot eine Fülle an Möglichkeiten für Drama und Angst, also hatte er sich selbstverständlich dafür entschieden. BAWN war wirklich ein einfühlsamer Autor, aber, das musste April zugeben: Einige seiner Texte waren echt deprimierend.
Mittlerweile allerdings nicht mehr ganz so sehr wie am Anfang. Damals quollen selbst seine Aeneas/Lavinia-Geschichten über von Schuld und Scham des Helden in Bezug auf Dido – sie lasen sich wie eine Mischung aus Grabgesängen, Scheiterhaufen und Klageliedern. Bei Aprils erster richtiger Unterhaltung mit BAWN auf dem Lavineas-Server hatte sie ihm, nur halb im Scherz, vorgeschlagen, einige seiner Storys mit dem Tag ‹Trübsal ahoi› zu kennzeichnen.
Schon für seine mentale Gesundheit war es besser, sich auf Storys zu konzentrieren, die Lavinia und Aeneas als Traumpaar zeigten. Eindeutig. Hin und wieder ein paar fluffige Texte zu schreiben, würde ihm ganz gewiss nicht schaden.
Heute Abend jedoch hatte sie keine Zeit, das Evangelium des Fluffs zu predigen. Als sie damit fertig war, ihre eigene Idee für eine süße AU -Geschichte – Lavinia und Dido treffen als Teenager in einem Quiz-Wettbewerb aufeinander, wobei ihre Gefühle für Aeneas das Frage-Antwort-Spiel mit jeder Runde angespannter und schräger werden lassen – zu beschreiben, stand sie kurz davor, den Mut zu verlieren. Schon wieder.
Bereits vor Monaten, als sie sich für den neuen Job beworben hatte, hatte sie die Entscheidung getroffen, sich nicht länger aus Angst vor der Missbilligung fremder Leute zu verstecken. Das galt auch für ihr Fan-Dasein.
Auf Twitter hatte sie ihre Cosplay-Fotos stets bearbeitet und ihr Gesicht unkenntlich gemacht, um berufliche Katastrophen zu vermeiden. Allerdings hatte sie ihren Twitter-Namen aus einem anderen Grund nicht mit den anderen Lavineas-Fans geteilt.
Wegen ihres Körpers.
Sie hatte nicht gewollt, dass ihre Online-Freunde und -Freundinnen ihren Körper in diesen Lavinia-Kostümen sahen. Vor allem der eine, dessen Meinung ihr mehr bedeutete, als sie eigentlich sollte.
Dafür dass diese Fan-Community Güte, Charakter und Intelligenz so entschieden über Aussehen stellte, fand sich in Lavineas-Fanfiction eine enttäuschende Fülle an Fatshaming. Nicht in BAWNs Texten, das musste sie ihm lassen. Aber in einigen seiner Lieblingsgeschichten, bei denen er ein Lesezeichen gesetzt und die er ihr weiterempfohlen hatte, kam es vor.
Nachdem sie ihr ganzes Leben gegen ihn gekämpft hatte, liebte April ihren Körper mittlerweile. Alles davon. Vom rothaarigen Scheitel bis hin zu den sommersprossigen, knubbligen Zehen.
Sie hatte dasselbe niemals von anderen Menschen erwartet. Das tat sie auch heute nicht. Aber sie hatte keine Lust mehr, sich zu verstecken, und sie hatte sowieso die Nase voll von kontaminierten, schmutzigen Hosen und von Kollegen, die sie immer auf Abstand hielt.
Dieses Jahr würde sie am größten Treffen ihrer Fangemeinde, der Con of the Gates , teilnehmen, die – passenderweise – immer in Sichtweite der Golden Gate Bridge stattfand. Zahllose Blogger und Reporter tauchten auf dieser Veranstaltung auf, und sie schossen Fotos, von denen sich am Ende immer einige viral verbreiteten, in Zeitungen veröffentlicht wurden oder über den Fernsehbildschirm flimmerten.
Es würde sie nicht kümmern. Nicht mehr. Wenn sich ihre Kollegen offen über ihre schlechte Folk-Band unterhalten konnten, dann konnte sie sich genauso gut über ihre Passion für die beliebteste Fernsehserie schlechthin auslassen.
Und wenn sie auf die Convention ging, könnte sie ihre Fan-Freunde endlich persönlich treffen. Vielleicht würde sie sogar BAWN gegenüberstehen, trotz seiner Schüchternheit. Sie würde ihnen allen die Gelegenheit geben, zu beweisen, dass sie die Botschaft ihres OTPs verstanden hatten.
Falls sie das nicht hatten, würde es ganz schön wehtun. Da konnte sie sich nichts vormachen.
Vor allem falls BAWN nur einen Blick auf sie werfen würde und dann …
Okay, es hatte keinen Sinn, sich über eine Zurückweisung Gedanken zu machen, die noch gar nicht stattgefunden hatte.
Im allerschlimmsten Fall müsste sie sich neue Freunde suchen. Eine andere Fan-Community, die akzeptierte, wer und was sie war. Es würde einen anderen Betaleser für ihre Storys geben, dessen Nachrichten ihr morgens einen Sonnenstrahl schickten und sie nachts wie eine warme Daunendecke einhüllten.
Es würde einen neuen Mann geben, den sie von Angesicht zu Angesicht in ihrem Leben – und vielleicht sogar in ihrem Bett – haben wollte.
Also musste sie es heute Abend tun, bevor sie die Nerven verlor. Es war nicht der letzte Schritt, nicht einmal der schwerste. Aber es war der erste.
Ohne groß darüber nachzudenken, öffnete sie einen Thread auf Twitter, der seit heute Morgen ziemlich aktiv war. Der Gods-of-the-Gates -Account hatte die Fans aufgefordert, ihre besten Cosplay-Fotos zu posten, und die Zahl der Antworten belief sich auf mehrere Hundert. Ein paar Dutzend Bilder zeigten Leute ihrer Statur, und April las die Kommentare zu diesen Tweets ganz bewusst nicht.
Auf ihrem Telefon hatte sie ein Selfie von ihrem neuesten Lavinia-Kostüm. Das Foto war unbearbeitet, ihr Gesicht und ihr Körper waren deutlich zu sehen. Ihre Kollegen, sowohl jetzige als auch zukünftige, würden sie erkennen. Ihre Freunde und Familie ebenfalls. Das Nervenaufreibendste von allem jedoch war: Falls sie ihm ihren Twitter-Namen verriet, würde Book!AeneasWouldNever sie zum ersten Mal sehen.
Tief einatmen.
Sie postete das Bild. Dann legte sie schnell ihr Handy weg, fuhr den Laptop runter und bestellte etwas vom Zimmerservice, weil sie es sich verdient hatte. Nach dem Abendessen begann sie mit ihrer fluffig-modernen Alternate-Universe-Story, damit BAWN ihr dazu übers Wochenende Rückmeldung geben konnte.
Kurz bevor sie ins Bett gehen wollte, hielt sie es nicht mehr aus.
Mit dem Finger in Position, bereit zum Blockieren, checkte April ihre Twitter-Benachrichtigungen.
Was zum Teufel? Was zum Teufel ?!
Sie war viral gegangen. Zumindest für ihre bescheidenen Maßstäbe. Hunderte von Leuten hatten ihr Foto kommentiert, und jede Sekunde kamen mehr hinzu. Sie konnte die Benachrichtigungen gar nicht schnell genug lesen, wobei sie manche davon überhaupt nicht anschauen wollte.
Sie hatte gewusst, wie ein bestimmter Teil des Gods-of-the-Gates -Fandoms reagieren würde. Deshalb überraschte es sie nicht, verstreut zwischen bewundernden und ermutigenden Antworten auch ein paar hässliche Threads zu finden.
Sieht so aus, als hätte sie Lavinia gegessen , schien der beliebteste dieser Tweets zu sein.
So etwas versetzte ihr einen Stich, ganz klar. Allerdings konnte ein Unbekannter aus dem Internet ihr nicht ernsthaft wehtun. Nicht so, wie es Familie und Freunde und Kollegen könnten.
Trotzdem hatte sie nicht vor, sich derartig giftigen Bemerkungen länger als nötig auszusetzen. Es würde vielleicht ein wenig dauern, doch sie wollte jeden Troll blockieren.
Dennoch … Grundgütiger! Woher kamen denn bitte die ganzen Leute ?
Es kostete sie Zeit, die Hater aus einem bestimmten Thread zu blockieren, genauso wie gewisse Schlüsselwörter aus dem Nutzvieh-und-Zootier-Bereich stumm zu schalten – zumindest für den Augenblick.
Als sie fertig war, hatte sie jede Menge neuer Benachrichtigungen, die größtenteils jedoch freundlich wirkten. Trotzdem wollte sie sich Twitter erst am nächsten Morgen wieder widmen.
Bis sie ganz oben eine Nachricht bemerkte, die nur wenige Sekunden zuvor eingetroffen war.
Der Account trug eine strahlend blaue Blase mit einem Haken darin. Ein offizieller, verifizierter Account also.
Marcus Caster-Rupps Account.
Der Typ, der Aeneas spielte – der fucking Aeneas –, hatte ihr geschrieben. Folgte ihr.
Und – er schien sie …
Nein, das konnte nicht stimmen. Sie musste halluzinieren.
Sie kniff die Augen zusammen. Blinzelte. Las es noch einmal. Ein drittes Mal.
Aus ihr unbekannten Gründen schien er sie …
Nun, es schien, als hätte er sie eingeladen. Auf ein Date.
«Ich habe so was schon mal als Fanfiction gelesen», flüsterte sie.
Dann klickte sie auf den Thread, um herauszufinden, was zum Teufel hier gerade passiert war.