Kapitel 6

Der Damm bricht

 

 

Eine Woche später fühlte sich David immer noch auf der Couch am wohlsten. Einige Tage, nachdem er aus dem Krankenhaus und mit zu Dusty nach Hause gekommen war, hatte er William kennengelernt. Er mochte Dustys Mitbewohner; er war nett und freundlich und ein bisschen wie Dusty. Bei William fühlte er sich sicher. Einmal nach dem Abendessen, sie waren gerade beim Abwasch und Dusty war zu einer Bodega an der Ecke unterwegs gewesen, um ihnen Eiscreme zu besorgen, hatte William David anvertraut, dass er nur eingezogen war, nachdem Kory die Wohnung verlassen hatte, damit Dusty nicht die ganze Miete allein zahlen musste.

Die meiste Zeit bin ich draußen beim großen Haus, aber es ist praktisch, hier ein Zimmer zu haben, in dem ich meinen ganzen Kram unterbringen kann; einen Ort, an den ich mich, wenn nötig, zurückziehen kann , hatte William ihm erzählt.

Der große Mann hatte sich sogar einmal angeboten, David zu seinem Termin mit Tristan zu fahren, als Dusty nach einem Dreh zu spät dran gewesen war.

David fühlte sich in Menschenmengen immer noch nicht wohl. Der Lärm, den große Ansammlungen von Menschen zwangsläufig mit sich brachten, machte ihn wahnsinnig. Außerdem waren die Einschränkung seiner Mobilität durch den Gips und der Verlust seiner Sehkraft auf dem linken Auge für ihn draußen in der Öffentlichkeit eine starke Belastung. Doch sowohl Dusty als auch William hatten die Kunst, ihn abzulenken, geradezu perfektioniert und gaben ihm Sicherheit.

Dusty war schon ins Bett gegangen und hatte David auf der Couch zurückgelassen, wo er die Folgen von Criminal Minds und Blue Bloods rauf und runter sah, seine Lieblingsbeschäftigung in letzter Zeit. Als der Abspann der aktuellen Episode anlief, raffte er sich auf und humpelte vom Wohnzimmer hinüber in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Mit einer Limo in der Hand ließ er sich zurück auf die Couch fallen, lehnte sich zurück und machte es sich wieder bequem. Er stöhnte, als die Nachrichten anfingen, doch er hatte nicht die Kraft, sich noch einmal von der bequemen Couch hochzuquälen und die Fernbedienung vom Zweisitzer gegenüber zu holen. »Dann halt die Nachrichten …«

Er war gerade kurz davor, einzudösen, als ein Bericht seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er setzte sich kerzengerade auf.

»Heute Nacht zeigen wir Ihnen eine Live-Reportage von The Monster Bar in Village. Wie die meisten New Yorker wissen, hat sich in dem Nachtclub für Homosexuelle vor einigen Monaten eine schreckliche Szene abgespielt, bei der drei Menschen getötet und Dutzende weitere verletzt wurden. Mit der Unterstützung des örtlichen LGBT-Jugendzentrums New Horizons werden derzeit massive Aufräum- und Renovierungsarbeiten durchgeführt …«

David starrte entsetzt auf den Bildschirm. Auch wenn seine Erinnerungen in Bezug auf das Ereignis, das ihn ins Krankenhaus gebracht hatte, immer noch bestenfalls verschwommen waren, konnte er sich erinnern, in The Monster Bar gewesen zu sein. Um genau zu sein, war es sogar eines der letzten Dinge, an die er sich erinnern konnte.

War ich dort, als das passiert ist? Bin ich dabei verletzt worden?

David versuchte, sich mit aller Kraft zu erinnern, doch es half nichts. Da waren nur Fragmente, verschwommene Bilder in seinem Kopf. Er schloss die Augen und bemühte sich, eine der Erinnerungen zu packen und festzuhalten, selbst wenn es nur irgendein kurzer Eindruck war. Ein verrauschtes Bild tauchte vor seinem inneren Auge auf: Er war auf dem Gehsteig vor The Monster Bar, an seiner Seite Troy, sein Partner zu der Zeit. Sie hielten Händchen und lachten … David biss die Zähne zusammen, trommelte mit geballten Händen verzweifelt auf sein Knie. Wieder blitzte ein Bild vor ihm auf, doch die unsichtbare Macht, die seine Erinnerungen gestohlen hatte, entriss es ihm sofort wieder. Seit er aus dem Krankenhaus entlassen war, hatte er bereits drei Termine bei Tristan gehabt, doch er konnte das Wirrwarr der Bilder in seinem Kopf, die wenigen Dinge, an die er sich erinnerte, noch immer nicht ordnen. Er schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf den Fernseher, wo gerade das Foto eines schwarzen Mannes mit beeindruckend blauen Augen über den Bildschirm flackerte, der David irgendwie bekannt vorkam.

»… ein Barkeeper des Clubs, der bei dem Angriff des verrückten Amokläufers Dale Thompson ums Leben kam, zusammen mit …«

»Was ?«, schrie David und wollte aufspringen, vergaß dabei jedoch seinen Gips und fiel zurück auf die Couch. Er starrte auf den Bildschirm und das Foto seines Bruders starrte zurück. Seine kalten blauen Augen ließen einen Schauder über Davids Haut kriechen.

Dusty kam ins Zimmer gerannt, die Augen weit aufgerissen. Davids Schrei musste ihn aus dem Schlaf gerissen haben. »D, was ist los?« Er zuckte vor Dustys ausgestreckten Händen zurück.

»Ist das wahr?«, fragte er.

»Ist was wahr, D?«, beantwortete Dusty seine Frage mit einer Gegenfrage.

David zeigte mit einem zitternden Finger auf den Fernseher und nahm einen tiefen Atemzug, bevor er wieder fragte: »Ist das wahr?«

Die Verwirrung in Dustys Gesicht verwandelte sich rasch in Bedauern, während seine Augen schmerzerfüllt von dem Foto auf dem Bildschirm zurück zu David wanderten.

»Oh Gott«, brachte David hervor, die Augen voller Tränen und ein heißes Brennen in der Brust. Er konnte nicht mehr atmen. Er begann zu keuchen, doch er bekam keine Luft. In seinen Ohren begann es zu dröhnen. Er konnte hören, dass Dusty nach ihm rief, doch seine Stimme klang von weit her. Alles um ihn herum wurde schwarz und David trieb ziellos umher, ohne sagen zu können, für wie lange. Er versuchte, sich auf die schwache Stimme in seinem Kopf zu konzentrieren, die ihn anwies, sich zu beruhigen, langsam ein- und auszuatmen. Dann endlich gelang es ihm, durch den Nebel zu dringen und zu Dusty aufzusehen, dessen Gesicht vor Sorge verzerrt war. »Was …? Was ist passiert?« Davids Stimme brach. Wieso lag sein Kopf auf Dustys Schoß?

»Du hast hyperventiliert und das Bewusstsein verloren, also habe ich deinen Kopf auf meinen Schoß gelegt und deine Schläfen massiert, bis sich deine Atmung beruhigt hat.« Tränen schwammen in Dustys Augen, doch auch wenn es David wehtat, ihn so zu sehen, wollte er die Wahrheit wissen.

David hatte Fragen, die er nicht stellen konnte, wenn sein Kopf auf Dustys Schoß lag. Langsam setzte er sich auf und rückte ein Stück von ihm weg, bevor er wieder zu sprechen begann. »Wieso habt ihr mir nichts davon erzählt? Ihr alle, die Ärzte, die Schwestern und Tristan, ihr habt es alle gewusst, oder?«

Dusty hob die Hand und streckte sie nach ihm aus, hielt dann jedoch mitten in der Bewegung inne und ließ die Hand wieder sinken. Er ließ den Kopf hängen. »Es tut mir leid, David.«

»Was tut dir leid, Dusty? Dass du mich angelogen hast? Dass du mir das verheimlicht hast?«, brüllte David, bis ins Mark erschüttert. David konnte sehen, wie der Schmerz und die Unsicherheit, die er spürte, von Dusty zu ihm zurückgeworfen wurde, als er den Kopf hob und sich ihre Blicke trafen.

»Ich habe dich nie angelogen, D, kein einziges Mal. Ich wollte nie etwas anderes, als dich zu beschützen.«

David konnte spüren, dass Dusty die Wahrheit sagte, und obwohl er wütend war, dass Dusty ihn über all das im Dunkeln gelassen hatte, sehnte er sich nach der Wärme, die nur er ihm geben konnte. Wie üblich las sein Beschützer ihn wie ein offenes Buch. Dusty breitete die Arme aus, wartete, bis David näher an ihn herangerückt war, und umarmte ihn dann. »Dusty, bitte sag mir, was passiert ist.«

»Bist du dir sicher, dass du das willst, D? Ich glaube, wir sollten damit warten, bis wir bei Tristan sind.« Dustys Stimme klang ruhig, doch David entging nicht die Spur von Besorgnis, die darin mitschwang.

Er zog sich ein Stück zurück und sah zu Dusty auf. »Ich will es jetzt wissen, D. Und zwar alles.«

Wenn ein Stein erst einmal ins Rollen kam, war er so schnell nicht mehr aufzuhalten. Als Dusty zu sprechen begann, flossen die Worte geradezu aus ihm heraus. Mehr als einmal geriet er ins Stocken, als er über seine Freunde sprach, deren Leben nach der Tat seines Bruders nie wieder dieselben sein würden. Soweit David wusste, saß er gerade an genau der Stelle, wo auch der Mann namens Jon gesessen und seinen Partner Kory geküsst hatte, Dustys besten Freund und ehemaligen Mitbewohner. Jon war ein NYPD-Detective und gleichzeitig auch der Bruder von Davids Therapeut Tristan.

Wie kann es sein, dass Tristan mich nicht hasst? , fragte sich David im Stillen.

Tristan und Dusty waren die einzigen beiden Menschen in seinem Leben, bei denen er sich sicher war, dass er ihnen vertrauen konnte. Sie waren beide so gut zu ihm, obwohl sie wussten, dass sein Bruder für so viel Schmerz und Leid verantwortlich war. Und dann war da noch dieser Mann, dessen Foto kurz vor Dales über den Bildschirm geflackert war. Sein Name war Gio, er war Barkeeper in The Monster Bar gewesen, wo Dusty ihn wahrscheinlich auch kennengelernt hatte. Dieser Mann mit den Augen, die so blau waren, wie David es nie bei einem Menschen gesehen hatte, lag jetzt in einem Sarg, vergraben unter einem Berg aus Schmutz und Gras; ein weiteres sinnloses Opfer von Dale Thompson. Er war der Geliebte von einem von Dustys Freunden gewesen, einem Mann, der für Dusty so etwas wie ein Bruder war: Gabe. Und gerade, als David dachte, die Welt könnte nicht noch kleiner werden, erzählte Dusty von Tristans Verbindung zu Gabe und dass er mit ihm arbeitete, ganz genau so, wie er auch mit David arbeitete, um Gabe dabei zu helfen, den Verlust seines Partners zu verarbeiten und darüber hinwegzukommen.

David weinte in Dustys Armen, während Dusty ihm sanfte Worte zuflüsterte, um ihn zu beruhigen, die jedoch auf taube Ohren stießen. Wie konnte es sein, dass Dusty ihm nichts von alldem, was Dale getan hatte, zum Vorwurf machte? Mehr noch, wie sollte irgendeiner von Dustys Freunden jemals seine Freundschaft zu David akzeptieren? Sein Bruder, sein eigen Fleisch und Blut, hatte mit den Kugeln aus seiner Waffe so viele Leben zerstört. »Oh Gott, D, wieso hasst du mich nicht?«, flüsterte David, während neue Tränen in seinen Augen brannten. »Wie kann Tristan es ertragen, auch nur im selben Raum mit mir zu sein?«

Dusty lehnte sich zurück, hielt David an den Schultern fest und sah ihm in die Augen. »Nichts davon ist in irgendeiner Form deine Schuld, D. Du bist genauso ein Opfer wie jeder andere, der von deinem Bruder in dieser Nacht getötet oder verletzt worden ist.«

David hatte nur noch eine weitere Frage. Er war sich sicher, dass er die Antwort bereits kannte, aber er musste sie trotzdem stellen: »Er ist tot, oder?«

Er konnte spüren, wie Dustys Körper sich versteifte, hörte, wie er einen scharfen Atemzug nahm, bevor er antwortete: »Ja, D, er ist tot.«

Wut und Verwirrung strömten durch Davids Körper. Er war traurig, weil sein Bruder gestorben war, und das verwirrte ihn. Nach allem, was er heute erfahren hatte, wie konnte er den Verlust seines Bruders beklagen, der so viele Menschen verletzt und getötet hatte? Es war seine Trauer, die ihn wütend machte, wütend auf sich selbst. Er war gefährlich kurz davor gewesen, die Nummer eins auf der Liste von Dale Thompsons Opfern zu werden, und er sollte seinen Bruder für das, was er getan hatte, hassen, aber er konnte es nicht.

Er folgte Dusty, ohne darüber nachzudenken, ins Badezimmer und sah zu, wie Dusty eine Zahnbürste nahm, Zahnpasta darauf gab und sie ihm reichte. David putzte sich die Zähne, wusch sein Gesicht und folgte Dusty ins Schlafzimmer, kletterte auf das große, bequeme Bett und rollte sich an Dustys Seite ein. Er genoss die Wärme und Sicherheit, die ihm Dustys Arme gaben, sog sie in sich ein. Auch wenn er nicht begreifen konnte, wieso Dusty ihn immer noch beschützen wollte, nachdem er erfahren hatte, was sein Bruder getan hatte, gelang es ihm nicht, sich von ihm loszureißen. Da war ein bodenloses schwarzes Loch, das drohte, ihn zu verschlingen, und Dusty war der einzige Lichtpunkt, der durch die Dunkelheit schien. Er lag da und schniefte leise, bis sein Verstand sich schließlich abschaltete und er in den Schlaf glitt.

 

***

 

David und Troy kamen Hand in Hand aus The Monster Bar und gingen in Richtung Hauptstraße, um Ausschau nach einem Taxi zu halten. Keiner von ihnen schenkte dem Auto, das vor ihnen am Straßenrand hielt, viel Beachtung, bis der Fahrer heraussprang und begann sie zu anzuschreien.

»Du schwanzlutschendes Stück Scheiße, lass die Finger von meinem Bruder!«, brüllte Dale Thompson und stürmte auf Troy zu.

David wirbelte herum und stieß Troy zur Seite. »Geh nach Hause! Ich ruf dich morgen an.« David stürzte sich auf seinen vor Wut rasenden Bruder und stieß mit beiden Händen gegen seine Brust, um ihn zu schubsen, doch ohne Erfolg. »Kümmere dich um deinen eigenen Kram, Dale! Du kannst mir nicht vorschreiben, was ich zu tun habe!« Er schrie auf, als sein Bruder sich bückte und ihn sich über die Schulter warf.

Die Autotür wurde aufgerissen und David unsanft in den Wagen geworfen. Er drückte den Türgriff, zog und rüttelte daran und hob schließlich ein Bein, um einfach aus dem Wagen zu klettern, doch die massige Hand seines Bruders packte ihn am Shirt und riss ihn zurück.

»Verdammt, Dale!«, schrie er und wandte gerade noch rechtzeitig den Kopf, um eine große Faust auf sich zukommen zu sehen, bevor alles um ihn herum schwarz wurde.

Als er wieder zu sich kam, konnte er den Boden vor seinen Augen auf und ab wippen sehen und er realisierte, dass er wieder über Dales Schulter lag. Sein Schädel dröhnte und seine Sicht war verschwommen. Die Eingangstür wurde hinter ihnen ins Schloss geworfen und als Nächstes fand David sich mit dem Hintern auf dem harten Holzboden im Wohnzimmer wieder. Als er bemerkte, wie etwas Feuchtes über sein Gesicht tropfte, hob er die Hand und tastete danach. Es war Blut.

»Bist du verrückt, Dale? Ich blute; Mom wird verdammt wütend sein!«, brüllte er und versuchte, aufzustehen, doch sein Bruder drückte ihn mit aller Kraft zurück nach unten.

Dale kniete sich vor ihn hin, und obwohl David wusste, dass sein Bruder aufbrausend war, schließlich hatte er das oft genug am eigenen Leib zu spüren bekommen, war er nicht auf den schieren Hass vorbereitet, der sich in Dales blauen Augen spiegelte, die seinen eigenen so ähnlich waren. Er packte David am Kragen und schlug ihn mit dem Kopf gegen die Wand hinter ihm, sodass David Sterne sah.

»Mami ist aber nicht da, um dich zu beschützen, du Weichei. Sie kommt erst in ein paar Stunden. Du kannst also schreien und heulen, so viel zu willst, dieses Mal wird keiner kommen, um dir zu helfen, Schwuchtel!« Dann spuckte er David ins Gesicht, bevor er seinen Kopf noch einmal gegen die Wand schlug. Der Schmerz war so intensiv, dass David übel wurde und seine Sicht verschwamm. Sein Überlebensinstinkt übernahm die Kontrolle, doch das Einzige, was ihm in den Sinn kam, um sich zu retten, war, wegzukriechen, also versuchte er es.

»Komm zurück, du kleiner Wichser!«, schrie Dale, packte ihn an den Haaren und riss ihn hoch, bis seine Füße einige Zentimeter über dem Boden baumelten. Dales andere Hand presste sich gegen seine Kehle und er wurde mit dem Rücken gegen die Wand gedrückt.

Die Welt um ihn herum wurde unscharf und David konnte spüren, wie seine Lungen brannten. Dann erst traf ihn die Erkenntnis: Oh Gott, er wird mich umbringen.  

Dale schlug ihm mit der Faust in den Magen, bevor er ihn losließ. Sein Körper sackte zu Dales Füßen in sich zusammen. »Dale, bitte …«, brachte er hervor, doch statt zu antworten, trat Dale ihm in den Bauch. David rollte sich ein und schrie vor Schmerz, als Dales schwerer Stiefel auf sein Bein eintrat. Er konnte sehen, wie sein Bruder, der Mensch, der ihn beschützen sollte, statt ihm die Seele aus dem Leib zu prügeln, mit einem kalten Lächeln auf ihn herabsah, die Augen voller Hass.

»Was bitte, Davie? Ich werde dir schon beibringen, ein Mann zu sein, und wenn ich es in dich reinprügeln muss«, knurrte er, während er mit dem Fuß wieder und wieder auf Davids Bein stampfte.

David hatte sich so heiser geschrien, dass er nur noch weinen konnte, als er hörte, wie sein Bein unter Dales Gewicht brach. Er betete zu Gott, dass es endlich aufhören mochte.

»Awww, armer Schatz. Tut klein Davies Beinchen weh?«, verhöhnte Dale ihn, packte ihn am Shirt und schüttelte ihn.

David schloss die Augen und betete, dass Dale bald genug haben und ihn einfach in Ruhe lassen würde, doch er hatte nicht so viel Glück. Das Erste, was er sah, als er es wagte, die Augen wieder zu öffnen, war die Faust seines Bruders eine Sekunde, bevor sie mit der linken Seite seines Gesichts zusammenstieß. Der Schmerz war kaum zu ertragen, und als er versuchte, zu blinzeln, wollte ein Auge ihm nicht gehorchen. Alles um ihn herum war verschwommen.

Danach wechselte David immer wieder zwischen Bewusstlosigkeit und wachem Zustand. Er konnte nicht sagen, welche Verletzungen er anschließend noch davongetragen hatte oder wie lange es noch so weitergegangen war. Das Einzige, was er wusste, war, dass ihm alles wehtat und niemand da war, der seinen Bruder davon abhalten konnte, ihn zu töten. David lag auf dem Boden und kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit an. Wenn er jetzt die Augen schloss, würde er sie vielleicht nie wieder öffnen. Er sah zu, wie die Stiefel seines Bruders, die ihn zu Brei zertreten hatten und über ihn gestampft waren, durch die Haustür verschwanden. Dann wurde es wieder schwarz um ihn.

 

***

 

David trat um sich, schrie und fuchtelte wild mit den Armen. Er musste sich losreißen, bevor Dale ihn umbrachte. Die Hände, die seine Schultern hielten, machten ihm Angst. Sein Unterbewusstsein ging automatisch davon aus, dass es Dale war, der ihn festhielt, doch gleichzeitig hatten diese Hände auch etwas Sanftes und Vertrautes an sich, das David irritierte.

»David, wach auf, D, bitte! Ich bin’s, Dusty.«

Davids Augenlider flatterten. Er öffnete die Augen gerade weit genug, um ein vertrautes, besorgtes, freundliches Gesicht über ihm zu sehen, das nicht seinem Bruder gehörte. »Dusty?« Es schmerzte, zu sprechen, und seine Sicht war verschwommen. In Davids Kopf sprang ein Schalter um und er begann wieder, zu treten und um sich zu schlagen. Er hatte Angst, dass sein Verstand ihm einen Streich spielte und es doch Dale war, der ihn festhielt, um ihn wieder zu verletzen. »Geh runter von mir!«, schrie er so laut es seine kratzige Stimme zuließ.

»David, stopp. Ich bin’s.« Dustys Stimme hüllte ihn mit ihrer Wärme ein, als wäre sie die Ruhe inmitten eines Sturms. Er brüllte nicht oder schrie, er flüsterte sanft in Davids Ohr.

Sein Körper erschauderte und er sackte in sich zusammen, während er blinzelte und versuchte, das Gesicht über ihm zu fokussieren. »Dusty?«, flüsterte er und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. »Ich weiß nicht mehr, was echt ist und was nicht«, schluchzte er.

»Oh, Gott sei Dank«, ächzte Dusty, und ehe David begreifen konnte, was passiert war, fand er sich auf Dustys Schoß wieder, seine starken Arme um ihn geschlungen. »Es war ein Albtraum, D, nur ein Traum«, versuchte er, ihn zu beruhigen, doch David wusste, dass es alles andere als ein Traum gewesen war. Sein eigener Bruder hatte versucht, ihn umzubringen. Er würde es nicht schaffen, seine Tränen zurückzuhalten, also versuchte er es gar nicht erst. »Lass alles raus, D. Lass einfach los.«

Dustys Stimme hüllte ihn ein wie eine warme Decke, doch die Phantomschmerzen des Albtraums und die Erinnerungen an das, was geschehen war, taten noch immer weh und er hatte das Gefühl, in seiner Erschöpfung und Angst zu ertrinken.

Irgendwo am Rande seiner Wahrnehmung bemerkte er, wie sein Körper hochgehoben wurde. Starke Arme hielten ihn fest und eine Hand strich zärtlich über seinen Kopf, gefolgt von warmen Lippen, die sich gegen seine Wange drückten. Die sanfte Berührung von Dustys Hand gab ihm ein Gefühl von Sicherheit, während er langsam zurück in den Schlaf sank. Von irgendwo weit her drang eine Stimme zu ihm.

»Ja, Tris, hier ist Dusty. Beweg sofort deinen Hintern hierher.«

Er wurde auf etwas Weiches gelegt und spürte eine Decke, die über ihn gezogen wurde. Dann endlich umfing ihn herrliche Stille.