Labil
Gedämpfte Stimmen rissen David aus seinem friedlichen Schlummer. Auch wenn er sich ziemlich sicher war, dass sie Dusty und seinem Vater gehörten, griff er mit der Hand nach hinten und tastete über das leere Bett, um sich zu vergewissern. Er rollte sich auf den Rücken, streckte sich und grinste die Decke an. Gestern Nacht war einfach unglaublich gewesen. Obwohl er jetzt mit Sicherheit sagen konnte, dass er durch und durch ein Bottom war, hatte es sich fantastisch angefühlt, Dusty zu toppen, statt von ihm getoppt zu werden. Dusty hatte ihm damit ein wertvolles Geschenk gemacht: Er hatte ihm gezeigt, dass er David blind vertraute, auch wenn es um seinen Körper ging. Vielleicht liebte David ihn jetzt sogar noch ein bisschen mehr.
Die Tür öffnete sich mit einem Knarren und Dusty kam mit zwei Bechern Kaffee ins Schlafzimmer. »Guten Morgen, Babe, hast du gut geschlafen?« Er reichte David einen der Becher, setzte sich auf die Bettkante und zischte, als sein Hintern die Matratze berührte.
»Oh Gott, D, hab ich dir wehgetan?« David geriet in Panik. Zu wissen, dass Dusty ihm sein Vertrauen geschenkt hatte, nur um dann am nächsten Tag Schmerzen zu haben, bestärkte ihn in seiner Erkenntnis, dass er kein guter Top war und es auch nie sein würde.
Dusty legte ihm behutsam eine Hand auf die Schulter, um ihn daran zu hindern, aus dem Bett zu steigen. »Warte, du hast mir nicht wehgetan. Gestern Nacht war verdammt großartig. Erinnerst du dich daran, wie wir es das erste Mal getan haben? Dein Hintern hat am nächsten Tag auch wehgetan, oder?«
David dachte eine Sekunde lang darüber nach. Es stimmte, sein Hintern hatte am nächsten Morgen wehgetan, das ganze Wochenende über, um genau zu sein, denn er und Dusty waren überhaupt nicht aus dem Bett aufgestanden. Er nickte und konnte spüren, wie sein Gesicht langsam heiß wurde.
Dusty knurrte, beugte sich zu ihm, drängte ihn mit dem Rücken gegen das Kopfende des Bettes und nahm ihm mit einem ungestümen Kuss den Atem. »Wenn du so rot wirst, D, will ich dich in die Matratze drücken und ficken, bis du schreist.«
»Oh Gott, ja, bitte tu das.« David packte Dusty mit beiden Händen am Shirt und küsste ihn mit allem, was er hatte.
»D, du musst heute zur Uni, dafür haben wir jetzt keine Zeit.« Dusty versuchte, sich von ihm zu lösen.
»Scheiß auf die Uni«, knurrte David, biss Dusty auf die Lippe und schob seine Zunge in seinen Mund, sobald er ihn öffnete. Es sah so aus, als hätte er erreicht, was er wollte, als Dusty auf das Bett kletterte und seinen Körper nach unten in die Matratze drückte. Er ließ kurz von Dustys Mund ab, um einen dringend benötigten Atemzug zu nehmen. Ihm gefiel der kleine Stoppelbart, der sich um Dustys Lippen herum ausgebreitet hatte.
Oh Gott, ihm steht dieser Look. Vielleicht sollte er aufhören, sich zu rasieren.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie auseinanderspringen wie Teenager, die dabei erwischt worden waren, wie sie es auf der Couch im Wohnzimmer trieben.
»Raus aus den Federn, Jungs!«, rief Dean durch die geschlossene Tür.
»Wir hätten ihn in ein Hotel abschieben sollen«, sagte Dusty trocken und brachte David damit zum Lachen.
David zog einen Schmollmund, während er dabei zusah, wie Dusty aus dem Bett stieg, und grinste schelmisch, als Dusty die deutlich sichtbare Erhebung in seiner Jeans zurechtrücken musste.
»Komm, D, zieh dich an, bevor Dad hier reinplatzt und einen von uns wortwörtlich mit heruntergelassener Hose erwischt.« Dusty streckte ihm die Hand hin, um ihm aufzuhelfen, und tätschelte spielerisch Davids Hintern, sobald er auf den Beinen war. »Erster Punkt auf der Liste für heute: Im Baumarkt einen Türknauf mit Schloss kaufen«, murmelte Dusty, ehe er aus dem Zimmer ging.
Als David geduscht war, sich angezogen und seinen Rucksack gepackt hatte, war es schon an der Zeit, zu gehen. Er schnappte sich eine Banane und einen Müsliriegel, stahl sich einen Kuss von Dustys Lippen, winkte Dean zum Abschied und ging aus der Tür. Er war stolz, was für Fortschritte er im letzten Jahr gemacht hatte. Er hatte sich von einem verschreckten, unbeholfenen und schüchternen Jungen zu einem jungen Mann entwickelt, der die U-Bahn zur Uni nehmen konnte, ohne eine Panikattacke zu bekommen. Die Therapiesitzungen mit Tristan hatten eine Menge dazu beigetragen, aber vor allem wollte er sein Leben selbst in die Hand nehmen, statt sich nur verängstigt in ihrem Apartment zu verstecken.
David hatte einen großartigen Tag; er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so glücklich und zufrieden gewesen war. Dustys Liebe und seine fortwährende Unterstützung gaben David die Kraft, sich nach draußen zu wagen, und den Mut, sein Leben zu genießen. Am Ende des Semesters hatte er ein großes Projekt vor sich, also blieb er länger, um noch ein wenig in der Bibliothek zu recherchieren und Entwürfe anzufertigen. Ihm wurde erst bewusst, wie spät es war, als Dusty ihm eine Textnachricht schrieb und ihn fragte, wie lange er noch bleiben würde.
D: Hey, Babe, bist du immer noch auf dem Campus?
David: Ja. Ich packe gerade zusammen und mache mich gleich auf den Weg.
D: Ok. Bis gleich. Liebe dich <3
David: Liebe dich auch!!
David startete seine Lieblingsplaylist, trat aus dem Gebäude und zog sich die Kapuze seiner Jacke über den Kopf, um sich warmzuhalten. Die Sonne ging bereits unter und die kühle Luft ließ ihn frösteln. Als er sich später versuchte, an diesen Moment zu erinnern, war vielleicht die Kapuze daran schuld gewesen, dass er nicht sah, dass jemand auf ihn zurannte, ihn hart zur Seite stieß und aus der Balance brachte. Allerdings hatte er auch auf der linken Seite sein Augenlicht verloren, also hätte er den Mann vermutlich ohnehin nicht auf sich zukommen sehen. Die Kraft des Aufpralls ließ David zu Boden stürzen. Er landete hart auf seinem rechten Arm und der scharfe Schmerz, der sich von seinem Ellbogen bis hinauf in seine Schulter zog, ließ ihn aufschreien. Alles geschah so schnell und dass er, ohne den Kopf zu drehen, nichts sehen konnte, war auch keine Hilfe. Er stemmte sich hoch in eine sitzende Position und schluckte die bittere Galle herunter, die der scharfe Schmerz in seinem Arm in seiner Kehle aufsteigen ließ. Wahrscheinlich hatte er sich etwas gebrochen.
Schwankend, verunsichert und extrem unkoordiniert erfasste sein Blick seinen iPod, der auf dem Boden lag. Er streckte die Hand danach aus und kroch zurück wie ein Tier im Käfig, als ein Stiefel in sein Sichtfeld kam und das Gerät unter seiner Sohle zertrat. Adrenalin pumpte durch seine Adern und sein Herz begann zu rasen. Ein vertrautes Geräusch klang in seinen Ohren, brachte ihn noch einmal zurück zu dem Tag, an dem sein Bruder ihn angegriffen, ihn beinahe umgebracht hatte. Sein Blick folgte den Beinen vor seinem Gesicht nach oben. Sein Atem stockte, als er in Dales hasserfüllte Augen sah.
Er kniff die Augen zusammen und begann vor sich hinzumurmeln, dieselben Worte, immer und immer wieder. »Du bist nicht echt … Du bist nicht echt … Du bist nicht echt.« Ein rationaler Gedanke blitzte in seinem Hinterkopf auf. Er hatte sein Handy in der Jackentasche. Mit zitternden Fingern griff er hinein, ertastete eine der Ecken und schloss die Hand um das Gerät, doch der falsche Dale packte ihn an der Jacke und riss ihn nach oben. Das Handy fiel zu Boden.
»Ich weiß, wer du bist, du krankes Stück Scheiße!«, schrie der falsche Dale ihn an.
Mit einem Klingeln in den Ohren, verschwommener Sicht und so heftig schlagendem Herzen, dass es ihm beinahe aus der Brust sprang, tat David das Einzige, das ihm einfiel: Laut schreien. Und es funktionierte, nahm er an, denn er landete wieder mit dem Hintern auf dem Boden. Die Welt um ihn herum begann sich zu drehen. Er konnte nicht atmen. Der Boden unter ihm schien sich zu öffnen, drohte, ihn zu verschlingen. Eine Hand landete auf seiner Schulter und er begann wieder zu schreien, rutschte rückwärts, um zu entkommen, doch ein scharfer Schmerz explodierte in seinem Hinterkopf und alles wurde unscharf.
Kurz bevor er das Bewusstsein verlor, konnte er eine vertraute Stimme hören, die versuchte, den Nebel zu vertreiben, doch es gelang ihr nicht. Und so vertraut die Stimme auch sein mochte, er wusste, sie gehörte nicht Dusty. Also ignorierte er sie und ließ sich in die Dunkelheit sinken, die ihn mit sich nach unten zog.
***
Eine Stimme klang von weit her. Sie rief seinen Namen, flehte ihn an, etwas zu sagen, doch David wollte nicht. Er wollte sich einfach wieder zurück in diese glückselige Dunkelheit sinken lassen. Sein Schädel pochte, sein Arm sandte einen scharfen, stechenden Schmerz durch seinen Körper. Doch dann breitete sich die einzige Stimme, die ihm etwas bedeutete, wie eine warme, flauschige Decke über ihm aus und David öffnete flatternd die Augen.
Dustys tränenverschmiertes Gesicht sah auf ihn herab. »Oh Gott, D, du hast mich zu Tode erschreckt«, flüsterte Dusty, beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Stirn.
»Würden Sie bitte zur Seite treten? Wir müssen ihn in den Krankenwagen bringen«, sagte eine fremde, emotionslose Stimme, aber David wollte nicht. Er versuchte, sich aufzusetzen, doch Dusty drückte ihn sanft zurück auf die Matratze.
Moment, Matratze ?
»Babe, bitte bleib liegen. Es ist alles in Ordnung, ich bleibe bei dir, ich muss nur kurz zur Seite gehen, damit sie dich in den Krankenwagen bringen können«, versprach Dusty.
»Bitte, Sir, Sie können nicht …«, begann die emotionslose Stimme, doch Dusty unterbrach sie.
»Wagen Sie es nicht, mich aufzuhalten!«, fuhr er den Mann mit der emotionslosen Stimme an. Er stieg in den Krankenwagen, kauerte sich an Davids Seite und griff nach seiner Hand. »Ich bin hier, D, ich bin hier«, wisperte er ihm zu. Frische Tränen schimmerten in seinen wunderschönen braunen Augen.
»Dein Vater und ich treffen dich dann später im Krankenhaus, Dusty.« Die vertraute Stimme von vorhin rief Dusty zu und David versuchte, sie einzuordnen, doch der scharfe Einstich einer Nadel rief ihn in das verheißungsvolle Nichts zurück, nach dem sich David so sehnte, also ließ er los und trieb davon.