Mackenzie erkannte, dass jede Hinterstraße in und um Kingsville ziemlich gleich aussah; sie waren nichts weiter als gewundene Strecken von Asphalt, die sich durch das Land schlängelten. Sie waren fast gleich mit der Ausnahme eines Bruchs in den Bäumen die Felder oder kleine Landstreifen preis gaben, auf denen sich Häuser befanden. Neben Tate auf dem Beifahrersitz fühlte sie sich schon fast, wie in einer merkwürdigen Achterbahn die sie über Senkungen und Steigungen zu unbekannten Orten führte.
Jimmy Gibbons lebte an einer langen Schotterstraße, wo ein paar weitere Häuser an der Straße standen. Das gesamte Land dort sah aus wie ein Wohnwagenpark, nur mit weniger schöneren Häusern, anstelle von Wohnwagen. Schräge Verandas, Dächer, die dringend eine Reparatur benötigten, alte Klimaanlagen hingen aus schäbigen Fenstern und tropften Wasserlachen auf den Rasen. Tate fuhr in eine kleine dreckige Einfahrt vor einem dieser Häuser. Ein weiteres Auto folgte hinter ihnen, in dem Andrews und Roberts saßen.
„Sein Vorgesetzter sagte, er hat drei Mal versucht anzurufen und Jimmy geht nie ran“, sagte Tate. „Ich wette, er ist nicht da.“
“Wenn man bedenkt, was mir passiert ist und die Umstände, auf die Sie bereits hingewiesen haben, dann haben wir die Vollmacht auch so reinzugehen.“
„Haben Sie schon einmal eine Tür eingetreten?“, fragte Tate ein wenig sarkastisch.
„Ja tatsächlich. Eigentlich schon öfter, als ich zugeben will.“
Er parkte das Auto und sie stiegen aus. Der Morgen war still mit Ausnahme eines Hundes. der wütend irgendwo weiter unten an der Straße bellte.
Sie warteten auf Roberts und Andrews und näherten sich dann der schäbigen Vorderveranda zu viert in einer einzelnen Reihe.
Mackenzie bedeutete Tate, die Führung zu übernehmen und wollte ihm die volle Autorität in seinem eigenen Gebiet geben. Er verschwendete keine Zeit, klopfte fest an die Tür und rief sofort. „Jimmy! Jimmy Gibbons! Machen Sie auf!”
Die Veranda war ruhig. Sogar der bellende Hund in der Entfernung wurde ruhig. Mackenzie war schon oft genug in so einer Situation gewesen, um zu wissen, dass niemand zu Hause war. Tate sah sie an und sie nickte.
„Sie haben fünf Sekunden“, schrie Tate, „oder wir kommen hinein.“
Während Tate sich nicht scherte laut zu zählen, wartete er dennoch volle fünf Sekunden, ehe er seine Schulter an die Tür warf. Er prallte zurück, obwohl sie bereits im Rahmen wackelte. Frustriert zog er seinen Fuß an und lieferte einen starken Tritt. Er schwankte ein wenig, als die Tür aufging und der Rahmen, der sie hielt, dabei knackte.
Während Tate sich noch sammelte, trat Mackenzie hinein. Sie zog ihre Glock nicht ganz heraus, aber ihre rechte Hand glitt gewohnheitsgemäß dort hin und blieb dort. Drinnen fanden sie ein zu Hause vor, was nicht gerade im Zustand der Vernachlässigung war, aber eins, das lange keine Pflege mehr gehabt hatte. Der Ort roch nach Staub und altem Essen. Das Wohnzimmer, was das erste Zimmer von der Vordertür aus gesehen war, war mit einem alten fleckigen Teppich, einem Fernsehsessel, einer einzelnen Lampe und einem Fernseher ausgestattet. DVDs lagen hier und da zerstreut, sowie ein wenig Zeitungen und Magazine.
Langsam stellte sich Tate hinter ihr. Andrews und Robert folgten, flankierten ihn und verschwanden dann wo anders im Haus. Mackenzie schaute sich eine Weile im Wohnzimmer um, aber fand nichts interessantes – auf jeden Fall nichts, was auf drei Morde von Gibbons hinweisen würde.
Sie ging in den kleinen Flur am Wohnzimmer, der zu einem der zwei Schlafzimmer des Hauses führte. Andrews war bereits dort und blätterte durch ein paar Stapel Papiere, die sich auf einem alten Eichentisch an einer Wand befanden.
„Irgendwas gefunden?“, fragte Mackenzie.
„Nur ein paar verwirrte Zeichnungen. Er scheint künstlerisch sehr begabt zu sein. Nur … naja ein wenig wirr im Kopf.“
Mackenzie schaute sich die Papierstapel an und sah, was er meinte. Es gab Profile von Gesichtern, die anscheinend in den Kopf geschossen worden waren, Teile der Augenbraue und der Stirn fehlten. Es gab Grafitskizzen der Körper am Boden, jede Menge Blei um sie herum. Mackenzie fragte sich, ob diese Zeichnungen die imaginären Ergebnisse der Menschen waren, die von hohen Orten fielen. Sie breitete sie auf dem Tisch aus. Insgesamt waren es elf und sie machte ein paar Fotos von jedem mit ihrem Handy.
Außer den verteilten Blättern auf dem Tisch war das Zimmer ordentlich. Das Bett war gemacht und an den Wänden gab es keine einzigen Bilder. Ein einzelner Kleiderschrank stand an derselben Wand wie der Tisch. Mackenzie schaute sich den Schrank an und fand nur Kleider (inklusive vieler schwarze Kapuzenpullis, wie Tate gesagt hatte) und in einer der oberen Schubladen einen USB Stick.
Sie nahm ihn heraus und zeigte ihn Andrews. „Glauben Sie, es gibt hier irgendwo einen Laptop?“
„Eher nicht“, sagte er. „Wenn, dann hätte er das verdammte Ding verkaufen und ein besseres Haus kaufen sollen. Ein Laptop ist mehr wert als diese Bruchbude.“
Sie ignorierte Andrews Verhalten hinsichtlich des Hauses und steckte den USB-Stick ein und machte sich auf, den Rest des Hauses zu überprüfen. Sie ging ins Badezimmer und suchte nach Hinweisen auf Medikamente. Es gab keinen Medizinschrank, nur eine kleine Plastiktüte, die ins Hintere des kleinen Wäscheschranks geschoben war. Es war nichts darin, außer gewöhnliche Medikamente und Pflaster.
Auch wenn Tate und seine Männer eine sorgfältige Überprüfung des Hauses durchführten, folgte Mackenzie ihnen. Die Küche war spärlich. Es gab nicht einmal einen Tisch darin auch nicht in dem kleinen Essbereich, der sich nebenan befand. Der Kühlschrank war voll mit Bier, Milch, ein wenig Käse und einer teilweise geöffneten Dose Bologna.
Im anderen kleineren Schlafzimmer sah sie das einzige Bild im Haus. Es war ein Foto eines Paares, Hand in Hand liefen sie über einen Pier. Das Foto war ein wenig älter und die Kleidung des Paares ließ Mackenzie annehmen, dass es irgendwann in den frühen Achtzigern aufgenommen worden sein musste.
Während sie darauf schaute, kam Tate herein. „Da ist das einzige Bild im Haus“, sagte er. „Merkwürdig, oder?“
„Ein wenig“, antwortete sie. „Hängt von seiner Persönlichkeit ab, nehme ich an. Irgendeine Idee, wer die sind?“
Tate zuckte die Achseln. „Ich bin erst seit zwölf Jahren in der Stadt. Ich bin keiner dieser Kleinstadt Sheriffs, der die Geschichte und jeden Familienbaum der Stadt kennt. Wenn ich wetten müsste, würde ich annehmen, es sind Jimmys Eltern.“
“Ich würde dasselbe annehmen”, sagte sie. „Wissen Sie irgendetwas über sie?“
Er schüttelte seinen Kopf. „Nichts. Ich kann die Station anrufen und jemanden beauftragen, sich das anzusehen. Wenn Sie glauben, das ist nötig. Vielleicht wissen Andrews oder Robert auch etwas.“
“Keine schlechte Idee”, sagte sie. „Wir müssen etwas über ihn herausfinden, außer das er Linkshänder ist und seit einer Woche nicht mehr auf der Arbeit war.“
„Haben Sie die Bilder im Schlafzimmer gesehen?“, fragte Tate.
Sie nickte und zeigte ihm dann den Stick. „Das habe ich auch gefunden. Ich habe keinen Laptop in Ihrem Auto gesehen. Habe ich das übersehen?“
“Nein … kein Laptop. Nur ein Tablet.”
„Ich möchte gerne so schnell wie möglich sehen, was darauf ist“, sagte sie.
„Sobald wir hier fertig sind, können wir zurück zur Station gehen und Ihnen einen Laptop beschaffen. In der Zwischenzeit kann ich ein wenig Informationen über Jimmys Eltern und andere Sachen in seiner Vergangenheit suchen, soviel ich finden kann.“
„Ich denke, dass reicht“, sagte sie. „Ich habe das Gefühl, das er sowieso nie viel Zeit hier verbracht hat.“
Sie war sich nicht sicher, ob das für den Fall relevant war oder nicht. Es fühlte sich wie ein Ort an, den jemand einfach nur zum Schlafen und für nichts anderes benutzte. Sie stellte sich Jimmy Gibbons im Wald vor, vielleicht studierte er die Miller Moon Brücke und den Wasserturm. Vielleicht schaute er sie sich mit dem gleichen Wahrnehmungsvermögen an, wie jemand, der in den Nachthimmel schaute. Oder vielleicht sah er sie als etwas anderes.
Und damit blickte sie wieder auf das Foto des Paares an der Wand. Es schien merkwürdig in der Abwesenheit von allem anderen innerhalb des Hauses. Als sie sich zum Gehen wandte, fühlte sie sich, als wenn die Menschen auf dem Bild ihr beim Gehen zusahen, ihre Augen ruhten auf ihr, als wenn sie ihr irgendetwas sagen wollten.
***
Zu seinem Wort stehend hatte Tate Mackenzie einen Laptop beschafft, sobald sie zehn Minuten später an der Station ankamen. Er hatte ihn in seinem eigenen Büro aufgestellt und sich und Mackenzie alleine in dem Büro verschanzt. Es schien ein wenig Eifersucht unter Andrews und Roberts zu geben, was Tate allerdings überhaupt nichts auszumachen schien. Mackenzie erkannte, dass je mehr sie den Sheriff auf der Arbeit sah, sie ihn umso mehr zu schätzen wusste.
Sie steckte den USB-Stick in den Computer und rief das Dateienverzeichnis auf. Sie fühlte einen kranken Schrecken in ihrem Magen, als sie das Verzeichnis sah. Es gab zahlreiche JPEG Icons, insgesamt einhundert davon. Anscheinend fühlte Tate dasselbe bei dem Anblick der vielen Reihen von JPEGs.
„Mist“, sagte er. „Das ist nicht so gut, oder?“
Sie versuchte gar nicht erst, die Dinge für ihn zu verschönern. Sicherlich gab es immer die Chance, dass die Bilder nichts als Porno waren. Aber bis jetzt ließ der Fall annehmen, dass so etwas Unschuldiges, es nicht wert war, versteckt zu werden. Nein, sie erwartete Schlimmeres.
Sie klickte auf das erste Bild und ihre Ahnung erwies sich als korrekt.
Das erste Bild zeigte eine Person, die mit dem Gesicht auf dem Boden lag. Es gab Blut, Teile des Schädels und geronnenes Blut und anderes dunkles Material, das überall um die Leiche herum verstreut lag. Das linke Knie war zurückgebogen, der rechte Fuß zertrümmert. Obwohl sie nicht ganz sicher sein konnte, war sie sich ziemlich sicher, dass dies ein Körper war, der aus einer hohen Höhe gefallen war.
Das zweite Bild war ziemlich ähnlich. Dieses Mal lag der Körper jedoch auf der Seite. Die untere Hälfte des Gesichts war im Wesentlichen pulverisiert worden. Das Opfer schien eine asiatische Frau zu sein, relativ jung.
„Meine Güte“, sagte Tate hinter ihr.
Mackenzie wusste, was die anderen Bilder beinhalteten, aber sie musste ihren Job tun. Sie musste so gründlich wie möglich sein.
Nach mehreren Bildern änderten sich die Bedeutungen des Todes. Die ersten Dutzend oder so sahen aus wie Selbstmorde durch springen. Sie schloss den Gedanken aus, dass sie alle Jimmy Gibbons Opfer waren, nachdem sie die ersten fünf Bilder durchgesehen hatte. Die Hintergründe einiger Bilder zeigten völlig unterschiedliche Städte. Eines war irgendwo in Japan, während ein anderes aussah wie irgendwo in New York, wenn die Beschilderung im Hintergrund als Hinweis diente.
Nach den Springern sah sie Bilder von anderen Selbstmördern. Waffen, die Köpfe zerstört hatten, einige davon mit mächtigen Waffen. Aufgeschnittene Handgelenke in einer Badenwanne. Sie sah eins, was aussah, als wenn ein Mann versucht hatte, sich selbst mit einer Handkreissäge zu enthaupten.
„Dieser Typ ist ein Irrer“, sagte Tate. „Wie zum Teufel hat er diese Bilder gemacht?“
„Sie wären überrascht, wie einfach es ist, solche Dinge online zu finden“, erwiderte Mackenzie. „Ein paar von ihnen sind ziemlich eindeutig Tatortfotos – wahrscheinlich irgendwie aus Akten entnommen.“
„Aber wieso?“, fragte Tate. Er schaute nicht mehr auf die Bilder. Stattdessen schaute er die Tür an, als wenn er es nicht erwarten könne, vom Laptop wegzukommen.
“Kann viele Gründe haben”, meinte sie. „Aber basierend auf diesen Bildern, bekomme ich glaube ich eine bessere Idee davon, mit welcher Art Person wir es hier zu tun haben. Und ehrlich. Ich weiß nicht, ob irgendeine Art Angst oder Bewunderung für Höhe damit noch was zu tun hat. Ich denke, es geht eher um Kontrolle und irgendeine kranke Faszination der Zerstörung dieser Opfer. Er versucht so gut er kann, Chaos anzurichten.“
„Was sollen wir jetzt daraus machen?“, fragte er.
Das war eine gute Frage, eine auf die sie sich genug konzentriert hatte, um die viszeralen und morbiden Bilder auszuschließen. „Aus irgendeinem Grund geht es um Blut für ihn“, meinte sie. „Schockwert. All diese Bilder … die Körper sind in einem schrecklichen Zustand. Ich glaube, dass die meisten davon entweder Selbstmord oder absichtliche Gewalttaten waren. Aber es gab kein einzelnes Foto davon, wie jemand in einer Schlinge baumelt oder tot in seinem Auto liegt, weil er von den Abgasen erstickt ist.“
“Er tötet also nicht nur diese Menschen, er versucht auch noch Chaos dabei anzurichten”, stellte Tate fest.
„Ja, so sieht es aus.“
„Wie zum Teufel sollen wir jetzt wissen, wer das nächste Opfer ist?“, fragte Tate. „Oder wo er das nächste Mal zuschlagen wird?“
Noch ehe Mackenzie antworten konnte, klopfte es an der Tür. Andrews öffnete sie und steckte seinen Kopf hinein. „Wir haben Ergebnisse für die Eltern von Jimmy Gibbons. Und die sind richtig interessant.“
“Schieß los”, sagte Tate. “Mach uns nicht neugierig. Wir haben keine Zeit für den Scheiß!”
„Brian und Beth Gibbons – sind beide bei einem tragischen Autounfall gestorben. Sie haben eine kleine Landbrücke irgendwo im südlichen Teil des Staates überquert. Es war eisig und sie sind geschlittert. Die Grenze entlang der Brücke war alt und baufällig und das Auto ist hinübergefallen.Sie sind zwanzig Meter gefallen, direkt ins Wasser. Die Mutter ist im Wasser gestorben und der Mann im Krankenwagen.“
“Und wo war Jimmy Gibbons als all das passiert ist?”
„Auf dem Rücksitz. Er war drei Jahre alt und saß in einem Kindersitz. So wie die Berichte aussagen, ist seine Mutter gestorben, weil sie ihn gerettet hat. Der Vater hat versucht beide in Sicherheit zu bringen. Jimmys Lage war prekär und er hatte eine Minute ziemlich viel Wasser in der Lunge, aber er ist durchgekommen.“
„Sie sagen mir also“, sagte Mackenzie, „das wir einen Mörder haben, der Menschen aus großen Höhen herunterwirft und dessen Eltern gestorben sind, weil sie aus einer großen Höhe heruntergefallen sind?“
„Sieht so aus“, sagte Andrews.
Mackenzie dachte nach und egal, in welche Richtung ihre Gedanken zu gehen versuchten, die einfachste Lösung schien die logischste.
„Sheriff, ich habe bemerkt, dass Sie hier ein kleines Team haben, aber ich denke, wir müssen alles was höher als 15 m in dieser Stadt ist, heraussuchen.“
“Naja, da gibt es nicht viel. Es gibt das alte Weldon Drogerie Gebäude und die Glory Baptist Kirche. Der Uhrenturm ist fast 23 m hoch, glaube ich. Und es gibt eine Menge alter Getreidesilos, aber die sind alle außer Betrieb und ich glaube nicht, dass man da überhaupt noch hochkommt.“
Beginnen wir mit der Drogerie und der Kirche“, sagte sie. „Wenn Sie die Staatsmänner dazurufen müssen, dann rufen Sie sie an.“
“Glauben Sie er macht es wieder?”, fragte Tate.
„Das glaube ich“, sagte sie und zog den USB-Stick aus dem Laptop, die Bilder hingen ihr immer noch in den Gedanken. „Und ich glaube, er wird es eher früher als später tun.“