Während Tate damit beschäftigt war, seine kleine Mannschaft zusammenzurufen, fuhr Mackenzie zurück zum Motel, um sich mit Ellington zu treffen. Als sie das Zimmer betrat, fand sie ihn eifrig hinter dem Laptop sitzend und die Datenbank des FBI‘s durchsuchend, so wie sie ihn gebeten hatte. Er sah müde und frustriert aus und das sagte ihr mit einem Wort, wie die Suche verlief.
„Nichts, nehme ich an?“, fragte sie.
„Es gibt einiges, eigentlich“, erwiderte er. „Aber um das durchzufiltern, bräuchte man ein Team. Und das wäre ein langer und zermürbender Vorgang. Wie geht es dir? Irgendwelche Fortschritte?”
“Es sieht aus, als wenn wir einen sehr soliden Hinweis haben”, sagte sie. “Jetzt geht es nur noch darum, ihn zu finden. Es scheint als hätte er in den letzten Tagen sein zu Hause aufgegeben.”
„Irgendwelche möglichen Orte für sein nächstes Opfer?“, fragte Ellington.
“Nur ein paar”, erwiderte sie. „Wir schauen uns das gerade an.“
„Kann ich noch irgendetwas tun, außer hinter dem PC zu sitzen?“
„Nein, ich möchte nicht, dass du noch mehr Ärger bekommst. Auch wenn McGrath weiß, dass du hierherkommen würdest, musst du vorsichtig sein. Diese Anschuldigung wird sich schon bald in Luft auflösen, aber du wirst in direktem Widerstand gegen eine Suspension nicht so einfach davonkommen.“
„Ich weiß“, sagte er mit einem Seufzen.
„Schau … ich werde dir ein paar Fotos schicken, die ich vom Haus des Verdächtigen gemacht habe. Analysiere sie. Prüfe sie auf Teufel komm raus. Lass mich wissen, wenn du irgendetwas findest – irgendwas – dass uns vielleicht Hinweise auf Muster oder Motive, die er vielleicht hat, geben kann. Ich hatte noch keine Zeit sie mir anzusehen.“
“Okay, das kann ich machen. Aber hör mal … ich weiß nicht, ob es sich lohnt, hier noch länger herumzuhängen. Ich bin gestern Nacht aus dem Beschützerinstinkt heraus hier hergekommen. Und da du mir immer noch nicht meine Frage beantwortet hast, die ich dir gestern Nacht gestellt habe …“
„Habe ich nicht, oder?“, sagte sie spielerisch.
„Nein, hast du nicht.“
Sie nickte einfach, küsste ihn auf den Mundwinkel und ging zur Tür. „Ich schicke dir die Bilder in den nächsten fünfzehn Minuten oder so.“
Als sie aus der Tür ging, rief er nach ihr. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn jemals ihren Namen mit so viel Sorge in seiner Stimme hatte sagen hören. „Mackenzie?“
„Ja?“
„Sei vorsichtig da draußen.“
„Bin ich“, versprach sie.
Sie tauschten einen gefühlvollen Blick, als sie hinausging und ihn wieder mit dem Laptop alleine ließ. Zu wissen, dass er da war, aber nicht bei ihr sein konnte, als sie hinausging, um hoffentlich diesen Fall abzuschließen, ließ sie sich unglaublich einsam fühlen. Und natürlich wog seine Frage von gestern Nacht schwer in ihrem Herzen.
Heirat, dachte sie, während sie zum Auto lief. Das kam aus dem Nichts oder?
Das kam es. Es war eine unerwartete Überraschung, aber eine die sie innerlich beflügelte. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie ja sagen würde, aber sie durfte nicht zulassen, dass dieses bedeutende Lebensereignis ihren geistigen Zustand veränderte, während sie endlich dem Grund dieses Falles näherkam.
Also los jetzt und diesen verdammten Fall abschließen, dachte sie, während sie in ihr Auto stieg und den Motor startete. Sie rief Tate an und als das Handy zu klingeln begann, konnte sie spüren, wie die Dinge sich entwickelten – das Klingeln des Handys war schon fast wie ein Signal einen Countdown zu beginnen. Sie hatte das schon vorher gespürt und normalerweise erwies es sich als richtig. Bei fast jedem Fall gab es einen Punkt, wo sie das Ende kommen spürte – im Guten oder im Schlechten. Sie fühlte es sogar jetzt als Tates Mailbox nach dem zweiten Klingeln ranging.
Er muss wirklich mal dieses Scheißhandy aktualisieren, dachte Mackenzie.
Sie warf das Handy auf den Sitz. Es hatte gerade den Beifahrersitz erreicht, als es zu klingeln begann. Sie sah Tates Nummer, der zurückrief. Ein wenig angefressen beantwortete sie den Anruf.
„Haben Sie Neuigkeiten für mich?“, fragte Mackenzie.
“Tut mir leid, ich habe Ihren Anruf verpasst. Dieses verdammte Handy …“ Er hielt inne und seufzte, ehe er fortfuhr.
“Wir haben bereits drei Männer bei Weldon draußen, die den Ort überprüfen“, erklärte Tate am Handy. „Ich bin gerade auf dem Weg zur Glory Baptist Kirche mit Beamte Roberts, wenn Sie mitkommen wollen?“
Sie stimmte zu und hörte, wie ihr Handy zwanzig Sekunden später piepte, als Tate ihr die Adresse schickte. Sie rief sie auf und zum gefühlten hundertsten Mal raste sie durch die Wendungen einer Reihe von Nebenstraßen, die sich anfühlten, als wenn sie von dem Rest der Welt völlig vergessen worden waren.
***
Als sie ihr Auto auf den Kiesparkplatz auf der Westseite der Glory Baptist Kirche fuhr, waren Tate und Roberts bereits da. Sie gingen in Richtung Eingang, eine rustikale weiße Tür, die unbedingt einen Anstrich brauchte. Die kleine Tafel auf dem Rasen sagte: SONNTAGSMESSE: 10 Uhr.
Die Kirche lag an einer der Hinterstraßen, über eineinhalb Meilen davon entfernt, was als das “Zentrum”, der Stadt bezeichnet wurde. Wie alles andere in Kingsville, war es von frischer Luft und Bäumen umgeben – was den Friedhof hinter dem Grundstück gruselig aussehen ließ. Der sehr hohe Uhrenturm war schon fast komisch hoch, wer auch immer sich dieses Design ausgedacht hatte, als die Kirche gebaut wurde, hatte wohl eine Art Witz gemacht. Vielleicht ein großer ironischer Mittelfinger für diejenigen, die diese Kirche einmal besuchten.
„Hat jemand den Pfarrer angerufen?“, fragte Mackenzie.
„Habe ich versucht“, sagte Tate. „Er macht Krankenhausbesuche in Arlington. Aber seine Frau war freundlicherweise so nett und hat uns gesagt, wo der Ersatzschlüssel ist.“
Während er das erzählte, lief Tate die Treppen hoch und stellte sich auf die Zehenspitzen. Er lehnte sich nach vorne und ließ seine Hand über den Türrand gleiten und fand ein kleines, loses Stück Holz der Außenverkleidung der Kirche. Er löste das Holz und zeigte ihnen den Ersatzschlüssel, der auf der anderen Seite des Holzes am Haken baumelte. Er entfernte den Schlüssel, legte das Holz auf die Stufen und steckte den Schlüssel in das alte Messingschloss an der Tür.
Als sie in die Kirche hineingingen, dachte Mackenzie sofort an ihre Kindheit. Es roch wie bei ihrer Oma auf dem Boden, wo sie einmal in einem alten, moderigen Stuhl gesessen hatte und einen Band nach dem nächsten von den original Nancy Drew Büchern gelesen hatte. Unter dem Geruch gab es auch noch so etwas wie Zitrone – gedämpfter Möbelreiniger, mit dem wahrscheinlich erst vor Kurzem über die Bankreihen gewischt wurde.
Von innen gesehen war es eine kleine Kirche. Sie sah sich die Wände an, als sie das Heiligtum betrat. Sie war ungefähr viereinhalb Meter hoch und sie gab sich Mühe, sich den großen Uhrenturm über ihren Köpfen vorzustellen. Die drei gingen durch den Altarraum in Richtung des hinteren Zimmers, wo eine große Tür zum Rest des Gebäudes führte.
Dann betraten sie ein größeres Zimmer, das mit ein paar runden Tischen und Stühlen ausgestattet war, vielleicht eine Art großes Klassenzimmer. Der Dachbodengeruch war hier nicht so stark, als wenn er von jemandem beseitigt worden war, der kürzlich den Flur gewischt hatte. Mackenzie schaute auf den Boden auf der Suche nach Anzeichen, dass hier jemand kürzlich entlang gegangen war, aber sie sah nichts.
Der Rest der Kirche war das, was Mackenzie sich immer unter einer Kleinstadtkirche vorgestellt hatte. Ein einzelner Flur, der ein paar Unterrichtszimmer enthielt. Ein kleiner Küchenbereich befand sich am Ende des Flurs und direkt im Zentrum befand sich eine geschlossene Tür. Ein kleines Schild, das in flacher Times New Roman Schriftart geschrieben war, las: Eingang zum Uhrenturm!
„Waren Sie schon mal da oben?“, fragte Mackenzie Tate und Roberts.
„Noch nie“, antwortete Tate.
“Das ist tatsächlich das erste Mal, das ich überhaupt einen Fuß in dieses Gebäude setze”, sagte Roberts.
„Wir sind alle neu hier“, sagte Tate mit einem nervösen Grinsen. „Sie können also auch vorgehen.“
Mackenzie öffnete die Tür und trat hinein. Es gab eine sehr kleine Nische, eine schnelle Abbiegung nach rechts und dann führten Treppen in eine schon fast schwindelerregende Höhe. Die Stufen waren aus Holz und leicht mindestens fünfzig Jahre alt – wahrscheinlich näher an Hundert. Jeder knackte unter ihrem Gewicht und das Echo ertönte, als Tate und Roberts hinter ihr hochgingen.
Sie fühlte keine direkte Bedrohung, aber hielt dennoch ihre Hand nah an ihrer Glock. Je näher sie dem Ziel kam, umso staubiger wurde es. Es gab ein wenig Licht von irgendwo oben aber es beleuchtete kaum die Treppen. Gerade als sie sich ein wenig klaustrophobisch zu fühlen begann, kam sie zur Spitze der Stufen.
Es gab einen kleinen Treppenabsatz und dann fünf weitere Stufen, die direkt in den Uhrenturm führten. Von dort, wo sie stand, konnte Mackenzie direkt in den Turm sehen und schaute in die Unterseite der riesigen Messingglocke. Sie ging einen weiteren Treppenabsatz hoch und stand innerhalb des Turms. Die Stufen führten auf einen kleinen Laufweg, der um die Glocke herumging. Sie ging zur anderen Seite des Turms, der auf den Seitengarten der Kirche blickte.
„Geht’s Ihnen gut hier oben?“, rief Tate von dem Laufweg darunter.
„Ja. Es ist eng hier. Warten Sie doch eben ja?“
Tate schien damit in Ordnung, während Mackenzie auf dem Laufgang um die Glocke herumlief. Die Glocke selbst war recht faszinierend, eine wunderschöne Form von Messing, die durch die vier Fensteröffnungen an der Seite des Turms nur noch erstaunlicher wurde.
Sie schaute auf die drei Öffnungen, versuchte das Gefühl wiederzubekommen, über allem zu stehen, was sie auf der Miller Moon Brücke und auf dem Laufgang des Wasserturms gespürt hatte. Es dauerte einen Moment, um zu erkennen, dass sie es hier nicht finden würde. Der Raum war zu geschlossen. Noch mehr, der Fall war kein gerader Fall. Wenn jemand aus einer dieser Öffnungen entlang der Seiten des Uhrenturms fiel, würden sie zuerst das Dach treffen und dann 8 m weiter unten aufschlagen.
Es gab einfach kein Gefühl von Frieden hier oben, kein Gefühl die Kontrolle zu haben. Wenn überhaupt machte es die Anwesenheit der Glocke ungewöhnlich eng. Obwohl jemanden hier die Treppen hochzuzwingen vielleicht noch einfach war, sie über den Laufgang zu zwingen, um die Glocke herum wäre ein ziemlich mühevoller Vorgang. Nicht zu erwähnen, man musste einbrechen, um überhaupt Zugang zu dem Turm zu bekommen.
Sie ging wieder zu den Stufen und schüttelte ihren Kopf. „Keine Chance“, sagte sie, während sie zurück zum Treppenabsatz ging, wo Tate und Roberts auf sie warteten. „Es ist einfach zu eng. Und der Fall wird vom Dach unterbrochen. Wenn unser Mörder seine Aufregung dadurch bekommt, in dem er Personen aus Höhen wirft und zuschaut, wie sie unten aufschlagen, dann ist das nicht der richtige Ort.“
„Wollen Sie zu Weldons Drugstore fahren und sich das anschauen?“, fragte Tate.
“Warum nicht”, sagte sie. Aber selbst dann fühlte sie, dass auch das eine Sackgasse sein würde. Etwas an dem Gedanken des Mörders, der von einem begrenzten Raum aus handelte, selbst ein verlassenes Gebäude mit einer Reihe von großen und leicht zugänglichen Fenstern – schien nicht zu dem zu passen, was sie bis jetzt von seiner Arbeit gesehen hatte. Dennoch wollte sie sorgfältig bleiben, und wenn das hieß, einen potenziellen Mörder Tatort zu besuchen, bei dem sie sich ziemlich sicher war, dass das nicht passen würde, dann wäre das so.
Außerdem wäre die Alternative McGrath anzurufen und ihn wissen, zu lassen, dass sie immer noch nichts Neues in dem Fall hatte. Damit ging sie den Uhrenturm hinunter mit Tate und Roberts vor sich. Sie hatte immer noch das Gefühl, dass der Fall zu einem Ende kam, aber begann sich zu fragen, ob es ein erfolgreiches Ende sein würde.