Er fühlte sich gänzlich ausgesetzt, lief im Sonnenlicht über den Rasen. Er hatte sich in der letzten Woche im Wald versteckt und sogar unter der Veranda ahnungsloser Menschen. Wieder zurück im Licht spürte er, als wenn er sein Leben riskierte. Er fühlte sich wie ein Vampir, was okay für ihn war. Vielleicht wäre es nicht so schlecht ein Vampir zu sein. Denn was immer er war … er spürte, es war mehr, noch schlimmer als die blutsaugenden Tierchen.
Während er am Waldrand entlangschlich in Vorbereitung sein nächstes Opfer zu holen, hatte er Polizeiautos vorbeifahren sehen. Er hatte noch nie so viel Aktivität der Polizei wie jetzt gesehen, nicht in den zehn Jahren, in denen er in dieser schrecklichen kleinen Stadt lebte. Etwas war los – wahrscheinlich versuchten sie ihn zu finden oder herauszufinden, warum er die Dinge tat, die er tat.
Viel Glück dabei, dachte er mit einem kleinen Lächeln.
Er schaute auf das Haus vor ihm. Es war ein schönes Haus, eins, in dem er vielleicht einmal gelebt hätte, wenn seine Eltern nicht gestorben wären, als er ein kleiner Junge war. Er wusste, dass seine Eltern anständige Jobs gehabt hatten, als sie gestorben waren und er dachte, er hätte wahrscheinlich ein gutes Leben gehabt. Er wäre beliebt in der Schule gewesen, wäre ins College gegangen, hätte einen Job bekommen, hätte geheiratet, hätte ein paar Kinder gehabt.
Aber er hatte nichts von dem. Seine Eltern waren gestorben und all diese Träume, die er sich erträumt hatte, waren mit ihnen gestorben, waren hilflos in einen Fluss gefallen und hatte ihrer beider Leben genommen.
Er ging über den Rasen und auf die Veranda des idyllischen kleinen Landhauses zu. Er gab sich Mühe normal auszusehen, als wenn er hier hingehörte. Er hatte seinen schwarzen Kapuzenpulli ausgezogen und hatte ein schlichtes weißes T-Shirt angezogen. Er nahm an nach dem Lauf mit der Polizistin am Wasserturm letzte Nacht, würden sie nach jemandem mit einem schwarzen Kapuzenpulli suchen. Er fühlte sich nackt ohne und noch mehr ausgesetzt.
Er drängte das Gefühl in seinen Hinterkopf zurück, während er zur Vordertür des Hauses kam. Er klopfte leicht, wie beiläufig und gab sich Mühe zu lächeln, auch wenn sein Inneres sich anfühlte, als wenn es brannte. Er hatte in einem puren Adrenalinrausch gelebt, seit er gefordert hatte, das Malory Thomas sich nackt vor ihm auszog, während er ihr die Waffe an den Kopf gehalten hatte. Das Adrenalin war nicht verdampft, als er versucht hatte, mit ihr ein wenig herumzumachen, aber am Ende gescheitert war. Anscheinend machten zu viel Adrenalin und Nervosität es schwer, sexuell erregt zu werden – etwas worüber er sehr traurig war, als er es erkannte.
Es war auch nicht verschwunden, als er zugesehen hatte, wie sie auf die Steine unter der Miller Moon Brücke gekracht war. Traurigerweise, war es das, was ihn erregt hatte und die Teile an ihm, die ihn im Stich gelassen hatten, als sie gestrippt und seine volle Aufmerksamkeit gehabt hatte, während er auf ihren zerbrochenen Körper unter der Brücke starrte.
Er sah den Moment wieder in seiner Erinnerung, wie aus einem Film den er vor langer Zeit gesehen hatte. Im Moment war er aber mehr auf die Tür vor sich konzentriert. Er klopfte wieder und behielt das gezwungene Lächeln auf seinem Gesicht.
Endlich kam jemand an die Tür. Die Frau sah ihn und runzelte die Stirn und versuchte dann selbst ein Lächeln aufzusetzen.
„Jimmy“, sagte sie. „Was machen Sie denn hier?“
“Tut mir leid”, sagte er. „Ich weiß, ich habe keinen Termin. Aber ich muss wirklich mit Ihnen sprechen.“
Dr. Jan Haggerty nickte und seufzte. „Naja, kommen Sie rein. Ich habe gerade einen Patienten, aber ich kann Sie drannehmen, wenn ich fertig bin. Sie können im Arbeitszimmer sitzen, bis ich fertig bin.“
„Danke, Dr. Haggerty“, sagte Jimmy.
Er folgte ihr, und als sie sich trennten, weil sie zurück in ihr Büro ging und Jimmy in ihr Arbeitszimmer, ließ er das falsche Lächeln fallen.
Es war schwer zu lächeln, wenn er solche Angst hatte.
Er wünschte sich wieder, dass er ein Vampir wäre. Dann könnte er einfach im Dunkeln bleiben. Er machte all seine Arbeit sowieso bei Nacht und er liebte anscheinend den Anblick von Blut – etwas, was er erst jetzt akzeptierte und verstand.
Wenn er ein Vampir wäre, würde er vielleicht nicht solche Angst haben.
Oder vielleicht auch nicht. Egal, was man war, dachte Jimmy, es war wahrscheinlich immer ein wenig unheimlich zu erkennen, dass man wieder töten würde.
Dass man wieder töten musste, sodass das Leben wieder Sinn machte.
***
Jimmy Gibbons hatte schon ein paar Mal Zeit in Dr. Haggertys Arbeitszimmer verbracht. Wenn eine ihrer Sitzungen mit einem Patienten länger dauerte, dann musste der nächste Patient im Arbeitszimmer sitzen und warten, bis er dran war. Dr. Haggerty hatte immer Musik, die durch einen Bluetooth Lautsprecher spielte, normalerweise war er auf irgendeinen neuzeitlichen Mist eingestellt mit Windgeräuschen und minimalistisches Klavier.
Jimmy sah sich eines der Bücher an, die er aus ihrem Regal gezogen hatte – ein Bildband über Island und seine Fjorde und Himmelslichter – als Dr. Jan Haggerty in das Arbeitszimmer kam. Sie sah wie immer froh aus, ihn zu sehen und auch Jimmy war fast immer froh, sie zu sehen. Sie ließ ihn sich immer willkommen fühlen. Und auch wenn sie ein wenig über fünfzig war, dachte Jimmy, dass sie ziemlich heiß war.
„Also Jimmy“, begann sie. „Sie sind noch nie unangekündigt gekommen. Ist alles in Ordnung?”
Er schüttelte seinen Kopf. “Nein”, sagte er. “Ich habe schon wieder diese Albträume über meine Eltern gehabt.”
„Oh nein“, sagte sie. „Es ist schon eine Weile her, seit diese Sie das letzte Mal heimgesucht haben, oder?“
„Ein wenig über ein Jahr“, sagte er.
„Haben Sie getrunken?“, fragte Dr. Haggerty.
Jimmy antwortete nicht gleich. Sie bewegte sich nicht von ihrer Stelle am Eingang zum Arbeitszimmer weg. Es war recht klar, dass sie keine Absicht hatte, hieraus eine tatsächliche Sitzung zu machen. Und das war in Ordnung für Jimmy. Tatsächlich zog er das vor. Es würde die ganze unordentliche Tortur noch viel einfacher machen.
„Nein, ich habe nicht getrunken“, erwiderte er. „Aber die Dinge werden schlimmer. Ich habe etwas Neues begonnen … eine Art, das alles zu überwinden.“
„Was genau überwinden?“, fragte Haggerty.
„Die Albträume. Die Schuld. All das.”
“Was haben Sie versucht Jimmy? Bitte sagen Sie mir nicht, dass Sie irgendeine Art von Droge ausprobiert haben.“
„Oh, darüber habe ich nachgedacht. Aber nein … einfach nur die Xanax, die Sie mir verschrieben haben. Die andere Sache … ich glaube, es hilft vielleicht, aber es hat mich auch etwas Anderes erkennen lassen.“
Dr. Haggerty bewegte sich endlich vom Eingang des Arbeitszimmers weg und nahm an anderen Ende des Sofas Platz. „Was tun Sie?“, fragte sie mit ein wenig Sorge in ihrer Stimme.
„Ich dachte, ich kann all das überwinden, in dem ich an hohe Stellen gehe. Ich hatte noch nie Höhenangst, nicht wirklich, aber ich habe Höhen vermieden. Zu wissen, dass meine Eltern eine Brücke heruntergefallen sind, scheint wie eine Herausforderung des Schicksals, irgendwas in Höhen zu tun, wissen Sie? Also habe ich es ausprobiert. Aber zuerst hat es nicht geklappt.“
“Zuerst?”
“Ja, da war diese Einsamkeit. Ich habe an der Miller Moon Brücke begonnen. Ich bin nachts dort hingegangen und habe heruntergeschaut, wo das Wasser sein sollte. An mondlosen Nächten ist es wie in eine Grube herunterschauen. Sie können nicht einmal sehen, wo der Fall endet, wissen Sie? Ich habe mich klein gefühlt, was ich nicht mag. Aber dennoch … ich glaube, es hat mir geholfen, meine Träume für eine Weile aufhören zu lassen. Aber dann sind sie wiedergekommen und ich musste etwas anderes ausprobieren. Ich habe jemanden mitgenommen, Dr. Haggerty.“
Er hielt inne und schaute sie direkt an. Er wusste, dass sich die Nachricht, was er tat, in der ganzen Stadt herumgesprochen hatte. Er wusste, dass Dr. Haggerty alles über Malory Thomas, Kenny Skinner und Maureen Hanks wusste. Er war neugierig zu sehen, wie sie reagieren würde. Er hatte ihr gerade genug mitgeteilt, sodass man das als unmerkliches Eingeständnis bezeichnen konnte.
“Eine Freundin von Ihnen?”, fragte sie.
„Nein. Einfach jemanden, den ich respektiert habe und kennenlernen wollte“. Er kicherte, und schüttelte seinen Kopf. “Ich glaube, ihr hat das nicht so gefallen.
Er konnte sehen, dass Dr. Haggerty sich Mühe gab, ruhig zu bleiben, aber ihre wahren Gefühle lauerten in ihren Augen und an den Ecken ihres zusammengekniffenen Mundes. Sie hatte Angst. Sie machte sich Sorgen.
„Jimmy, ich glaube, darüber müssen wir so schnell wie möglich reden“, sagte sie. „Lass mich mal in meinen Kalender schauen. Ich kann Sie vielleicht morgen dazwischen schieben. Würde Ihnen das passen?“
“Ja. Danke. Tut mir leid, dass ich einfach so vorbeigekommen bin … ich weiß nicht. Etwas passiert mit mir und ich weiß nicht, wie ich das aufhalten soll.”
Nicht das ich es aufhalten will, dachte er.
Er wartete, bis sie ging, ehe er vom Sofa aufstand. Er wusste genau, was sie tat und das war bestimmt nicht den Kalender zu überprüfen. Er hatte die Sorge auf ihrem Gesicht gesehen und er hatte auch all die Polizeiautos auf und abfahren sehen.
Er folgte leise ihren Fußschritten, verließ das Arbeitszimmer und überquerte den großen Flur, der in ihr Sprechzimmer führte. Sie tat hinter ihren Tisch und griff nach ihrem Handy. Als er hinter ihr den Raum betrat, sah sie hoch und bemerkte ihn. Ihre Hand blieb über dem Telefon hängen.
„Ich sehe seit zwei Jahren, wie Sie Termine für mich machen“, sagte er. „Sie haben kein Kalender auf Ihrem Handy.“
Sie nickte und nahm es auf. „Jimmy … was haben Sie getan? Brauchen Sie … brauchen Sie Hilfe?
„Ich glaube, dafür ist es zu spät“, sage er. „Aber Sie können mir auf Ihre Art helfen. Legen Sie das Handy hin. Wen wollten Sie überhaupt anrufen?“
“Jimmy, das ist Ernst”, sagte sie und hörte sich an, als wenn sie gleich in Tränen ausbrechen würde. „Da ist eine Dame vom FBI in der Stadt. Wenn wir dich zu ihr bringen, kann sie vielleicht helfen.“
“Vielleicht will ich keine Hilfe”, sagte er. „Zum ersten Mal, seit ich mich erinnern kann, fühle ich mich glücklich. Ich weiß nicht warum … aber etwas daran hilft mir. Es lockert die Anspannung. Es macht, dass die Albträume weggehen.“
„Lassen Sie mich die Polizei rufen“, sagte sie. „Ich denke, das ist das sicherste für alle.“
„Nein“, sagte er. Er begann, langsam im Raum herumzugehen. “Ich will, dass Sie mit mir mitkommen. Vielleicht werden Sie es verstehen, wenn wir dort oben sind. Vielleicht können Sie mir dann helfen … wenn es irgendeine Hilfe gibt. Denn ehrlich … wenn sie fallen und schreien … das ist Magie. Es ist wie eine Droge. Ich versteh das nicht. Vielleicht werden Sie das verstehen.”
“Jimmy”, sagte sie und hob den Hörer, um zu wählen. “Tun Sie das nicht.”
“Nein … Sie werden das nicht tun”, sagte er. Und damit zog er die 09. Millimeter aus einem Holster, das er in der Weite seiner Hose versteckt hatte.
“Ich werde Sie erschießen”, sagte er. „Ich dachte, es geht nur darum Menschen zerbrechen zu sehen, wenn sie von der Brücke oder vom Wasserturm fallen. Aber ich glaube, es ist einfach dieses Durcheinander im Allgemeinen. Ich werde genauso glücklich damit sein, Ihr Gehirn an die Wand zu schmieren. Also bitte … legen Sie das Scheiß Handy weg.“
Sie schauderte und tat, was er gesagt hatte. Sie weinte, auch wenn sie versuchte das meiste zurückzuhalten. Sie war nicht wie die anderen. Die anderen hatten offen geweint und um ihr Leben gebettelt. Maureen hatte Sex angeboten. Sex jeder Art, den er wollte. Er hatte darüber nachgedacht, sich aber am Ende dagegen entschieden.
Vielleicht könnte sie ihm dennoch helfen.
„Was wollen Sie?“
“Im Moment, einfach Sie. Verschließen Sie Ihre Türen, denken Sie nicht daran Ihr Handy oder Ihre E-Mails zu beantworten. Sie und ich werden eine Weile reden, ehe wir rausgehen. Vielleicht können Sie mir dabei helfen, herauszufinden, warum ich dieses … dieses Monster geworden bin.“
„Jimmy, Sie sind kein Monster.“
Er lachte darüber, sein Griff an der Waffe wurde noch fester.
„Da bin ich mir nicht sicher. Ich werde hart wie noch nie zuvor, wenn ich sie schubse. Und wenn sie dann aufschlagen … dieses Geräusch. Das Knacken. Das Brechen. Ich liebe es. Als Kenny Skinner auf die Steine unter der Brücke aufgeschlagen ist, ist sein Kopf dabei aufgeknackt. Wollen Sie wissen, wie sich das angehört hat?“
Dr. Haggerty schüttelte ihren Kopf.
„Setzen Sie sich“, sagte Jimmy und zeigte mit der Waffe auf das Sofa, auf dem er oft in den letzten Monaten gesessen hatte. „Ich glaube, Sie und ich werden einen langen Tag zusammen verbringen.“