9. KAPITEL

Die Reiterin stieg ab, ließ ihr Pferd grasen, setzte sich neben Tina auf die Wiese und reichte ihr die Hand.

Sie trug eine schwarze Reithose und eine eng auf Figur geschnittene Reitjacke. „Ich bin Helen O’Connell“, sagte sie ohne weitere Umschweife, nahm ihre Kappe ab und legte sie neben sich ins Gras.

Aus der Nähe betrachtet schätzte Tina die attraktive dunkelhaarige Frau mit den hellblauen Augen und dem zarten Teint auf Anfang dreißig.

Helen O’Connell fixierte den glitzernden Diamantring an Tinas Finger. „Und Sie müssen Valentina Dunbar sein, die Frau, die Richard heiraten will. Als ich Sie hier sah, beschloss ich, die Gelegenheit zu nutzen, um mit Ihnen zu reden. Wann soll das Ereignis denn stattfinden?“

Bemüht, sich von der direkten Art dieser Frau nicht irritieren zu lassen, antwortete Tina: „Morgen früh.“

Helen lachte bitter. „Alle Achtung! Er sagte zwar, er habe keine Zeit zu verlieren, aber dass er es so schnell über die Bühne bringen würde, hätte ich ihm nicht zugetraut. Und sobald Sie seine Frau sind, entführt er Sie auf eine nette, kleine Hochzeitsreise, nehme ich an?“

„Ja, so ist es geplant. Aber ich wüsste nicht, was …“

„Ich möchte Sie warnen. Lassen Sie sich nicht auf diese Hochzeit ein! Es wäre ein großer Fehler, Richard zu heiraten.“

Bevor Tina etwas einwenden konnte, fuhr Helen hastig fort: „Ich weiß, er ist ein sehr reicher Mann, aber …“

„Ich heirate ihn nicht seines Geldes wegen.“

„Sind Sie etwa in ihn verliebt? Herzliches Beileid, kann ich da nur sagen. Er macht sich nicht das Geringste aus Ihnen“, sagte sie kühl. „Vermutlich hat er es Ihnen nicht erzählt, diskret, wie er ist, aber wir beide waren jahrelang ein Liebespaar. Wäre dieser ganze Ärger nicht dazwischengekommen, hätte er mich geheiratet.“

„Tut mir leid“, begann Tina verstört, „aber ich …“

„Schon gut, Sie können ja nichts dafür. Es ist Richard, der sich wie ein Idiot verhält. Er scheint tatsächlich zu glauben, die Heirat mit Ihnen sei der einzige Ausweg.“

Nun sah sie Tina direkt und eindringlich an. „Lassen Sie sich nicht von ihm an der Nase herumführen. Sobald er hat, was er will, und die Flitterwochen vorbei sind, lässt er sich scheiden, das versichere ich …“ Sie verstummte, als in der Ferne eine große Gestalt auftauchte.

Blitzschnell stand sie auf, setzte die Reitkappe auf und schwang sich aufs Pferd.

„Ich rate Ihnen, glauben Sie ihm kein Wort. Packen Sie Ihre Sachen und verschwinden Sie!“ Damit gab sie dem Pferd die Sporen und galoppierte davon.

Völlig konsterniert sah Tina ihr nach, bis Richard sich zu ihr gesellte. Er ließ sich neben ihr ins Gras fallen und fragte: „Was ist los? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“

„Ach, nichts. Ich habe nur …“

„Lüg mich nicht an!“, unterbrach er sie. „Ich habe Helen wegreiten sehen. Was hat sie dir gesagt?“

Ihre Stimme gehorchte ihr kaum, als sie erwiderte: „Sie hat mich vor der Heirat mit dir gewarnt.“

Wütend über Helens Einmischung, fragte er: „Hat sie auch gesagt, weshalb?“

Tina schüttelte den Kopf. „Nur, dass es ein großer Fehler wäre.“

„Und was noch?“

„Dass du dir nichts aus mir machst. Dass ihr jahrelang ein Liebespaar gewesen seid …“

„Erzähl weiter!“

„Sie sagte, du betrachtest die Heirat mit mir als einzigen Ausweg. Ich solle mich nicht darauf einlassen, denn sobald du hättest, was du willst, würdest du dich wieder scheiden lassen.“

„Aha“, meinte er grimmig. „Ich hoffe, du nimmst ihr diesen Blödsinn nicht ab.“

Als sie schwieg, seufzte er schwer. „Also doch.“

„Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll“, erwiderte sie unglücklich. „Ich verstehe nicht, was das alles zu bedeuten hat, aber warum sollte sie so etwas behaupten, wenn …“

Er lächelte. „Aus Eifersucht vielleicht?“

„Dann seid ihr also ein Liebespaar?“

„Früher waren wir das, aber das ist Vergangenheit. Wir sind gut befreundet, aber eine Beziehung haben wir schon lange nicht mehr.“

„Dann liebst du sie nicht mehr?“

„Ich habe sie nie geliebt, ebenso wenig wie sie mich. Es war eine unbedeutende Affäre, weiter nichts.“

„Das scheint sie anders zu sehen“, erwiderte Tina. „Sie sagte, wenn dieser ganze Ärger nicht dazwischengekommen wäre, hättest du sie geheiratet.“

„Aber sie hat nicht gesagt, welchen Ärger sie meint, oder?“, fragte er schnell.

„Nein.“

Das beruhigte ihn offenbar. „Das hat sie sich nur ausgedacht. Sie hatte schon immer eine blühende Fantasie. Ich hatte nie vor, sie zu heiraten.“

Als er Tinas zweifelnden Blick bemerkte, setzte er energisch hinzu: „Und ich habe ihr auch keinen Grund zu der Annahme gegeben, dass ich es tun würde. Hör auf, dir Gedanken über Helens eifersüchtiges Gerede zu machen. Du bist die Frau, die ich liebe. Dich will ich heiraten.“

Er legte ihr den Arm um die Schultern, zog sie an sich und sah ihr in die Augen. „Bist du jetzt beruhigt?“

Noch immer überschlugen sich die Gedanken in Tinas Kopf. Ihre Zweifel waren noch lange nicht ausgeräumt, und als Richard sie küssen wollte, versteifte sie sich.

Doch dann erlag sie der Magie seiner warmen, drängenden Lippen, gab jeden Widerstand auf und genoss den leidenschaftlichen Kuss.

Obwohl die Sonne schon tief am Himmel stand und ein frischer Wind aufkam, gelang es ihm, sie so mit seinen Zärtlichkeiten zu betören, dass sie sofort bereit gewesen wäre, ihm zu der kleinen Lichtung hinter dem Wäldchen zu folgen.

Doch als er sie schließlich losließ und ihre leichte Gänsehaut bemerkte, sagte er nur: „Und nun ab nach Hause! Dank meiner Trödelei wird es schon bald dunkel, und die Abende hier sind um diese Jahreszeit empfindlich kalt. Im Bett ist es vielleicht nicht ganz so romantisch, aber dafür gemütlich warm.“

Die Aussicht auf eine leidenschaftliche Nacht in dem prächtigen breiten Bett erfüllte sie mit freudiger Erregung. Hand in Hand wanderten sie in der hereinbrechenden Dämmerung zurück zum Schloss.

Um sicherzugehen, dass Tina keinen Gedanken mehr an Helens unvorhergesehene – und unter Umständen verheerende – Warnungen verschwendete, begann Richard ein altes schottisches Gedicht zu zitieren:

„Eingehüllt in dunkle Nacht

bis der kalte Morgen wacht

wiegt dies Bett uns in den Schlummer

zeugt von Liebe, Glück und Kummer

von des Menschen Freud und Leid …“

Fasziniert lauschte Tina seiner warmen dunklen Stimme. „Magst du Gedichte?“, fragte sie erstaunt, als die letzte Zeile verklungen war.

„Klingt, als fändest du das irgendwie unmännlich“, meinte er lachend.

„Nein, überhaupt nicht. Ich hatte nur nicht erwartet, dass du …“ Verlegen verstummte sie. Kevin, der ängstlich sein Macho-Image pflegte, hatte immer behauptet, Poesie sei etwas für Frauen und Weicheier.

„Ja, ich mag Gedichte“, erklärte Richard. „Hauptsächlich die alten Klassiker. Und du?“

Während des restlichen Weges unterhielten sie sich lebhaft über ihre Lieblingsdichter.

Als sie das Schloss betraten, kam ihnen Hannah strahlend entgegen. „Reverend Peter sagte mir, die Hochzeit findet morgen früh statt“, sagte sie aufgeregt. „Für wie viele Gäste sollen wir den festlichen Brunch ausrichten?“

„Nur für uns und die Angestellten, Hannah. Die offizielle Feier mit geladenen Gästen holen wir dann später nach“, erwiderte Richard.

Die Haushälterin nickte lächelnd. „Übrigens, die bestellten Sachen liegen in Ihrer Suite bereit, Mr. Richard. Signora Diomede persönlich hat sie gebracht. Sollten Sie irgendwelche Probleme haben, brauchen Sie sie nur anzurufen. Ich habe Feuer im Kamin gemacht, es scheint kühl zu werden.“

„Vielen Dank, Hannah“, sagte Richard. „Dann trinken wir unseren Tee oben.“

Hinter den schönen alten Fensterscheiben der Suite senkte sich bläulich die Dämmerung über das Land, während das knisternde Kaminfeuer für sanftes Licht und behagliche Wärme sorgte.

Tina und Richard hatten es sich gerade auf der Couch bequem gemacht, als Milly auch schon den Tee servierte, zusammen mit Muffins, Butter, Honig und einer langstieligen Röstgabel.

„Ich habe seit meiner Kindheit keine Muffins mehr geröstet!“, rief Tina begeistert. „Sie sind mir zwar immer verbrannt, aber es hat einen Riesenspaß gemacht.“

„Dann mal los!“, meinte Richard amüsiert. „Du zuerst.“

Sie spießte einen Muffin auf, kniete sich vor den Kamin und zog konzentriert die Stirn kraus, während sie sich ans Werk machte.

Versonnen betrachtete er ihr schönes Profil, rosig angehaucht von der Hitze der Glut, als sie unvermittelt den Kopf drehte und ihn anlächelte. Plötzlich stieg eine hilflose Wut in Richard auf, und er verfluchte das Schicksal, das ihn ausgerechnet zu diesem Handeln zwang.

Obwohl er wusste, dass sie nicht so süß und unschuldig war, wie sie auf den ersten Blick wirkte, wusste er doch auch, dass sie die Frau war, auf die er immer gewartet hatte. Die einzige Frau, die ihm wirklich unter die Haut ging.

Zumal er allmählich erkannte, dass sie neben ihrer Schönheit eine innere Stärke und Willenskraft besaß, die seiner eigenen ähnelte. Und eine Aufrichtigkeit, die ihn daran zweifeln ließ, ob seine Vorgehensweise gerechtfertigt war.

Doch ihm blieb keine andere Wahl, als zu Ende zu führen, was er begonnen hatte.

„Na, bitte!“, sagte sie triumphierend. „Zwei perfekt getoastete Muffins.“

Nachdem er die zart gebräunten Gebäckstücke gebührend bewundert hatte, meinte er lächelnd: „Da werde ich mich wohl anstrengen müssen, um mit dir mitzuhalten.“

Nachdem sie ihren Tee ausgetrunken und die letzten Muffins verspeist hatten, leckte Tina sich zufrieden seufzend einen Tropfen Honig vom Finger und verkündete: „Ich glaube, ich brauche eine Woche lang nichts mehr zu essen.“

„Das geht mir ähnlich, aber ich schätze, spätestens heute Abend werden wir unsere Meinung ändern.“

Er stand auf, nahm einen Stapel mitternachtsblauer Kartons von einem der Beistelltische und legte sie neben Tina auf die Couch.

„Willst du inzwischen deine Sachen auspacken?“

„Meine Sachen? Ich dachte, wir gehen morgen Nachmittag einkaufen!“

„Das tun wir auch, aber du brauchst doch ein Hochzeitskleid.“

Gespannt beobachtete Richard von seinem Sessel aus, wie sie mit angehaltenem Atem das silberne Band des obersten Kartons aufzog und den Deckel öffnete.

Darin lag, in feinstes Papier gehüllt, ein traumhaft schönes Hochzeitskleid aus elfenbeinfarbener Seide, dessen Ausschnitt und Ärmel im mittelalterlichen Stil geschnitten waren. Ein diskretes Schildchen wies es als ein Modell von Bertolli aus.

Die weiteren Schachteln enthielten ein glitzerndes Diadem, einen duftigen Schleier, zierliche Pumps in der Farbe des Kleides, Seidenstrümpfe und hauchzarte Spitzenunterwäsche.

Es war alles da, was eine Braut sich nur wünschen konnte, wie Tina entzückt feststellte. Sie selbst hätte keine bessere Auswahl treffen können.

Wie hatte sie Richard nur für unsensibel halten können?

Mit Tränen in den Augen sah sie zu ihm. „Danke.“

„Ich hoffe, es gefällt dir.“

„Und wie!“ Impulsiv sprang sie auf und lief zu ihm hinüber. Als sie sich über ihn beugte, um ihn zu küssen, rann eine Träne über ihre Wange.

Mit einem rauen Laut zog er sie auf seinen Schoß, küsste die Träne von ihrer Wange, suchte ihren Mund und gab ihr einen langen, zärtlichen Kuss.

Als er irgendwann widerstrebend ihre Lippen freigab, flüsterte sie: „Wie hast du es nur geschafft, sonntags so ein Kleid zu besorgen?“

„Abgesehen davon, dass ich Anteilseigner von Bertolli bin, ist die Chefin der hiesigen Filiale, Signora Diomede, eine Freundin von mir. Es war also nicht allzu schwierig. Ich musste ihr nur deine Größe und meine Wünsche mitteilen. Leider kam wegen der kurzfristigen Bestellung nur ein Kleid aus dem Sortiment infrage.“

Tina legte einen Finger auf seine Lippen. „Von wegen leider“, protestierte sie. „Ich kann mir kein schöneres vorstellen!“

Lächelnd umfasste er ihre Taille und stand mit ihr zusammen auf. „Ich war mir ziemlich sicher, was deine Größe betrifft, aber trotzdem probierst du es lieber an. In der Zwischenzeit kümmere ich mich um meine Geschäfte und rufe anschließend Murray Tyler an, um die Hochzeitsreise zu arrangieren.“

Er küsste sie zum Abschied auf die Wange, drehte sich aber an der Tür noch einmal um. „Wenn ich wiederkomme, haben wir den Rest des Abends für uns allein“, versprach er.

Die Erwähnung der Hochzeitsreise zerstörte Tinas Verzauberung jäh. Plötzlich fielen ihr Helen O’Connells Worte wieder ein: ‚Und sobald Sie seine Frau sind, entführt er Sie auf eine nette, kleine Hochzeitsreise, nehme ich an?‘

Verzweifelt versuchte sie, die unliebsame Erinnerung zu verdrängen, trug die Schachteln von Bertolli in ihr Zimmer und probierte das Hochzeitskleid an.

Obwohl es perfekt passte und sie feststellte, dass sie darin schöner denn je aussah, hatte sich ihr Glücksgefühl verflüchtigt wie Morgennebel.

Die verstörende Szene auf der Wiese vor Augen, stieg sie aus dem Kleid und hängte es auf einen Bügel. Ihre Anspannung wuchs noch einmal, als sie erkannte, wie geschickt Richard es verstanden hatte, sie von der Begegnung mit Helen abzulenken.

Bis er die Hochzeitsreise erwähnt hatte.

All ihre Zweifel und Fragen kehrten nun zurück und schwirrten ihr durch den Kopf – bedrohlich wie ein Schwarm Hornissen.

Was meinte Helen damit, dass Richard die Heirat als einzigen Ausweg betrachtete? Woraus? Und was erhoffte er sich dadurch?

Noch verwirrender erschien ihr die Warnung, sie solle sich nicht von Richard an der Nase herumführen lassen. Er werde sich ohnehin wieder scheiden lassen, sobald er habe, was er wolle …

Doch was wollte er von ihr?

Das Bett teilte sie bereits mit ihm. Was hatte sie einem Mann wie ihm schon zu bieten? Kein Geld, keine reiche Familie, und arbeitslos war sie auch.

Wenn er sie nicht liebte, aber aus irgendeinem rätselhaften Grund dringend eine Ehefrau brauchte, hätte er Helen heiraten können.

Ratlos und verwirrt, den Kopf voller Ängste und Sorgen, saß sie vor dem Kamin, als Richard gegen acht in die Suite zurückkam.

„Was ist los?“, fragte er, als er ihre bedrückte Miene sah. „Habe ich die falsche Größe bestellt?“

„Nein, nein, das Kleid passt perfekt“, versicherte sie hastig.

„Gefällt es dir nicht?“

„Doch, es sieht wunderschön aus …“

„Aber?“

Einen Moment war sie versucht, offen über ihre Zweifel zu sprechen und Antworten auf ihre Fragen zu verlangen. Doch sie wusste schon jetzt, dass sie keine bekäme. Richard würde Helens Warnungen als die Hirngespinste einer eifersüchtigen Frau abtun.

Womit er vielleicht sogar recht hatte.

Sie zwang sich zu lächeln. „Kein Aber“, sagte sie. „Es ist alles in Ordnung.“

Richard trat zu ihr, hob ihr Kinn an und sah ihr in die Augen. „Wirklich?“

„Ja, wirklich.“

Doch er las den Kummer in ihren blauvioletten Augen und verfluchte Helen dafür, was sie angerichtet hatte.

„Ich gehe duschen“, sagte sie und entzog sich ihm.

Und er ließ Tina kommentarlos gehen.

Das Abendessen verlief in äußerst angespannter Atmosphäre. Tina tat ihr Bestes, um eine lockere Unterhaltung in Gang zu bringen, doch sie war nicht bei der Sache. Außerdem hatte sie Kopfschmerzen und brachte kaum einen Bissen herunter.

Als Richard sie darauf ansprach, erwiderte sie leicht gereizt: „Zwei Muffins zum Tee waren eben doch zu viel.“

Zu ihrer Erleichterung ließ er es dabei bewenden. Nach dem Essen erkundigte er sich freundlich: „Und wie möchtest du den Rest des Abends verbringen?“

„Ich bin müde“, sagte sie, denn sie hatte nur einen Wunsch – endlich allein zu sein. „Ich werde früh schlafen gehen.“

„Gute Idee.“ Er erhob sich mit ihr, nahm ihre Hand und sah sie unter dichten dunklen Wimpern zärtlich an. „Sollen wir dafür sorgen, dass unser Bett etwas Neues zu erzählen hat?“

Tina schüttelte abwehrend den Kopf.

„Es ist wegen Helen, oder?“, fragte er besorgt.

Ihre Kehle war wie ausgetrocknet, ihre Stimme heiser, als sie erwiderte: „Nein, ich habe einfach nur Kopfschmerzen. Entschuldige“, fügte sie leise hinzu, als sie seinen enttäuschten Blick bemerkte.

„Keine Sorge. Jede Frau hat das Recht, Nein zu sagen, wenn sie keine Lust hat.“

„Ich habe wirklich Kopfschmerzen.“

„Dann halte ich dich im Arm, bis du eingeschlafen bist.“

„Ich schlafe lieber allein.“

„Ganz wie du willst. Dann also gute Nacht“, sagte er förmlich und berührte nur andeutungsweise mit den Lippen ihren Handrücken.

„Gute Nacht“, sagte Tina fröstelnd und stürmte die Treppe hinauf in ihr Zimmer.

Als sie im Bett lag, konnte sie trotz ihrer Müdigkeit nicht einschlafen. Endlos lange wälzte sie sich herum, zerbrach sich den Kopf über Fragen, auf die sie keine Antwort wusste, und kam immer wieder zum selben Ergebnis.

Sie hatte Richard nichts zu bieten außer ihrer Liebe und dem Versprechen, ihm ein Leben lang treu zur Seite zu stehen. Wenn er sie nicht liebte, weshalb sollte er sie dann heiraten?

Er musste sie lieben, eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Und warum lag sie dann allein hier? Warum ließ sie sich von irgendeiner eifersüchtigen anderen Frau ihr Glück zerstören?

Sie atmete tief durch, stand auf und schlich über den Flur zu seinem Zimmer. Leise öffnete sie die Tür und trat ein.

Es brannte kein Licht, doch im Schein des heruntergebrannten Feuers sah sie Richard flach auf dem Rücken liegen, Brust und Schultern unbedeckt, die Hände im Nacken verschränkt.

Er war wach.

Während sie noch zitternd an der Tür verharrte, unsicher, ob sie willkommen war, streckte er schon die Hand nach ihr aus.

Als sie zu ihm kam, schlug er die Decke zurück und zog Tina, immer noch schweigend, zu sich ins Bett.

Leise seufzend schmiegte sie sich an ihn, bettete den Kopf an seine Schulter und legte eine Hand an seine nackte Brust. Richards warme weiche Haut unter ihrer Handfläche zu spüren weckte Tinas Verlangen, und sie wartete sehnsüchtig darauf, dass er sie in die Arme nahm.

Doch er blieb still liegen, und allmählich begriff sie, dass er nicht vorhatte, die Initiative zu ergreifen. Sie hatte über Kopfschmerzen geklagt, und er nahm sie beim Wort. Also lag es an ihr, den ersten Schritt zu tun.

Nach kurzem Zögern schmiegte sie sich enger an ihn, streichelte seine muskulöse Brust und rieb die nackte Fußsohle an seinem behaarten Bein.

Als er sich auch jetzt nicht rührte, ließ sie die Fingerspitzen sanft über seinen breiten Brustkorb, die schmale Taille und den harten flachen Bauch hinabgleiten.

Unvermittelt ergriff er ihre Hand und hielt sie dort fest, wo sie gerade lag. „Spiel keine Spielchen mit mir, wenn du dir nicht über die Konsequenzen im Klaren bist.“

„Welche Konsequenzen?“, fragte sie neckend, und als er ihre Hand losließ, gab sie der Versuchung nach und tat, was sie schon lange hatte tun wollen. Schließlich heirateten sie morgen.

Zielstrebig schob sie die Hand tiefer und scheute sich nicht, ihn zu streicheln, bis er hörbar den Atem einzog.

„Ich dachte, du hättest Kopfschmerzen“, sagte er rau.

„Hatte ich auch, aber sie sind weg.“

„Wie praktisch“, erwiderte er spöttisch.

Sie biss sich auf die Lippen und wollte sich von ihm abwenden, doch er hielt sie fest.

„Tut mir leid, aber dafür ist es jetzt zu spät. Ich habe dich gewarnt, keine Spielchen zu spielen.“

„Ich spiele nicht. Ich … ich wollte mit dir schlafen.“

„Wollte? Vergangenheit?“

„Ich will es immer noch.“

„Wenn das so ist …“ Ehe Tina wusste, wie ihr geschah, hatte er sie auf den Rücken gedreht. „Mal sehen, was ich für dich tun kann.“

Verunsichert von der wilden Entschlossenheit, mit der er vorging, sagte sie zaghaft: „Bitte, Richard …“

„Keine Sorge, dein Wunsch wird erfüllt.“ Mit einer schnellen Bewegung streifte er ihr das Nachthemd über den Kopf und warf es zur Seite.

Gleich darauf genoss sie mit wachsender Erregung die federleichten Küsse, mit denen er von den Fußspitzen an aufwärts ihre langen, schlanken Beine bedeckte. Ausgiebig widmete er sich ihren Kniekehlen und dann den empfindsamen Innenseiten ihrer Schenkel, während er sich unaufhaltsam seinem Ziel näherte.

In dieser Nacht liebte er sie lange und ausdauernd. Sein Einfallsreichtum schien keine Grenzen zu kennen. Wieder und wieder trieb er sie mit betörenden Zärtlichkeiten und raffinierten Liebkosungen zur Ekstase, bis sie schließlich völlig ermattet in seinen Armen einschlief.

Als Tina früh am nächsten Morgen aufwachte, fand sie die andere Bettseite kalt und leer vor.

Seufzend richtete sie sich auf und lehnte sich in die Kissen zurück.

Trotz ihres nächtlichen Entschlusses, ihm zu vertrauen, wusste sie, dass Helens Worte einen Keil zwischen sie und Richard getrieben hatten.

Und obwohl er sie leidenschaftlich geliebt hatte, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es nicht aus Liebe, sondern vielmehr aus Zorn geschehen war.

Wieder seufzte sie tief.

Heute war ihr Hochzeitstag. Das hätte der schönste Tag ihres Lebens werden sollen. Hätte, wenn nicht … Doch was nützte es, alles noch einmal durchzugehen?

Sie versuchte, sich auf angenehmere Dinge zu konzentrieren.

In wenigen Stunden würde sie Richards Frau sein, und morgen um diese Zeit flogen sie bereits in die Flitterwochen. Sie konnte es kaum glauben. Es war alles so schnell gegangen, dass bisher kaum jemand davon wusste.

Außer Helen O’Connell …

Immer noch hatte Tina das bittere Lachen der anderen Frau im Ohr, als diese von der kurzfristig angesetzten Hochzeit erfuhr. Und ihren zynischen Kommentar: ‚Alle Achtung! Er sagte zwar, er habe keine Zeit zu verlieren, aber dass er es so schnell über die Bühne bringen würde …‘

Während die Worte in ihrem Kopf widerhallten, erinnerte sie sich plötzlich an die lebhafte Auseinandersetzung zwischen Richard und Helen von vorgestern.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch nicht gewusst, worum es bei dem Streit ging. Nun aber ahnte sie es.

Obwohl sie sich längst nicht auf alles, was bei dem Streit gesagt worden war, einen Reim machen konnte, wusste sie nun doch zumindest, dass Helen versucht hatte, Richard von der Heirat abzuhalten.

Gegen Ende der Diskussion hatte sie verzweifelt gefragt: „Hast du denn gar keine moralischen Skrupel?“

Und Richard hatte erwidert, er könne es sich nicht leisten, den edlen Ritter zu spielen. Schaudernd dachte sie an seinen harten kalten Ton bei dem Satz: ‚Dafür habe ich zu viel zu verlieren …‘

Obwohl sie noch immer nicht begriff, was er von ihr wollte, wusste sie doch eines ganz genau: So lange sie die Wahrheit nicht kannte, konnte sie ihn nicht heiraten.

Ihn zu fragen hatte keinen Sinn. Von ihm würde sie keine Antwort bekommen. Von Helen O’Connell schon eher … Falls es ihr gelang, hinter Richards Rücken Kontakt mit ihr aufzunehmen.

Die Idee, Helen anzurufen, verwarf sie schnell wieder. Diese Angelegenheit verlangte eine persönliche Klärung. Doch Farrington Hall, der Wohnsitz der O’Connells, lag etwa vier Meilen vom Schloss entfernt und ihr blieb nur wenig Zeit.

Zu wenig, um die Strecke zu Fuß zurückzulegen.

Da kam ihr die rettende Idee. Wenn es ihr gelänge, sich ungesehen aus dem Haus und zu den Ställen zu schleichen – durch den Haupteingang natürlich, um keinem der Hausangestellten in die Arme zu laufen –, konnte sie sich Juno für einen Ausritt satteln lassen.

Nachdem sie geduscht und die Hose und Seidenbluse vom Vortag angezogen hatte, huschte Tina leise die Treppe hinunter. Sie hatte die Eingangshalle gerade erreicht, als irgendwo in der Nähe eine Tür aufging.

Mit stürmisch klopfendem Herzen blieb sie wie angewurzelt stehen.

Als sie nach einigen Sekunden bangen Wartens keine Schritte hörte, schlich sie heimlich wie ein Dieb durch die Halle und stahl sich zur Tür hinaus.

Auch an diesem Morgen war es trotz der frühen Stunde draußen bereits mild und sonnig. Erhitzt und außer Atem kam Tina nach einem flotten Dauerlauf bei den Ställen an.

Josh stapelte Heuballen im Hof. Die beiden Pferde reckten neugierig die Hälse über die Stalltür.

„Schönen guten Morgen, Miss.“ Er tippte zur Begrüßung an seine Mütze.

„Guten Morgen, Josh.“

„Wollen Sie ausreiten?“

„Wenn es Ihnen keine Mühe bereitet …“

„I wo, ganz und gar nicht. Juno kann’s kaum erwarten! Ich werd sie im Nullkommanichts aufzäumen.“

Während er Tina die Reitkappe überreichte, fragte er breit lächelnd: „Kommt Mr. Richard nach?“

„Nein, er … er hat noch etwas anderes zu tun.“

Während der Pferdepfleger die Stute sattelte, schnallte Tina mit vor Ungeduld zitternden Fingern die Reitkappe fest. Wenn Richard nun plötzlich hier auftauchte?

Doch sie hatte Glück, er kam nicht. Erleichtert bedankte sie sich bei Josh, schwang sich auf den Pferderücken und ritt davon.