2. KAPITEL

Während Tina ihn noch entgeistert ansah und sich fragte, welche Absichten er mit seinem Angebot wohl verfolgte, wiederholte er seelenruhig: „Sie können gern mit zu mir nach Hause kommen.“

Da er bei einer Frau wie ihr mit keinerlei Widerstand gerechnet hatte, überraschte es ihn, als sie im Brustton der Überzeugung sagte: „Auf keinen Fall.“

„Warum nicht? Ich stelle Ihnen mein Gästezimmer zur Verfügung.“

Obwohl die Erwähnung eines Gästezimmers sie beruhigte, hatte sie erhebliche Vorbehalte. Ein Mann von Ende zwanzig, Anfang dreißig wurde vermutlich zu Hause von seiner Ehefrau erwartet.

„Vielen Dank“, meinte sie, „aber …“

„Und wenn es nur für heute Nacht ist“, fiel er ihr ins Wort. „Morgen suchen Sie sich dann in Ruhe ein Hotelzimmer.“

„Und was sagt Ihre Frau dazu?“, fragte sie auf gut Glück.

„Nicht viel. Ich bin nicht verheiratet.“

Er ist nicht verheiratet! Ihre Laune hob sich augenblicklich, doch dann folgte die niederschmetternde Erkenntnis, dass er vermutlich mit seiner Freundin zusammenlebte.

„Haben Sie … ich meine, gibt es …“

„Eine Frau im Haus?“, erriet er ihren Gedanken. „Aber natürlich.“

Na also, sie hatte es doch geahnt!

„Vielen Dank“, sagte sie höflich, „aber ich glaube, ich übernachte doch lieber im Hotel.“

Er seufzte. „Jetzt habe ich Sie abgeschreckt. Und ich dachte, Sie fänden es beruhigend, ein anderes weibliches Wesen in der Nähe zu wissen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich will Ihnen keine Umstände bereiten. Und erst recht nicht Ihrer …“

„Ach, Gwen stört es nicht, wenn Sie im Haus übernachten“, versicherte er fröhlich.

Mich würde es stören, wenn ich mit ihm zusammen wäre und er eine andere Frau mit nach Hause brächte. „Nein, danke“, lehnte sie energisch ab. „Ihre Freundin wäre sicher nicht begeistert …“

„Gwen ist nicht meine Freundin, sie ist meine Haushälterin.“ Todernst fügte er hinzu: „Eine grundanständige Person und eifrige Kirchgängerin.“

Tina runzelte die Stirn. Machte er sich über sie lustig?“

„Sie haben doch hoffentlich nichts gegen fromme Menschen einzuwenden?“, fragte er scheinheilig.

„Nein, natürlich nicht“, versicherte sie und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, als sie das spöttische Funkeln in seinen Augen bemerkte.

„Dann ist ja alles geklärt“, sagte er, ließ den Motor an und lenkte den Wagen geschickt vom Parkplatz auf die Hauptverkehrsstraße, bevor sie etwas einwenden konnte.

Obwohl Tina sich auf unerklärliche Weise zu diesem Mann hingezogen fühlte, wusste sie, wie leichtsinnig es war, sich zu einem Wildfremden ins Auto zu setzen. Dass er einen teuren Anzug trug und sich gepflegt ausdrückte, hieß noch lange nicht, dass er keine unlauteren Absichten hatte, wie ihre Mutter zu sagen pflegte.

Doch warum sollte er es ausgerechnet auf sie abgesehen haben? Sie war groß und schlank, hatte schöne Haut und ein nettes Gesicht, war aber sicher nicht der Typ Frau, der Männer um den Verstand brachte. Und bei seinem Aussehen und seinem Charisma mangelte es ihm bestimmt nicht an Verehrerinnen. Wahrscheinlich brauchte er nur mit dem kleinen Finger zu winken, und sie rannten ihm scharenweise die Tür ein.

Davon abgesehen wirkte er durchaus vertrauenerweckend. Und sein Angebot war vielleicht die einzige Chance, ihn näher kennenzulernen. Wenn sie darauf bestand, sich am Hotel absetzen zu lassen, sah sie ihn womöglich nie wieder.

Den Gedanken konnte sie kaum aushalten. Obwohl sie selbst nicht verstand, wie ein Mann, den sie gar nicht kannte, derart heftige Gefühle in einer ruhigen, beherrschten Frau wie ihr wecken konnte.

Kurzerhand schlug sie alle Bedenken in den Wind. „Wo wohnen Sie?“

Seine Miene hellte sich auf. „Ich habe ein Haus am Pemberley Square.“

„Oh …“ Eine erstklassige Wohngegend, nicht zu vergleichen mit dem Viertel, in dem das Fairbourn lag.

„Übrigens, mein Name ist Richard Anderson“, stellte er sich jetzt vor.

„Tina Dunbar.“

„Tina?“, fragte er, leicht verwundert.

„Die Abkürzung für Valentina“, erklärte sie verlegen.

„Haben Sie zufällig am vierzehnten Februar Geburtstag?“

„Ja. Ein ziemlich altmodischer Name, oder?“

„Mir gefällt er.“

Leise surrend glitten die Scheibenwischer hin und her, während sie über nassglänzende Straßen, in denen sich die Leuchtreklamen spiegelten, Richtung West End fuhren.

„Sie arbeiten also bei Cartel Wines. Was genau tun Sie dort, Valentina?“, wollte ihr Begleiter wissen.

Sein schönes, scharf geschnittenes Profil, sein muskulöser Oberschenkel dicht an ihrem und der zartherbe Duft seines Aftershaves verfehlten nicht ihre Wirkung auf Tina.

„Ich bin für Werbung und Verkaufsförderung zuständig. Besser gesagt, ich war es“, antwortete sie nervös.

„Sie geben die Stelle auf?“

„Gezwungenermaßen, ja. Der Montana-Konzern, der die Firma Cartel Wines übernimmt, setzt sein eigenes Marketingteam ein. Ich werde nicht mehr gebraucht.“

„Waren Sie lange dort beschäftigt?“

„Seit meinem Collegeabschluss.“

„Das kann nicht lange gewesen sein“, meinte er und streifte sie mit einem Lächeln. „Sie sehen aus wie sechzehn.“

„Ich bin dreiundzwanzig“, erwiderte sie schmollend.

So alt!“ Er lachte, und sie ließ sich von seinem Lachen anstecken.

„Sie arbeiten nicht bei Cartel Wines, oder?“, erkundigte sie sich.

„Nein.“ „Ein Besucher sind Sie aber auch nicht. Jedenfalls kein normaler.“

„Ist das ein Kompliment oder ein Vorwurf?“

„Eine Feststellung. Besucher benutzen den Haupteingang und verlassen das Gebäude normalerweise vor den Angestellten.“

„Also gut, ich bekenne mich schuldig, mich nicht normal verhalten zu haben“, räumte er ein, was ihre Frage nach dem Grund seines Besuches aber nicht beantwortete. Doch ehe sie nachhaken konnte, fuhr er fort: „Wir sind uns heute Mittag schon einmal begegnet, erinnern Sie sich?“

Und ob, dachte sie. Auch er hatte sie also wiedererkannt … „Stimmt, ich hatte mir gerade etwas zu essen geholt.“

„Woran Sie nicht viel Freude hatten, fürchte ich. Sie müssen halb verhungert sein! Keine Sorge, wir sind gleich da. Gwen hat sicher etwas Gutes gekocht.“

Tina wollte Einspruch erheben, doch er kam ihr zuvor: „Kein Problem, Gwen kocht immer reichlich. Als junge Frau musste sie eine Großfamilie bekochen, und die Mengen hat sie beibehalten. Ihre Kirchengemeinde unterhält ein Zentrum für Obdachlose, und jeden Abend lädt sie ihren Kofferraum mit Lebensmitteln voll und bringt sie dorthin.“

Von da an schilderte er ausführlich das soziale Engagement seiner Haushälterin, bis sie Pemberley Square erreichten. Dort bog er in die Einfahrt einer schönen, säulengeschmückten Stadtvilla ein.

Es regnete immer noch, als er Tinas Koffer aus dem Wagen nahm, ihr beim Aussteigen half und sie über das nasse, laubgesprenkelte Pflaster zur Haustür führte. Sie betraten eine stattliche Eingangshalle, deren Mitte ein prächtiger Kronleuchter zierte. Eine hagere, grauhaarige Frau in adretter weißer Schürze kam ihnen entgegen.

„Hallo, Gwen! Ich habe einen Überraschungsgast mitgebracht“, meinte Richard Anderson und stellte die beiden Frauen einander vor.

„Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Die Haushälterin versicherte Tina lächelnd, dass es ihr keinerlei Umstände mache, sie unterzubringen. „Das Gästezimmer ist hergerichtet und das Essen steht im Backofen. Wenn Sie sich gern frisch machen würden …“

„In der Zwischenzeit sehe ich nach meinen E-Mails“, schaltete sich Tinas Gastgeber ein, „und dann nehmen wir einen kleinen Aperitif zu uns.“ Mit einem Blick auf seine Armbanduhr fügte er an seine Haushälterin gewandt hinzu: „Aber lassen Sie Ihre Schützlinge nicht warten. Wir bedienen uns selbst.“

Gwen Baxter nickte dankbar. „Ach, bevor ich es vergesse … Ms. O’Connell hat versucht, Sie zu erreichen, aber Ihr Handy war abgestellt. Sie war ziemlich ungehalten.“

Richard, dem die säuerliche Miene seiner Angestellten nicht entging, fragte teilnahmsvoll: „Hat Helen Ihnen die Hölle heiß gemacht? Sie Ärmste!“

Die Haushälterin lächelte großmütig. „Die junge Dame bittet um Ihren Rückruf.“

„Ich kümmere mich darum, vielen Dank.“

Mrs. Baxter nahm Tinas Köfferchen und führte sie die breite, geschwungene Treppe hinauf in die obere Etage. Währenddessen plauderte sie munter vor sich hin: „Mr. Anderson ist wirklich ein netter, rücksichtsvoller Mensch. Einen besseren Arbeitgeber kann man sich nicht wünschen.“

Tina, deren Knöchel sich so weit erholt hatte, dass sie die flachen Stufen problemlos bewältigen konnte, fragte: „Wie lange arbeiten Sie schon für ihn?“

„Seit über sechs Jahren, und in der ganzen Zeit habe ich ihn nie unfreundlich oder schlecht gelaunt erlebt. Und großzügig ist er auch“, schwärmte die Haushälterin. „Die Obdachlosen, die ich betreue, haben ihm einiges zu verdanken. Er hat ein großes Lagerhaus gekauft und es in Unterkünfte umbauen lassen, kommt persönlich für den Unterhalt auf und stellt Geld für Lebensmittel zur Verfügung.“

„Klingt beeindruckend.“

„Allerdings.“ Die ältere Frau strahlte. „Er hat schon vielen geholfen. Nicht mit frommen Sprüchen, sondern mit tatkräftiger Unterstützung. Zum Beispiel, indem er ihnen eine Arbeit verschafft.“

Tina wollte gerade fragen, in welcher Branche Richard Anderson tätig war, als Mrs. Baxter die Tür zu einem großen, in Pastellfarben gehaltenen Schlafzimmer öffnete. Durch das Fenster sah man auf den erleuchteten Pemberley Square mit seinen gepflegten Grünanlagen und schönen alten Bäumen.

Nachdem sie den Koffer abgestellt und die Vorhänge zugezogen hatte, ließ die ältere Frau Tina in dem hübschen, modern eingerichteten Gästezimmer allein. Der Teppichboden war hell und flauschig, das breite Bett sah einladend aus, und es gab einen geräumigen, begehbaren Kleiderschrank. Der größte Luxus aber war das eigene Badezimmer, das Tina sofort in Beschlag nahm.

Während sie unter der Dusche stand und heißes Wasser über ihre nackte Haut lief, dachte sie über Richard Anderson nach. Mrs. Baxters überschwängliche Lobeshymne hatte jeden Zweifel an seinen ehrbaren Absichten ausgeräumt. Jetzt war sie froh, seine Gastfreundschaft angenommen zu haben.

Nach dem Duschen zog sie statt ihres Businesskostüms ein feines, sandfarbenes Wollkleid mit durchgehender Knopfleiste an, verzichtete aber ihrem Knöchel zuliebe auf Pumps und schlüpfte wieder in die flachen Ballerinas. Dann ging sie, dezent geschminkt und frisch frisiert, nach unten.

Die Aussicht auf einen gemeinsamen Abend mit Richard Anderson versetzte sie in prickelnde Erregung. Zum ersten Mal in ihrem Leben bedauerte sie, nicht klug, schön, aufregend und verführerisch genug zu sein, um sein Interesse zu wecken.

Sie war nichts von alledem, sondern absolut durchschnittlich. So durchschnittlich, dass sie nicht einmal einen Mann wie Kevin bei der Stange halten konnte, der zwar gut aussah, aber dem attraktiven, charismatischen Richard Anderson nicht das Wasser reichte.

Wobei Richards Attraktivität nichts mit seinem Reichtum zu tun hatte. Auch als armer Mann hätte er dieses Charisma besessen, diese Ausstrahlung von Selbstbewusstsein und Energie, die ihn so anziehend machte und ihm vermutlich dazu verholfen hätte, nicht lange arm zu bleiben.

Das Arbeitszimmer lag, wie sie von Mrs. Baxter wusste, am Ende der Halle. Zaghaft klopfte Tina an, bevor sie eintrat.

Es war ein freundlicher Raum mit hohen Bücherregalen, einem dicken burgunderroten Teppich und farblich passenden Samtvorhängen. Vor dem offenen Kamin, in dem ein knisterndes Feuer brannte, standen üppig gepolsterte Ledersessel und ein kleiner runder Tisch. Die indirekte Beleuchtung verlieh dem Raum eine anheimelnde, nahezu intime Atmosphäre.

Richard, der vor dem Kamin stand, drehte sich um und kam ihr entgegen. Er wirkte so kühl und elegant, dass sie schon bei seinem Anblick Herzklopfen bekam. Offenbar hatte auch er geduscht und sich umgezogen, denn sein Kinn war glattrasiert, das dichte schwarze Haar feuchtglänzend aus der Stirn gekämmt und statt des Anzugs trug er nun dezente Freizeitkleidung.

„Da sind Sie ja! Kommen Sie, machen Sie es sich bequem.“

Eine Hand an ihrer Taille – die leichte Berührung genügte, um Tina völlig aus der Fassung zu bringen –, führte er sie zu einem der Sessel. So würdevoll wie möglich ließ sie sich darin nieder.

Er bemerkte den Hauch von Make-up auf ihrem Gesicht, lächelte und meinte neckend: „Alle Achtung, jetzt sehen Sie aus wie achtzehn. Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten?“

Noch völlig hingerissen von seinem offenen, strahlenden Lächeln bat Tina nervös um ein Glas Orangensaft.

Während er zerstoßenes Eis in ein Glas gab und es mit frisch gepresstem Orangensaft auffüllte, musterte sie ihn verstohlen. In der perfekt sitzenden dunkelgrauen Leinenhose und dem schwarzen Polohemd sah er einfach umwerfend aus. Ihr Herz schlug schneller.

Als er aufsah, wandte sie schnell den Blick ab.

„Hier, bitte.“ Er reichte ihr ein schmales, eisgekühltes Glas Saft.

Nachdem er sich einen Whiskey-Soda gemixt hatte, lehnte er sich mit dem Glas in der Hand lässig an den Kamin. Halb dem Feuer zugewandt, beobachtete er wohlwollend aus dem Augenwinkel, wie Tina an ihrem Orangensaft nippte.

Richard hatte erwartet, dass ihr Lebenswandel Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassen hatte, doch selbst aus der Nähe sah sie frisch und gesund aus, mit klarem Blick und rosigen Wangen. Viel zu unverbraucht für eine Frau mit ihrer Vergangenheit.

Dass sie blond und blauäugig war, hatte er gewusst. Schon beim Betrachten der Fotos hatte er bemerkt, wie gut sie aussah.

Als er sie dann zum ersten Mal leibhaftig vor sich sah, stellte er fest, dass die Fotos ihr in keiner Weise gerecht wurden.

Sie war schön.

Bewundernd musterte er ihre blau-violetten, leicht schräg stehenden Augen mit den langen dichten Wimpern, ihr seidig glänzendes Haar, das in einem satten Goldton schimmerte – von Natur aus, darauf würde er wetten –, ihre sanft geschwungenen Augenbrauen und hohen Wangenknochen. Sein Blick glitt weiter zu ihren schönen vollen Lippen, die ihm plötzlich unwiderstehlich verlockend vorkamen. Nein, er musste sich korrigieren.

Sie war nicht schön. Sondern viel mehr als das.

Bezaubernd, hinreißend, voller rätselhafter Widersprüche. Trotz ihres sinnlichen Mundes umgab sie eine Aura von Unschuld und Verletzlichkeit. So sehr dieser Eindruck auch täuschen mochte, war es genau das, was ihn am meisten an ihr faszinierte. Und was ihm gefährlich werden konnte.

Ärgerlich schob er den Gedanken beiseite. Sie attraktiv zu finden war kein Problem, solange er nur sein Ziel nicht aus den Augen verlor.

Während der letzten Wochen hatte er diverse Vorgehensweisen ins Auge gefasst, aber beschlossen, sie erst besser kennenzulernen, bevor er einen seiner Pläne in die Tat umsetzte. Dann aber hatten sich die Ereignisse überstürzt, und nun kam eine behutsame Annäherung nicht mehr in Frage.

Die Zeit drängt. Ihm blieb keine andere Wahl, als die Sache so schnell wie möglich voranzutreiben. Es musste sein.

Nicht, dass es ihn übermäßige Überwindung kosten würde, sie zu verführen. Im Gegenteil! Wenn er sie so ansah, wünschte er sich genau das.

Doch er durfte nicht schwach werden und keine Gefühle zulassen. Wobei es nicht schaden konnte, wenn sie eine gewisse Schwäche für ihn entwickelte. Soweit er es beurteilen konnte, interessierte sie sich durchaus für ihn. Obwohl sie für eine so lebenslustige Frau erstaunlich zurückhaltend vorging.

Dem Bericht zufolge war sie durchaus kein Kind von Traurigkeit. Sie mochte wie ein Unschuldsengel aussehen, aber er rechnete nicht damit, dass sie Skrupel haben würde, mit ihm ins Bett zu gehen. Falls doch, würde er dafür sorgen, dass sie diese im Laufe des Abends verlor.

Sie hob den Kopf, sah die Entschlossenheit in seinem Blick und fragte verwirrt: „Was ist los?“

„Nichts“, erwiderte er gleichmütig. Der harte Zug um seinen Mund verschwand so plötzlich, als wäre er nie da gewesen. „Möchten Sie noch einen Drink? Diesmal vielleicht meine Spezialmischung?“

„Und die wäre?“

„Nichts Besonderes, nur Saft mit einem Schuss Cointreau.“

Lachend nahm sie das Glas von ihm entgegen. Jetzt, aus der Nähe, fiel ihr auf, dass seine Augen nicht braun waren, wie sie zunächst angenommen hatte, sondern dunkelgrün mit goldenen Sprenkeln darin. Schöne, ausdrucksvolle Augen mit schweren Lidern und dichten schwarzen Wimpern.

Während sie noch zu ihm aufsah, nahm er ihr das Glas aus der Hand und stellte es auf den Tisch. Langsam und bedächtig beugte er sich zu ihr und küsste sie auf den Mund.

Tina war schon oft geküsst worden, aber noch nie auf diese Weise. Er nahm sie nicht in die Arme, fasste sie nicht an, sondern berührte nur sanft ihre Lippen mit seinen.

Und doch enthielt dieser Kuss alles, was sie sich je erträumt hatte. Eine warme, zärtliche und zugleich leidenschaftliche Liebkosung, ein raffiniertes Spiel aus Geben und Nehmen, das er meisterhaft beherrschte.

Als er sich schließlich von ihr löste, war sie wie verzaubert.

„Seit ich dich dort im Regen stehen sah, hatte ich nur den einen Wunsch, dich zu küssen“, sagte er rau.

Obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass ein Mann wie Richard Anderson an einer ernsthaften Beziehung mit ihr interessiert sein könnte, schwebte Tina wie auf Wolken. Offenbar fand er sie genauso anziehend wie sie ihn, und das allein machte sie schon glücklich.

Oder? Es führte doch zu nichts! Und riskant war es auch, falls er es nämlich darauf abgesehen hatte, sie zu verführen. Was sie nach diesem Kuss nicht länger ausschließen konnte.

Nein, sie hatte kein Interesse an einem flüchtigen Abenteuer. Sollte er versuchen, sie ins Bett zu bekommen, würde sie kühl und abweisend reagieren. Oder zumindest so tun als ob. Schließlich besaß sie Übung darin, Männer in ihre Schranken zu weisen.

Doch diese Männer hatten sie entweder nicht interessiert, oder sie hatte die Beziehung zu ihnen aus dem einen oder anderen Grund lieber abgebrochen. So altmodisch es auch klingen mochte – Tina glaubte fest daran, dass Liebe und Treue untrennbar miteinander verbunden waren und die Ehe den besten Rahmen für Sex bot.

Obwohl sie weder engstirnig noch intolerant war, hatte sie sich bisher immer strikt an diese Prinzipien gehalten. Einige ihrer Freundinnen erklärten sie für verrückt, andere bewunderten sie für ihre Standfestigkeit. Ruth allerdings war der Meinung, sie sei nur noch nie ernsthaft in Versuchung geraten.

„Nein, natürlich erinnere ich mich an Kevin, aber er hatte einfach nicht das Zeug dazu, dir ernsthaft gefährlich zu werden“, hatte sie behauptet. „Gut, dass du ihn nicht geheiratet hast, sonst hättest du eine der wunderbarsten Erfahrungen im Leben glatt verpasst.“

„Woran denkst du?“ Richards Stimme brachte Tina zurück in die Gegenwart.

Errötend antwortete sie: „An etwas, das eine Freundin einmal zu mir gesagt hat.“

„Du bist mir doch nicht böse, weil ich dich geküsst habe?“ Als sie den Kopf schüttelte, fügte er aufreizend selbstbewusst hinzu: „Ich nehme an, es gibt keinen Freund, der etwas dagegen haben könnte?“

„Und wenn doch?“, erwiderte sie spitz.

„Dann müsste ich dich ihm ausspannen“, erwiderte er lächelnd, doch sie beschlich das beunruhigende Gefühl, dass er es todernst meinte. „Gibt es denn jemanden?“

„Ich war verlobt, aber wir haben uns vor einigen Monaten getrennt.“

„Offiziell verlobt, mit Ring und allem?“, fragte er mit einem Blick auf ihre Hand, an der kein Ring steckte.

Sie nickte.

„Wer hat sich von wem getrennt?“

„Ich mich von ihm.“

„Und warum?“

Zögernd sah sie zu ihm auf. „Ich habe ihn mit einer anderen Frau erwischt.“

„Liebst du ihn noch?“

„Nein“, sagte sie, und es stimmte.

„Aber du bist noch unglücklich darüber.“

Das war sie gewesen, bis heute. Wenn auch mehr über die Art und Weise der Trennung als über die Sache selbst.

„Anfangs schon, aber jetzt nicht mehr.“ Verlegen trank sie einige große Schlucke aus ihrem Glas.

Richard nahm ihr gegenüber Platz, wechselte galant das Thema, und so plauderten sie eine Weile über die Auswirkungen des langen, sonnigen Sommers auf die diesjährige Weinlese. Ganz der aufmerksame Gastgeber, schenkte er ihr noch einmal nach, während er selbst seinen Drink kaum anrührte.

Schließlich erhob er sich mit den Worten: „Lass uns etwas essen, bevor du mir noch umfällst vor Hunger. Geht es?“, fragte er besorgt, als sie vorsichtig aufstand. „Heute Mittag hast du gehinkt.“

„Kein Problem.“ Sie nahm den dargebotenen Arm und ließ sich in das stilvoll in Creme- und Goldtönen eingerichtete Esszimmer führen.

Während der Mahlzeit unterhielten sie sich entspannt über Bücher, Musik, Kunst und Theater und stellten fest, dass ihr Geschmack vielfach übereinstimmte. Und dass sie beide das Lesen dem Fernsehen vorzogen.

Richard servierte einen exzellenten Weißwein zu Mrs. Baxters deftigem Auflauf. Nach dem zweiten Glas fühlte sich Tina leicht angeheitert, deshalb trank sie ihren Kaffee schwarz und lehnte den angebotenen Cognac dankend ab.

Obwohl es spät geworden war, führte Richard, der jetzt nichts überstürzen wollte, Tina wieder zu der Sitzgruppe vor dem Kamin. Er legte Holz nach und schlug vor, noch einen Gutenachtdrink zu sich zu nehmen.

Da sie glücklich war, hier mit ihm sitzen zu können, lehnte sie nicht ab, als er ihr einen Cognacschwenker mit einer goldgelben Flüssigkeit reichte.

„Was hast du mit deinem Knöchel gemacht?“, fragte er interessiert, und sie erzählte ihm von ihrem unglücklichen Start in den Tag.

Mitfühlend schüttelte er den Kopf. „Und das an einem Freitag dem Dreizehnten! Dann lässt du auch noch dein Mittagessen fallen, erhältst deine Kündigung, und zu guter Letzt demoliere ich dein Auto!“

Der Verlust ihrer Arbeitsstelle bedeutete wirklich ein Problem, aber selbst das rückte in den Hintergrund, als sie jetzt gemütlich im Schein des Feuers mit Richard vor dem Kamin saß. „Halb so schlimm“, sagte sie. „De Vere stellt mir ein erstklassiges Zeugnis aus, und ich finde hoffentlich bald etwas Neues.“

„Du kennst dich wohl mit Wein gut aus?“

„Allerdings, das ist Voraussetzung in meinem Job.“

Er musterte sie nachdenklich. „Hast du eine Ahnung, woher der Wein kam, den wir eben getrunken haben?“

„Aus Frankreich“, erwiderte sie prompt und nannte nach kurzem Überlegen auch die Region und den Jahrgang.

„Das lernt man aber nicht im College, oder?“

Sie glaubte, einen Anflug von Ironie aus seiner Bemerkung herauszuhören. „Nein, natürlich nicht“, sagte sie mit leicht schleppender Stimme. „Es gehört Übung dazu, die besondere Note …“

Weiter kam sie nicht. Von bleierner Müdigkeit übermannt, wollte sie plötzlich nur noch eins – schlafen.

„Ich glaube, du bist reif fürs Bett“, meinte Richard. Schnell und geschmeidig erhob er sich von seinem Sessel, während Tina sich benommen aufrappelte. „Brauchst du Hilfe?“

„Nein, es geht schon …“ Auf wackeligen Beinen stakste sie zur Tür. Warum hatte sie auch diesen verflixten Cognac noch trinken müssen?

Richard wartete, bis sie in der Diele war, bevor er kurz entschlossen verkündete: „Ich trage dich nach oben.“

„Nein, lass nur …“ Bei der Vorstellung, in seinen kräftigen Armen zu liegen, an seine breite Brust geschmiegt, wurde ihr heiß, doch schon im nächsten Moment hob er sie schwungvoll hoch.

„Richard, setz mich sofort ab!“ Tinas sonst eher dunkle, rauchige Stimme klang schrill vor Aufregung. „Wenn deine Haushälterin uns nun sieht?“

„Niemand wird uns sehen“, antwortete er ruhig. „Gwen kümmert sich heute Nacht um einen kranken Patienten im Obdachlosenzentrum und Jervis, mein Chauffeur und Hausmeister, wohnt in einem Apartment über der Garage.“

„Oh“, flüsterte Tina nur.

Während er sie die Treppe hinauftrug, versicherte er ihr noch einmal lächelnd und mit sanftem Nachdruck in der Stimme: „Du siehst, wir sind ganz ungestört.“