4. KAPITEL

Bebend vor Erregung schmiegte sich Tina an ihn, sie genoss die leidenschaftlichen Küsse und die Art, wie seine Hände zärtlich über ihren Körper wanderten.

Als Richard eine der rosigen Knospen ihrer Brüste zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und zärtlich daran rieb, während er die andere mit der Zungenspitze liebkoste, seufzte sie vor Verlangen.

Mit der freien Hand streichelte er den flachen Bauch, die sanft gerundeten Hüften und dann die zarte Haut an der Innenseite ihrer Oberschenkel. Voller Genugtuung hörte er, wie sie atemlos seinen Namen flüsterte, als seine Finger höher glitten.

Er musste handeln, und zwar bald. Noch hatte er sich unter Kontrolle, aber wie lange noch?

Als er nach einem langen erregenden Vorspiel endlich ihre Bitte erhörte und sich auf sie legte, war es für Tina die natürlichste Sache der Welt, ihn willkommen zu heißen. Seufzend vor Glück legte sie die Arme um seinen Nacken.

Nur um gleich darauf zu erstarren, als er sich mit einer Bemerkung, die sie nicht verstand, abrupt von ihr zurückzog.

Erschrocken öffnete sie die Augen.

Richard stieg aus dem Bett, deckte sie zu und zog sich lässig den Morgenmantel über, während sie fassungslos vor Enttäuschung dalag.

Trotz ihrer Unerfahrenheit war ihr nicht verborgen geblieben, wie sehr er sie begehrte. Weshalb also dieser plötzliche Sinneswandel?

„Gwen ist zurück.“ Er beugte sich zu Tina und gab ihr einen flüchtigen Kuss. „Sie kann jeden Moment hier heraufkommen, also mache ich mich lieber rar.“

Dass sie selbst nichts gehört hatte, fand Tina unter diesen Umständen nicht weiter verwunderlich. Viel mehr irritierte sie die Gelassenheit, mit der Richard das Frühstückstablett von der Kommode nahm und zur Tür ging. Beinahe so, als habe er seinen Abgang vorher geplant.

Doch warum hätte er das tun sollen? Es ergab keinen Sinn. Viel nahe liegender war die Erklärung, dass er ihrem Zusammensein nicht halb so viel Bedeutung beimaß wie sie.

Die übertriebene Rücksicht, die er auf seine Haushälterin nahm, ließ vermuten, dass er seine Freundinnen normalerweise nicht mit nach Hause brachte. Dennoch kam er in dieser Hinsicht sicher nicht zu kurz, und die Unterbrechung war für ihn nichts weiter als eine lästige Bagatelle.

Tina aber fühlte sich so niedergeschlagen und verlassen, als wäre sie vom Tor zum Paradies verstoßen worden.

Doch wenn Mrs. Baxter tatsächlich im Anmarsch war, stand sie lieber schnell auf und zog sich an. Denn sie legte keinen Wert darauf, wie ein Häufchen Elend von der freundlichen Dame im Bett angetroffen zu werden.

Während sie sich frisierte und ein leichtes Make-up auflegte, versuchte sie verzweifelt, die brennende Sehnsucht zu ignorieren, die sie seit Richards abruptem Rückzug verspürte. Schweren Herzens erkannte sie, dass Sex nicht nur eine süße, sondern auch eine bittere Seite besaß – nämlich, wenn das Verlangen unerfüllt blieb.

Mit Koffer, Tasche und Mantel bepackt machte sie sich auf den Weg nach unten. Sie wollte keinen weiteren Gedanken daran verschwenden, was zwischen ihr und Richard hätte sein können – und nicht war.

In der Eingangshalle blieb sie zögernd stehen. Wie einfach wäre es gewesen, wenn sie jetzt sang- und klanglos verschwinden könnte, genauso frei und unabhängig, wie sie gekommen war!

Doch sie konnte nicht.

Sie war nicht mehr frei in ihrer Entscheidung. Davonzulaufen und ihn zu verlassen kam ihr plötzlich so unvorstellbar vor wie eine Reise zum Mond. Gefühle, die sie selbst nicht verstand, banden sie wie unsichtbare Fesseln an Richard.

Eine Vorstellung, die sie gleichermaßen ängstigte wie faszinierte.

Aber sie konnte sich doch unmöglich in ihn verliebt haben! Nicht nach so kurzer Zeit. Und doch schien sich über Nacht alles verändert zu haben. Gestern war sie noch einsam und frustriert gewesen, heute fühlte sie sich wie zu neuem Leben erwacht.

Selbst als Kevin und sie frisch verlobt gewesen waren, hatte sie nicht diese übersprudelnde Lebendigkeit verspürt, die Richards Nähe in ihr auslöste.

Doch was immer sie für ihn empfand, eines stand fest – gleich nach dem Ausflug zum Schloss würde sie sich ein Hotelzimmer suchen.

Unten angekommen, stellte sie den Koffer ab und ging auf das Arbeitszimmer zu, blieb aber stehen, als sie durch die angelehnte Tür Richards Stimme hörte. Er telefonierte.

„Ja, ich weiß, aber wie die Dinge liegen …“, sagte er gerade, und dann, nach kurzer Pause: „Versteh doch, ich muss jetzt handeln. Ich kann nicht riskieren, noch länger zu warten.“

Tina wandte sich gerade zum Gehen, als er in energischem Ton erklärte: „Das will ich hoffen! So, ich muss los. Bis dann.“

Eine Sekunde später schwang die Tür auf und er kam mit düsterer Miene heraus. „Ah, da bist du ja. Ich wollte dich gerade holen. Und? Bereit zur Abfahrt?“

Als sie nickte, glätteten sich seine Züge. „Sehr gut“, meinte er, legte den Arm um ihre Taille und schob Tina zu Tür.

„Ich würde gern meinen Koffer mitnehmen“, sagte sie schnell, um zu verhindern, dass sie ihrem Vorsatz doch noch untreu wurde. „Dann kannst du mich auf der Rückfahrt gleich an einem Hotel absetzen.“

„Wie du wünschst“, erwiderte er nur.

Draußen empfingen sie ein strahlend blauer Himmel und warmer Sonnenschein. Noch einmal zeigte sich der Herbst von seiner schönsten Seite. Eine milde Brise wehte den Duft spät blühender Rosen aus dem Park herüber, irgendwo in der Nähe sang ein Vogel und verlieh der Großstadt den Zauber einer ländlichen Idylle.

Hinter dem schicken silbernen Porsche parkte eine dunkelblaue Limousine in der Auffahrt. Der Chauffeur, ein untersetzter Mann mittleren Alters, stand wartend daneben.

„Danke, Jervis, ich fahre selbst“, meinte Richard. „Bringen Sie doch die Limousine wieder in die Garage und nehmen Sie sich den Rest des Tages frei.“

„Gern, Sir“, sagte der Mann erfreut.

„Sie wissen doch, dass heute Nachmittag das Spiel Ihrer Lieblingsmannschaft übertragen wird, oder?“, erkundigte sich sein Chef lächelnd.

Jervis lachte. „Worauf Sie wetten können! Sobald Mrs. Baxter kommt, machen wir es uns vor dem Fernseher gemütlich. Sie ist genauso ein Fan wie ich.“

Also war die Haushälterin noch gar nicht wieder da. Richard musste sich vorhin verhört haben. Oder hatte er absichtlich gelogen?

„Ach, vergiss es“, schalt sie sich ärgerlich. Was war nur in sie gefahren? Nun fing sie schon an, Gespenster zu sehen!

Stadtauswärts herrschte dichter Verkehr, und anfangs kamen sie nur im Schneckentempo voran. Als sie jedoch die Außenbezirke Londons hinter sich gelassen hatten, lösten sich die Staus allmählich auf.

„Wie lange ist das Schloss schon im Besitz deiner Familie?“, fragte Tina, als Richard sich nicht mehr auf den Stadtverkehr konzentrieren musste.

„Seit über sechshundert Jahren“, antwortete er, was sie sehr beeindruckte. „Meine Mutter wuchs dort bei ihren Großeltern auf, nachdem ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Von meinem Urgroßvater habe ich auch das Unternehmen geerbt, als er mit dreiundneunzig Jahren starb.“

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Mein Vater, Richard Cavendish, nahm meiner Mutter und ihren Großeltern zuliebe bei der Hochzeit den Namen Anderson an und zog zu ihr auf das Schloss. So blieb der Familienname erhalten.“

„Wohnen deine Eltern noch dort?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, sie sind beide tot.“ Leise fügte er hinzu: „Meine Mutter starb Anfang des Jahres.“

„Das tut mir leid“, sagte Tina. „Du musst sie vermissen.“

Er warf ihr einen langen Blick aus seinen goldgesprenkelten Augen zu und nickte.

„Hast du noch Geschwister?“, wollte sie wissen.

„Nein, ich bin der letzte Abkömmling dieses Zweiges der Familie Anderson. Zumindest bis ich heirate und selbst Kinder habe. Dann werden wir alle zusammen im Schloss leben.“

Es schmerzte Tina, dass eine andere Frau das Glück erfahren würde, an seiner Seite zu leben – als Vertraute, Geliebte, Ehefrau und Mutter seiner Kinder.

Schweigend sah sie zum Fenster hinaus auf die malerische Hügellandschaft mit den herbstlich bunten Wäldern, saftig grünen, vom Regen feuchten Wiesen und silbrig funkelnden Bächen. Sie fuhren eine Anhöhe hinauf, und ein atemberaubend schönes Panorama tat sich vor ihnen auf.

„Ich kenne einen hübschen Landgasthof ganz in der Nähe. Lass uns dort einkehren“, schlug Richard vor, und Tina stimmte bereitwillig zu.

Kurz darauf fuhren sie durch einen gemauerten Torbogen auf den Hof der Gaststätte – einer ehemaligen Kutschstation, wie Richard erläuterte. Die alten Stallungen, vor denen er parkte, waren zur Brauerei umfunktioniert worden.

„Hier gibt es ausgezeichnetes selbst gebrautes Bier“, bemerkte er, als sie durch die Hintertür in eine sonnige, holzgetäfelte Diele und dann in die Gaststube gelangten.

Vor dem riesigen offenen Kamin stand ein Krug mit buntem Herbstlaub, die glatt polierten alten Holzmöbel verströmten den Duft von Äpfeln und Honig.

„Was möchtest du essen?“, fragte Richard, als sie an einem Tisch am Fenster Platz genommen hatten, und reichte Tina die Speisekarte.

„Ich bin noch gar nicht hungrig nach dem üppigen Frühstück.“ Bei der Erinnerung an das gemütliche Frühstück im Bett stieg ihr das Blut in die Wangen.

Richard, der anscheinend den Grund erriet, lächelte belustigt. „Ein Sandwich, vielleicht?“

Verlegen senkte sie den Kopf, studierte angestrengt die Speisekarte und kam sich wie ein albernes Schulmädchen vor. Wo war die kühle, selbstbewusste junge Frau geblieben, die sie noch bis gestern gewesen war?

Als die freundliche, mollige Kellnerin an den Tisch kam, bestellte Tina ein Schinkenbaguette mit Salat.

Richard nahm das gleiche. „Und zu trinken?“, fragte er.

„Ich glaube, ich nehme ein Bier.“

„Gute Wahl, ich auch“, sagte er.

Nachdem Tina das Bier gekostet hatte, gab sie zu, dass es das beste war, das sie je getrunken hatte. Dann bat Richard: „Und nun erzähl mir von dir. Bist du in London aufgewachsen?“

„Nein, ich stamme aus einem kleinen Dorf. In London lebe ich erst, seit ich die Stelle bei Cartel Wines bekommen habe.“

„Und was gefällt dir besser – das Stadt- oder das Landleben?“

Sie lächelte wehmütig. „Ich mag London, aber auf dem Land fühle ich mich wohler.“

„Hast du Geschwister?“

„Eine Stiefschwester, Didi. Meine Mutter starb, als ich sieben war. Ein Jahr später heiratete mein Vater eine Witwe, die eine Tochter in meinem Alter hatte.“

„Habt ihr beide euch gut verstanden?“

„Nicht besonders“, gab sie zu. „Obwohl unsere Geburtstage nur wenige Tage auseinander liegen, sind wir vom Charakter völlig unterschiedlich. Didi ist schon mit siebzehn nach London gegangen, um sich einen Job zu suchen.“

„Und dein Vater und seine Frau, wo leben sie?“

„Vor zwei Jahren hat mein Vater von einem entfernten Verwandten ein Hotel in Melbourne geerbt. Da beschlossen sie, nach Australien auszuwandern. Damals baten sie mich, ein Auge auf Didi zu haben, der es zu der Zeit gar nicht gut ging.“

Tina nahm noch einen Schluck Bier. „Ich hatte damals gerade bei Cartel Wines angefangen, und als Didi die Miete für ihr schäbiges Apartment nicht mehr zahlen konnte, überredete ich sie, zu mir in meine Zweizimmerwohnung zu ziehen.“

Stirnrunzelnd fragte er: „Wohnt sie immer noch bei dir?“

„Nein, seit Kurzem nicht mehr. Sie hat einen Platz an einer Schauspielschule bekommen. Schauspielerin zu werden war schon immer ihr Traum.“

Das Essen wurde serviert, zusammen mit diversen hausgemachten Chutneys in hübschen Gläsern.

„Das Mango-Chutney kann ich nur empfehlen“, meinte Richard. „Es ist fast so gut wie Hannahs …“

„Wer ist Hannah?“

„Unsere Haushälterin im Schloss“, erklärte er. „Sie ist schon seit einer Ewigkeit dort und führt mit strenger Hand das Regiment. Ihr Sohn Mullins ist Chauffeur und kümmert sich ums Haus und ihre jüngste Enkeltochter Milly ist unser Hausmädchen.“

Eine Weile lang widmeten sich beide schweigend ihrer Mahlzeit. Tina war nervös und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Verstohlen beobachtete sie, wie Richard sich Chutney auftat und dann nach seinem Bierglas griff. Er hatte kräftige, schön geformte Hände mit schlanken Fingern und gepflegten Nägeln.

Männliche Hände, dachte sie. Aufregende Hände.

Bevor ihre Fantasie mit ihr durchgehen konnte, konzentrierte sie sich schnell auf ein anderes Thema: „Wie kam das Schloss eigentlich zu seinem Weinberg?“

„Während eines Frankreichaufenthalts begann mein Urgroßvater, der ursprünglich Bankier war, sich für Weinbau zu interessieren. Nach seiner Rückkehr pflanzte er auf einigen sonnigen Hängen seines Anwesens Reben an und zog einen recht erfolgreichen kleinen Winzerbetrieb auf, den mein Vater später übernahm. Seit seinem Tod hat sich aber niemand mehr darum gekümmert.“

Richard lehnte sich leicht zurück. „Damals habe ich in Oxford studiert. Meine Mutter hätte es gern gesehen, wenn ich anschließend nach Schloss Anderson zurückgekehrt wäre, aber ich entschied mich dagegen.“

„Wolltest du lieber in der Großstadt leben?“

„Nein, durchaus nicht. Dass ich seit damals in London lebe, hat andere Gründe. Ich war achtzehn, als mein Vater starb. Meine Eltern haben sich sehr geliebt, und meine Mutter war völlig verzweifelt und sehr einsam nach dem Tod meines Vaters. Zwei Jahre später heiratete sie einen fünfzehn Jahre älteren Witwer.“

Mit einem bitteren Zug um den Mund fuhr er fort: „Bradley und ich kamen nicht besonders gut miteinander aus. Daher zog ich es vor, mich in London niederzulassen und nur gelegentlich zu Besuch ins Schloss zu kommen.“

Tina konnte sich vorstellen, wie er darunter gelitten haben musste, dass nun ein Fremder plötzlich Herr in seinem eigenen Zuhause war.

„Das war sicher nicht leicht für dich“, sagte sie mitfühlend.

Überrascht sah er sie an. „Allerdings. Vor allem, als ich merkte, dass meine Mutter mit ihrem neuen Mann nicht glücklich war. Den Besitz hat er gut verwaltet, das muss man ihm lassen, aber er war ein schwieriger Mensch. Sie hat sich nie beklagt, aber ich glaube, sie bereute die Heirat insgeheim.“

Er blickte einen Moment gedankenverloren vor sich hin, bevor er weitersprach. „Kurz nachdem sie von ihrer unheilbaren Krankheit erfuhr, wurde bei Bradley ein Herzleiden festgestellt, das seine Lebenserwartung drastisch verkürzte. Ich musste ihr versprechen, ihn nach ihrem Tod nicht vor die Tür zu setzen, doch ihm genügte diese Zusage nicht. Er verlangte, dass sie ihm in ihrem Testament ein lebenslanges Wohnrecht zusicherte, was sie auch tat.“

„Dann wohnt dein Stiefvater noch dort?“

„Nein, er erlag vor Kurzem einem Herzinfarkt.“

„Also gehört das Schloss jetzt dir. Du willst es behalten, oder?“

Seine Miene wurde hart, seine Stimme eisig, als er sagte: „Ja, ich will es behalten.“

Bald darauf saßen sie wieder im Auto und setzten die Fahrt auf einer ruhigen, gewundenen Landstraße fort. Tina sah gedankenverloren zum Fenster hinaus und ließ sich alles noch einmal durch den Kopf gehen, was sie über Richard und seine Familie erfahren hatte.

Nicht dass sie jetzt noch die geringste Hoffnung hegte, in sein Leben zu passen. Doch alles, was ihn betraf, ging ihr merkwürdig nahe. Sie wollte ihn unbedingt besser kennenlernen und verstehen, was ihn bewegte.

Er bog in eine noch ruhigere Straße, auf einer Seite von einer Backsteinmauer gesäumt, die nach einigen hundert Metern an einem imposanten Tor endete. Auf den Säulen links und rechts der Einfahrt thronten zwei steinerne Löwen.

Das schmiedeeiserne Tor öffnete sich, der Porsche glitt hindurch auf eine gepflegte Zufahrtsstraße, die in sanften Kurven bergauf führte. Zu allen Seiten erstreckte sich sanft gewelltes, leicht bewaldetes Hügelland mit saftigen Wiesen, auf denen vereinzelt Schafe grasten.

„Bevor wir zum Schloss fahren, würde ich dir gern den Weinberg zeigen“, meinte Richard.

Tina nickte. Nachdem sie sich nun einmal auf diesen Ausflug eingelassen hatte, konnte sie die Besichtigung schlecht ablehnen. Unter anderen Umständen, dachte sie bedauernd, wäre die Stelle ideal gewesen.

Sie hielten vor einem Gebäudekomplex, der offenbar zur Herstellung und Lagerung des Weins diente. Daran angrenzend zogen sich, so weit das Auge reichte, dichte Reihen verwilderter Weinstöcke einen sanft ansteigenden Hang hinauf.

„Was macht dein Knöchel?“, fragte er. „Fit genug für einen kleinen Rundgang?“

„Na klar.“

Er half ihr beim Aussteigen und hakte sich wie selbstverständlich bei ihr unter. Die vertrauliche kleine Geste ließ Tinas Herz höher schlagen.

Jetzt, am Spätnachmittag, war die Luft merklich abgekühlt, obwohl immer noch die Sonne schien. Als sie den Hang hinaufstiegen, blies ihnen ein frischer Wind entgegen. Die Weinstöcke waren deutlich vernachlässigt, aber durch Gräser und Unkraut hindurch sah Tina reife dunkelblaue Trauben an den Reben hängen.

„Ich schätze, wir werden die meisten Pflanzen ersetzen müssen“, vermutete Richard.

„Nicht, wenn sie gesund sind. Es hängt davon ab, welche Weinsorte du produzieren willst.“

„Ich verstehe“, sagte er. „Aber lass uns die Einzelheiten später diskutieren, wenn du dich mit allem vertraut gemacht hast.“

„Ich glaube nicht, dass ich …“

„Willst du den Job nicht haben, weil hier alles so verwahrlost ist?“, fragte er stirnrunzelnd.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das stört mich nicht.“ Im Gegenteil, es hätte sie sehr gereizt, hier Hand anzulegen.

„Aber?“

„Die besonderen Umstände“, meinte sie unbehaglich. „Du verstehst …?“

„Du meinst, was gestern Nacht passiert ist?“

Ihr Schweigen war Antwort genug. Wieder verwirrte Richard ihr unerwartetes Verhalten. Doch da der Job ohnehin nur als Vorwand gedient hatte, um sie zum Schloss zu locken, spielte es keine Rolle, ob sie ihn annahm oder nicht.

Sie war hier, weit ab vom Schuss, und er würde dafür sorgen, dass sie auch hier blieb. Nur für den Fall, dass sie versuchen sollten, sich mit ihr in Verbindung zu setzen.

Im selben Moment fiel ihm siedend heiß ein, dass sie zwar bei Cartel Wines nicht mehr zu erreichen war, die Freundin, bei der sie wohnte, aber ihre Handynummer herausgeben könnte. Was ihn in ernste Schwierigkeiten bringen könnte. Also musste er auch für diesen Fall Vorkehrungen treffen …

Tina, die seine finstere Miene missverstand, sagte betreten: „Tut mir leid, Richard.“

Binnen Sekunden hatte er sich wieder unter Kontrolle, lächelte und sagte: „Mach dir keine Gedanken. Komm, ich zeige dir das Schloss.“

Sie folgten weiter der Zufahrtsstraße und kamen an einem halb verfallenen Turm vorbei, zu dem ein Trampelpfad führte.

„Der alte Daland-Turm“, erklärte Richard. „Er ist das Einzige, was noch von der ursprünglichen Festung aus dem elften Jahrhundert steht. Das Schloss liegt ein Stück weiter östlich. Da, jetzt kannst du es sehen!“

Sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf graue Mauern und Zinnen, halb verdeckt von hohen Laubbäumen. Erst hinter der nächsten Kurve hatte man freie Sicht auf das Schloss. Richard stoppte den Wagen, damit Tina es in Ruhe betrachten konnte.

Der Anblick raubte ihr den Atem.

Es war nicht sehr groß, ein Schloss im Miniaturformat, aber ein wahres Schmuckstück. Mit den grauen Türmchen und Zinnen, die in den blauen Himmel ragten, wirkte es majestätisch und anmutig zugleich. Wie ein echtes Märchenschloss.

Mit leuchtenden Augen wandte sich Tina an ihren Begleiter, der schweigend ihre Reaktion beobachtete. „Es ist fantastisch“, hauchte sie. „Kein Wunder, dass du so sehr daran hängst.“

Ihre spontane, von Herzen kommende Begeisterung stürzte ihn in einen Gewissenskonflikt. „Nun ja“, wandte er ein, „ein alter Kasten wie dieser hat auch seine Nachteile, selbst wenn er im Laufe der Jahre modernisiert worden ist. Nahezu jeder Penny, den der Besitz abwirft, fließt in die Instandhaltung des alten Gemäuers.“

Verträumt lächelnd sah sie ihn an. „Aber es zu besitzen ist den Aufwand wert, oder?“

„Das finde ich auch.“

Staunend wie ein Kind, das etwas Wunderbares entdeckt hat, vertiefte sie sich wieder in den Anblick des Schlosses. Richards Herz zog sich zusammen. Wenn sie doch nur so süß und unschuldig wäre, wie sie aussieht, dachte er wehmütig.

Während der Weiterfahrt erläuterte er die weitläufigen Anlagen rund um das Schloss: „Dort hinten siehst du die Orangerie und den Küchengarten und dort die alten Pferdeställe, die zum Teil zu Garagen umgebaut wurden.“

„Haltet ihr noch Pferde?“

„Ja, zwei. Jupiter und Juno. Bradley hasste Pferde und wollte sie loswerden, aber meine Mutter brachte es nicht übers Herz, sich von ihnen zu trennen. Bevor sie krank wurde, sind wir bei meinen Besuchen immer zusammen ausgeritten. Reitest du?“

„Früher bin ich gern geritten, aber es ist eine ganze Weile her, seit ich das letzte Mal auf einem Pferd saß. Oh, ein Wassergraben!“, rief sie überrascht, als sie sich dem Schloss näherten.

„Ja, und ein sehr tiefer. Er diente zur Verteidigung und wird von einem unterirdischen Fluss gespeist, der auch die Brunnen mit sauberem Wasser versorgte.“

„Und was für eine schöne alte Brücke …“

Sie war wirklich bildschön, das alte Mauerwerk moosbewachsen, die steinerne Brüstung von Kletterpflanzen mit rosa und weißen Blüten überrankt.

„Die Brücke wurde erst vor einhundertfünfzig Jahren gebaut“, erzählte er, als sie darüberfuhren und durch einen mächtigen gemauerten Torbogen in den Innenhof des Schlosses gelangten. „Vorher war hier eine hölzerne Zugbrücke mit Fallgatter.“

„Nun sag es schon“, fügte er spöttisch hinzu. „Oh, wie romantisch!“

Tina errötete. „Tut mir leid. War ich zu überschwänglich?“

Beschämt brachte Richard den Wagen zum Stehen, ergriff ihre Hand drückte einen zarten Kuss darauf. „Ich bin es, der sich entschuldigen muss. Manchmal bin ich wirklich ein Raubein.“

Trotz seiner Entschuldigung wirkte ihre Freude nun erheblich gedämpft. Er bereute es, sich über sie lustig gemacht zu haben, nur weil ihr das Schloss gefiel. Dieses ganze Dilemma war schließlich nicht ihre Schuld.

Doch wenn er jetzt einknickte, war sein Plan zum Scheitern verurteilt. Abrupt ließ er Tinas Hand los und beugte sich zu ihr herüber, um ihren Gurt zu lösen.

Dabei kam er ihr so nahe, dass sein Atem ihre Wange streifte. Sanft legte er einen Finger unter ihr Kinn und drehte ihr Gesicht in seine Richtung.

„Verzeihst du mir?“

„Es gibt nichts zu verzeihen.“

„Du bist nicht nur schön, sondern auch großzügig“, stellte er fest.

Sein Mund war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Sie befürchtete, er würde sie küssen. Und gleichzeitig, dass er es nicht tun würde …

Als er es tat, war sein Kuss nur ein zarter Hauch, aber unendlich verlockend und verführerisch. Sofort flammte die Leidenschaft wieder auf, die er schon morgens in ihr geweckt hatte. Wie von selbst öffneten sich ihre bebenden Lippen unter seinen, als er spielerisch mit der Zungenspitze daran entlang fuhr.

Augenblicklich vertiefte er den Kuss, erkundete ausgiebig das weiche Innere ihres Mundes und versetzte sie mit seinem zärtlichen Zungenspiel in einen Rausch von Gefühlen, der sie Raum und Zeit vergessen ließ.

Langsam schob er eine Hand in den Ausschnitt ihres Blazers, strich sanft über ihre Brüste und lächelte zufrieden, als er die harten Spitzen unter den Fingern spürte. Wie er heute Morgen bereits festgestellt hatte, war sie eine sehr sinnliche Frau, die leidenschaftlich auf seine Berührungen reagierte.

Nur dass er sich mit der gezielten morgendlichen Verführung selbst eine Falle gestellt hatte, denn seitdem ließ ihn die Sehnsucht nach ihr nicht mehr los.

Doch davon durfte er sich jetzt nicht ablenken lassen. Es gab noch zu viel zu erledigen. Wenn er Glück hatte, blieb später noch Zeit, um sich mit ihr zu vergnügen.