»Auf, mach schon! Greif mich endlich an!«
Mein Übungspartner schenkte mir ein herausforderndes Grinsen und ging mit dem Holzschwert in Stellung. Das verräterische Funkeln in Christophers hellen Augen verriet mir, dass er bereit war, sich dieses Mal keine Blöße zu geben. Bislang hatte er mich nur zwei Mal bei unseren wöchentlichen Trainingseinheiten geschlagen.
»Falls du mit dem Gedanken spielst, du könntest mich besiegen ... Vergiss es!« Ich schmunzelte verwegen. In Windeseile überbrückte ich die kurze Distanz zwischen uns und holte mit einem kräftigen Rückhandschlag aus. Es war jedoch nur eine Finte. Anstatt den Schlag zu Ende zu führen, ging ich in die Knie und schwang das Übungsschwert von unten rechts schräg nach oben. Ich traf Christopher am Knie, der augenblicklich zwei Schritte zurücktaumelte und seine Verteidigungsstrategie neu überdachte.
»Noch einmal gelingt dir das nicht!«, schimpfte er mit einem frechen Grinsen.
Augenzwinkernd positionierte ich mich neu. Wie zwei hungrige Raubtiere belauerten wir uns, jeder auf den eigenen Vorteil bedacht und auf der Suche nach einer möglichen Lücke in der gegnerischen Abwehr.
Jede Woche aufs Neue fieberte ich dem Übungskampf entgegen. Mein bester Freund Christopher und ich hatten mit dem modernen Schwertkampf bereits vor fünfzehn Jahren angefangen. Schnelles Reaktionsvermögen, Geschwindigkeit und Einschätzungsvermögen waren die obersten Prioritäten. Neben der körperlichen Verausgabung lenkte mich unser Training vor allem von den Alltagssorgen ab und ich bekam für ein paar Stunden den Kopf frei.
Schritt für Schritt umkreisten wir uns. Aufmerksam suchte ich eine Öffnung in Christophers Verteidigung und wurde schließlich belohnt. Für den Bruchteil einer Sekunde ließ er den Arm zu weit sinken und ich startete meinen Angriff. Abermals hatte er meiner Schnelligkeit nichts entgegenzusetzen. Ausfallschritt und Stoß. Ich ließ eine ausgefeilte Parade folgen und ging dann in die Defensive. Das war mein Fehler. Christopher deckte mich mit mehreren gut ausgeführten Schlägen ein und zwang mich Schritt für Schritt zurückzuweichen. In rascher Folge traf er mich am linken Oberarm, dann an der Hüfte. Während ich seitwärts auswich, folgte ein Treffer am rechten Oberschenkel. Keuchend fiel ich auf ein Knie und lachte.
»Ha! Gewonnen!« Christopher reckte das Schwert siegreich in die Höhe und genoss den Augenblick des Triumphs.
»Gratuliere. Aber du hattest heute nur Glück.« Lächelnd rappelte ich mich hoch und wir verbeugten uns respektvoll voreinander.
»Vielleicht ... vielleicht aber auch nicht.« Christopher legte mir kameradschaftlich einen Arm um die Schulter.
Zusammen setzten wir uns auf die Bank am Rand der Übungshalle. Ich verstaute das Holzschwert in der Sporttasche und kramte die Flasche mit isotonischem Inhalt heraus. In einem Zug leerte ich sie.
»Jetzt raus mit der Sprache. Was ist los?«
Bei dieser Frage hätte ich mich beinahe verschluckt. Verdutzt blickte ich ihn an. »Was meinst du?«
Christopher grinste. »Du hast verloren. Das kommt so gut wie nie vor. Wie lange kennen wir uns schon? Über zwanzig Jahre? Inzwischen weiß ich genau, wenn sich deine Welt auf den Untergang zubewegt. Du warst unkonzentriert. Also, was ist los?«
Ich knurrte verärgert. »Lian! Er hat mal wieder geplaudert. Stimmt’s?«
»Er war so frei und hat heute Morgen ein paar Worte am Telefon fallen lassen. Liegt es wieder an Amy oder trägt dieses Mal dein Erzeuger die Schuld?«
Zähneknirschend wischte ich mir mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn und pfefferte die Flasche zurück in die Tasche. Ich verspürte derzeit keinerlei Lust, über mein Problem zu reden. Christopher, Lian und ich waren seit der Grundschulzeit die besten Freunde. Leider war es nahezu unmöglich, vor den beiden etwas geheim zu halten.
»Amy«, antwortete ich mürrisch.
»War ja klar.«
Ich hörte Christophers Abneigung gegenüber meiner derzeitigen Freundin deutlich aus seiner Stimme heraus. In Bezug darauf konnten Lian und er sich die Hand reichen. Sie hatten Amy von Anfang an nicht gemocht.
»Ach ja?«, hakte ich grantig nach.
»Verdammt, Sean! Lass die Tussi endlich sausen. Besser noch, setz sie mit einem Fußtritt vor die Tür! Merkst du es nicht? Sie ist wie alle anderen Weiber. Sie steht nicht auf dich, sondern nur auf deine Kohle. Wie oft bist du schon in diese Falle getappt? Zweimal? Dreimal? Zehnmal? Wann lernst du es endlich? Die Schlampen nutzen dich nur aus.«
Der Argumentation konnte ich nichts entgegensetzen. Er hatte recht. Ich hatte ein Händchen an Goldgräberinnen zu geraten.
Frustriert erhob ich mich und ging voraus zur Umkleide. Christopher seufzte laut und folgte mir. Ich wusste, dass er erpicht darauf war, das Gespräch fortzuführen.
»Amy hat mich zum dritten Mal in dieser Woche versetzt«, sagte ich, denn genau das war es, was er hören wollte. »Für heute ist aber ein gemeinsames Abendessen mit anschließendem Kinobesuch geplant. Sie hat es mir hoch und heilig versprochen.«
»Na dann. Ihr Wort in Gottes Klospülung.«
Ich enthielt mich eines bissigen Kommentars. Amys Versprechen war keine Garantie. Am Spind angekommen, entledigte ich mich der verschwitzen Sportsachen, schnappte mir Duschgel und Handtuch und verschwand in der Gemeinschaftsdusche.
Christopher tauchte kurz darauf neben mir auf. »Warum bist du so stur? Schieß die Kuh in den Wind. Ich gebe dir Brief und Siegel, dass sie in der nächsten Stunde euer Date cancelt.«
»Stur? Was meinst du mit stur?« Ich warf ihm einen beleidigten Blick zu, während das warme Wasser auf mich herabrieselte.
»Du weißt genau, was ich meine. Warum versuchst du es nicht einmal mit einem heißen Typen. Wer weiß, vielleicht gefällt es dir ja.« Christopher zwinkerte.
»Schon wieder dieses Thema? Ich bin hetero und nicht bisexuell.« Genervt starrte ich ihn an und fragte mich, warum gerade er dieses Thema immer wieder auf den Tisch brachte. Schließlich hatte er mit Typen so gar nichts am Hut. Im Gegenteil, er war seit Jahren in einer festen Beziehung und war seit kurzem Vater süßer Zwillingsmädchen. Zudem hatte er keine Ahnung, dass ich in Bezug auf Sex mit Männern nicht ganz unbefleckt war. Bislang hatte ich es meinen Freunden verschwiegen, aber ich hatte das miese Gefühl, als wüssten sie es längst.
Augenblicklich schweiften meine Gedanken zu Daniel ab. Dem ersten und einzigen Mann in meinem Leben, mit dem ich eine sexuelle Erfahrung verbuchen konnte. Ein One-Night-Stand. Eine einzige Nacht, in der ich schwach geworden und die mehr oder weniger dem Alkohol geschuldet war. Dafür hasste ich mich abgrundtief.
»Also? Was denkst du? Wäre es einen Versuch wert?«, holten mich Christophers Worte in die Gegenwart zurück.
»Klar, wie wäre es dann mit dir?«, überspielte ich die Situation und ich ließ den Blick bewusst an seinem muskulösen Körper auf und ab schweifen. Dabei grinste ich breit von einem Ohr zum anderen.
»Doch nicht mit mir, du Idiot!« Mokiert boxte er mir in die Seite.
»Hast du doch eben selbst vorgeschlagen.« Lachend schamponierte ich mir die Haare ein.
»Ernsthaft, warum probierst du es nicht einfach mal aus?«
Mir blieb das Lachen im Hals stecken. »Habt ihr euch eigentlich alle gegen mich verschworen?«
»Du sollst dir ja nicht den erstbesten angeln, aber denk einmal in Ruhe darüber nach und lehne es nicht von vornherein ab. Schließlich laufen einige süße Jungs in London herum.«
»Du hast nicht zufällig mit Tyler gesprochen? Ich bin nicht bi! Kapiert! Ganz egal, wie ihr es euch auch verkaufen wollt ... ich werde nie wie mein Erzeuger sein! Tyler geht mir mit seinen Lovern schon gehörig auf die Nerven. Vor allem dann, wenn er mal wieder davon überzeugt ist, dass er seinen absoluten Traumtypen gefunden hat und ihn mir unbedingt vorstellen will. Ich habe die Schnauze sowas von voll!« Verdrossen wandte ich mich ab.
»Dein Bruder hat nichts damit zu tun und dein Vater schon gar nicht. Lian und ich haben auch Augen im Kopf.« Seelenruhig seifte sich Christopher ein und schwieg mit einem wissenden Lächeln auf seinen Lippen.
Für mich war die Sache noch lange nicht vergessen. Nur zu gut erinnerte ich mich an meine Jugend. Mein Vater war bisexuell und das war einer der Gründe, warum ich ihm die Schuld für meine verkorkste Kindheit anlastete. Am liebsten hätte ich das Thema »schwule Männer« abgehakt, es gab da jedoch noch meinen acht Jahre jüngeren Halbbruder Tyler. Er war homosexuell und lag mir andauernd mit dem Thema in den Ohren. Für ihn spielten Männer eine große Rolle im Leben und er lebte seine sexuelle Orientierung nur zu gerne aus. Auf der anderen Seite standen meine beiden besten Freunde. Christopher war, wie schon erwähnt, verheiratet und Lian plante mit seiner Jacky bereits ihre Verlobung.
Ich dagegen schlitterte von einer miesen Beziehung in die nächste. Ich wusste nicht, was in meinem Liebesleben schieflief. Warum in drei Teufels Namen wurde ich bei jeder Frau vom Pech verfolgt? Keine meiner Beziehungen hielt länger als ein halbes Jahr.
Tief in meinem Inneren vergraben wusste ich jedoch, dass mein Vater nicht der eigentliche Grund für mein Dilemma war. Er war für mich lediglich zu einer Art Schutzschild geworden. Nur zu bewusst schob ich seine Bisexualität als Grund vor. Mein Problem ging weit darüber hinaus und ich konnte und wollte es mir nicht eingestehen.
Ich war nicht einmal in der Lage über die wirren Emotionen nachzudenken, die über mich hereinbrachen, sobald ich einem Mann begegnete, der mir äußerlich gefiel. Sogar beim Sex mit Amy und all den Frauen vor ihr nagten sie unaufhörlich an mir. Manchmal raubten sie mir sogar die Luft zum Atmen. Es war das tiefsitzende und angstverzehrende Empfinden der Unvollkommenheit. Bei jedem Akt mit dem anderen Geschlecht verspürte ich sie aufs Neue. Es kam mir vor, als würde ich in eine kalte undurchdringbare Leere stürzen, aus der mir eine Stimme zuflüsterte, dass es nur so sein durfte und nicht anders. In diesen Momenten gaukelte ich Leidenschaft vor und schämte mich deswegen. Doch Sex war etwas, dass zu einer Beziehung gehörte und mein Körper reagierte rein instinktiv.
Zwanghaft verbannte ich die chaotischen Gedanken aus dem Kopf. Mein Gewissen kam mir dabei zur Hilfe. Fortwährend sagte es zu mir, dass ich pralle Titten und knackigen Frauenärsche bevorzugte. Daran durfte sich nie etwas ändern.
Seufzend schaltete ich den Wasserstrahl aus und legte mir das Handtuch um die Hüften.
»Wie wäre es mit einem spontanen Männerabend?«, erkundigte sich Christopher, der ebenfalls fertig war. Zusammen kehrten wir in die Umkleide zurück.
»Ich hatte dir doch gesagt ...«
»Ja, ... du willst mit Amy essen gehen. Aber für den Fall, dass etwas dazwischen kommt. Wir treffen uns um acht im Waikiki. Ein paar Kollegen vom Scotland Yard kommen auch. Du kannst jederzeit nachkommen.«
»Danke, aber danke nein. Wir sehen uns nächsten Samstag.«
Christopher nahm es mir nicht übel, dass ich die Einladung ablehnte. Er kannte mich und wusste, dass ich heute eher eine Spaßbremse als ein Partylöwe wäre. Wir zogen uns in aller Ruhe an, packten die Klamotten zusammen und begaben uns zum Parkplatz, ohne das Thema noch einmal anzusprechen.
»Grüße mir deinen Bruder, wenn du ihn siehst«,verabschiedete sich mein bester Freund, stieg ins Auto und fuhr davon.
Ein flüchtiger Blick auf die Armbanduhr verriet mir, dass ich noch zwei Stunden Zeit hatte, bis ich zu Hause sein musste. Ich zog die Zigarettenschachtel aus meiner Jackentasche und zündete mir eine an. Genussvoll inhalierte ich den Rauch und ließ das Gespräch von eben Revue passieren.
Viele meiner Beziehungen zu Frauen waren tatsächlich aufgrund meines fetten Bankkontos gescheitert. Sie hatten nicht mich, sondern mein Geld attraktiv gefunden. Wobei ich es nicht als meines ansah. Es gehörte meinem Erzeuger. Pünktlich zu meinem achtzehnten Geburtstag und zum Auszug aus der Familienvilla hatte er mir zwei Millionen Pfund und eine Eigentumswohnung geschenkt. Vermutlich als Dankeschön, dass ich meinen jüngeren Bruder Tyler gleich mitgenommen hatte. Doch das hätte ich unter allen Umständen getan. Nie im Leben hätte ich es übers Herz gebracht, ihn dort zurückzulassen. Bisher ruhte das Geld unangerührt auf der Bank. Den schmucken Sportwagen der Marke BMW hatte ich von meinem Gehalt als Finanzberater gekauft, indem ich geschickt darin war, maroden Firmen wieder auf die Beine zu stellen und dafür satte Provisionen erhielt. Mein Studium in Betriebswirtschaftslehre und Finanzrecht hatte sich somit mehr als ausgezahlt. Anfangs hatte ich noch in einem Dōjō als Kendōlehrer ausgeholfen. Meine zweite Leidenschaft nach dem modernen Schwertkampf. Inzwischen konzentrierte ich mich aber ausschließlich darauf, mich selbstständig zu machen.
Meine derzeitige Freundin Amy war im Gegenzug zu den vorangegangenen anders. Zumindest glaubte ich fest daran. Sie arbeitete als Krankenschwester in einer nahegelegenen Klinik. Durch ihre unregelmäßigen Schichten gab es kaum Zeit etwas gemeinsam zu unternehmen. Dadurch hatte jeder weitgehend einen gewissen Freiraum. Darüber hinaus verdiente sie ihr eigenes Geld und unterhielt eine Wohnung. Dass unsere momentane Lage dennoch nicht rosig war, konnte ich nicht leugnen. Im Bett funktionierte es seit einiger Zeit nicht mehr. Ich kam nicht zum Höhepunkt und sie hielt es mir jedes Mal enttäuscht vor.
Heute sollte jedoch alles anders werden. Ich hatte mir fest vorgenommen mit Amy romantisch Essen zu gehen und war sogar bereit, mir einen Liebesstreifen anzusehen. Wobei mir derzeit eher der Kopf nach einem guten Actionfilm stand.
Ich zog ein letztes Mal an der Zigarette und warf sie fort. Im gleichen Moment klingelte mein Smartphone in der Hosentasche. Als ich es herauszog, las ich Amys Namen auf dem Display. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich, dennoch nahm ich den Anruf an.
»Hey, Honey«, hörte ich ihre fahrig wirkende Stimme und ahnte bereits instinktiv den Grund, warum sie anrief.
»Sag bloß, du sagst ab? Ist dir schon wieder etwas dazwischen gekommen?«, kam ich ihr zuvor.
»Sorry, aber Franny hat mich zum Mädelsabend eingeladen. Wir verschieben es auf morgen. Ich habe dir eine Pizza gekauft. Du musst sie dir nur in den Backofen schieben. Ich muss los, sie wartet schon auf mich.«
»Ich zähle wohl gar nicht?«, antwortete ich, aber sie hatte längst aufgelegt.
»Blöde Kuh!«, brüllte ich enttäuscht und unterdrückte in letzter Sekunde den Impuls, das Handy mit voller Wucht auf den Boden zu pfeffern. Stattdessen feuerte ich es samt Sporttasche in den Kofferraum und stieg ins Auto.
Mit einer ordentlichen Portion Wut im Bauch fuhr ich los. Der dichte Londoner Verkehr trieb meine gereizte Stimmung kontinuierlich nach oben. Zu Hause angekommen, entdeckte ich die Einkaufstasche mit der Tiefkühlpizza auf dem Küchentisch. Amy hatte sie nicht einmal ins Eisfach gelegt. Frustriert warf ich meine Sportklamotten in eine Ecke und holte mir eine Dose Bier aus dem Kühlschrank. Stinksauer setzte ich mich aufs weiße Ledersofa und schaltete den Fernseher ein.
Wieder einmal hatte mich meine Freundin eiskalt versetzt! Dafür hasste ich sie. Oder hasste ich einfach nur die Tatsache, dass mich Frauen stets an der Nase herumführten? Rachel hatte es getan. Claire ebenfalls. Dachten sie alle, sie könnten mit mir tun und lassen, wie es ihnen in den Kram passte? War das womöglich der Grund, warum ich im Bett keinerlei Befriedigung empfand?
Flüchtig spielte ich mit dem Gedanken Christopher anzurufen und seine Einladung anzunehmen, verwarf ihn allerdings sofort. Diese Genugtuung wollte ich ihm nicht geben. Das käme einem Eingeständnis gleich und ich hätte seine Vermutung nur bestätigt. Seine Worte kreisten jedoch unaufhörlich in meinem Kopf: Warum versuchst du es nicht einmal mit einem heißen Typen.
»Verdammter Mist!«, tobte ich wutentbrannt und schleuderte die Bierdose in die nächstbeste Ecke des Wohnzimmers. Angesäuert über mich selbst nahm ich den Laptop, der vor mir auf dem Couchtisch stand, auf den Schoß und schaltete ihn ein.
»Ich und Jungs? Bullshit! Ich beweise euch, dass ich hetero bin! Niemals werde ich wie mein Vater!«, nuschelte ich und begann nach Bildern von nackten Frauen zu suchen. Eine besonders anzügliche Pose einer prallen Blondine ließ mich schlucken und ich folgte dem angegebenen Link.
Die Seite kannte ich noch nicht. Ich verspürte die erste Welle einer flüchtigen Erregung und besah mir die Bilder genauer. Die anstößigen Stellungen wirkten von Foto zu Foto stimulierender. Schließlich beschloss ich, noch einen Schritt weiterzugehen. Der Abend war jung und ich allein. Warum sollte ich nicht auch ein wenig Spaß haben können? Ohne darüber nachzudenken, suchte ich weiter und fand das, wonach mir der Sinn stand. Ein heißer Porno würde mich wieder zur Besinnung bringen.
Mit einem leichten Ziehen in der Leistengegend las ich die Titel und starrte auf die Vorschaubilder, die vielversprechend aussahen. Nebenbei sprangen immer wieder Pop-Ups auf, die ich genervt wegklickte. Doch plötzlich hielt ich inne. Ein junger, gut gebauter dunkelhaariger Typ in enger Jeans und strahlenden Augen blickte mich mit einem anzüglichen Lächeln über seine Schulter hinweg an. Seufzend biss ich mir auf die Unterlippe und klickte das Bild wieder weg.
»Ich will jetzt zwei nackte Weiber, die es miteinander treiben«, murmelte ich und fand kurz darauf genau das, was ich mir vorgestellt hatte.
Voller Vorfreude öffnete ich das Video und schloss den Bezahlvorgang ab. Und schon ging es los. Ich stellte den Laptop zurück auf den Tisch und lehnte mich entspannt zurück. Neugierig sah ich den vollbusigen Frauen zu und meine Finger wanderte automatisch über die geschlossene Hose. Je mehr Zungenakrobatik mir geboten wurde, desto prickelnder wirkten sich die Szenen auf meine Libido aus. Ich öffnete die Jeans und ließ die Hand ihr übriges tun, um mein Verlangen weiter anzuheizen. Doch je mehr ich mich anstrengte, umso deutlicher wurde mir bewusst, dass ich nicht in der Lage war mich wirklich fallen zu lassen. Die Befriedigung wurde von meinem Verstand blockiert und ich fühlte mich innerlich hohl und hoffnungslos verloren. Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, wie die Münder der Frauen mich in Richtung Höhepunkt trieben, bis mein Gehirn plötzlich aus dem Nichts nachgab und meine Gedanken auf eine fantasievolle Reise abdrifteten.
Männliche, leicht raue Lippen berührten mich an Stellen, die mein Blut in Wallung brachten. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Die Zungenspitze des Mannes erregte mich und ich hörte mich selbst laut stöhnen. Ich atmete schwer und der junge Typ wurde forscher. Ganz allmählich spürte ich, wie mein Körper entspannter und leichter wurde. Mir wurde heiß und meine Finger bewegten sich wie von selbst. Mein Tun kam mir überraschenderweise nicht mehr gezwungen vor. Ich sträubte mich nicht gegen die Gedanken und ließ zu, dass der heiße Kerl mit Mund und Händen meine Vorstellungskraft in eine völlig neue Richtung drängte. Tief in meinem Inneren begann ich es zu genießen. Je intensiver ich der wachsenden Fantasie freien Lauf ließ, umso mehr gewann ich den Eindruck, auf einmal wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren, wo eben noch ein schwarzes Loch klaffte. Der Teufelskreis, der mich bereits seit Jahren fest im Griff hatte, verpuffte urplötzlich.
Das Gedankenspiel nahm weitere Züge an. Ich stellte mir vor, wie ich ihn verwöhnte und spürte, dass mein Körper daraufhin wahrnehmbar reagierte. Zum ersten Mal in meinem Leben schien eine gewaltige Last von meinen Schultern zu fallen. Ich genoss, was ich tat und verspürte keinerlei Reue. Schließlich übermannte mich die Lust und mit einem heftigen Ziehen erreichte ich den Gipfel der Befriedung.
Einige Augenblicke hielt ich die Lider geschlossen und kostete die abebbende Woge der Leidenschaft bis zum Ende aus. Das Glücksgefühl hielt allerdings nicht lange an, dann drängten sich mir jene Fragen auf, die ich mir seit Jahren nicht stellen wollte. War das gerade tatsächlich passiert? War ich gekommen, weil ein Mann mich gedanklich mehr erregt hatte, als die Frauen in dem Video?
Erschrocken sog ich die Luft ein und riss die Augen auf. War ich meinem Vater womöglich doch ähnlicher, als ich es mir eingestehen wollte?
»Du elender Mistkerl!«, fluchte ich und hätte ihm am liebsten einen Kinnhaken verpasst.
Vor Wut schäumend zog ich die Hose hoch und flüchtete ins Badezimmer. Dort entledigte ich mich meiner Klamotten und stieg unter die Dusche. Ich benötigte dringend wieder einen klaren Kopf und drehte absichtlich das kalte Wasser auf. Zitternd stand ich unter dem Strahl und verspürte einen leichten Anflug von Übelkeit.
»Was hast du dir dabei nur gedacht, du Vollidiot!«, schimpfte ich.
Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, schlich sich wieder die Erinnerung an den einzigen One-Night-Stand mit einem Mann in meine Gedanken. Details wusste ich keine mehr, doch umso deutlicher entsann ich mich an das zurück, was danach geschehen war. Ohne ein Kommentar war ich noch vor der Morgendämmerung aus dem Hotelzimmer verschwunden. Draußen auf der Straße hatte ich mich gleich mehrmals übergeben und mich den ganzen Tag selbst dafür verabscheut. Und auch jetzt hätte ich mich am liebsten geohrfeigt. Ich war so ein Narr! Dabei verstärkte sich das flaue Gefühl im Magen und ich würgte.
Nachdem ich nur noch Schleim hustete, kam ich mir schmutzig und verdorben vor. Vermutlich gab es nur eine Lösung für mein Problem. Ich musste ein für alle Mal klarstellen, dass ich hetero war. Das eben war ein einmaliger Ausrutscher gewesen und er würde niemals wieder passieren! Rasch schaltete ich den Wasserstrahl aus und trocknete mich ab.
Seufzend musterte ich mein eigenes Spiegelbild. Zwei smaragdgrüne Augen blickten mich unsicher an. War ich tatsächlich bereit für so ein Experiment? Vermutlich nicht, aber ich brauchte endlich Gewissheit und das war wahrscheinlich die einzige Lösung.
»Wer nichts wagt, der nichts gewinnt«, murmelte ich und begann mich plötzlich mit neuem Mut zu rasieren. Dieser Abend war wohl am besten geeignet, mich meinen Dämonen zu stellen und herauszufinden, ob ich nicht doch künftig das Ufer wechseln sollte.