Kapitel Drei

* * * * *

 

»Willkommen in meinem bescheidenden Heim.« Ich ging voraus, schaltete die Lichter ein und winkte Jamie in mein Appartement.

»Was heißt hier bescheiden? Luxusbude trifft es eher.« Mein Begleiter schaute sich mit großen Augen um. Ich folgte seinem Blick durch den Raum, in dem Weiß die vorherrschende Farbe war. Für mich waren diese vier Wände lediglich Mittel zum Zweck. Luxus hatte ich für mich persönlich eine andere Bedeutung. Mein Erzeuger bewohnte eine riesige Villa mit unzähligen Zimmern, eigenem Kino und Pool auf einem dreitausend Quadratmeter großem Grundstück. Dagegen war meine zweihundert Quadratmeter große Drei-Zimmer-Wohnung winzig und gehörte dringend renoviert.

Jamie stellte seinen Rucksack im Wohnzimmer neben der weißen Couch ab und betrachtete mein Bücherregal und schließlich meine Schwertrepliken an der Wand genauer. Das Sammeln besonderer Waffen war vor wenigen Jahren noch ein Hobby von mir gewesen.

»Alle nicht scharf. Sie hängen nur zu Dekoration«, erklärte ich nicht ohne Stolz.

Vorsichtig strich er mit den Fingerspitzen über die blankpolierten Klingen. »Kannst du mit denen umgehen?«

»Ja. Mein bester Freund und ich betreiben schon länger modernen Schwertkampf. Dabei kann man sich gut abreagieren. Aber zum Üben benutzen wir Holzschwerter. Ich war auch eine Zeitlang Kendōlehrer in einem nahegelegenen Dōjō.«

Jamie grinste. »Wow! Jetzt überraschst du mich wieder. Wie kommt man denn zu so etwas? Kendō kommt aus Japan, oder?«

»Du kennst dich aus?« Ich lächelte verblüfft. »Du hast recht. Es basiert auf der ursprünglichen Kampfkunst. Es fordert einiges an geistiger Disziplin und gleichzeitig formt man dabei den Charakter und die eigene Moral. Mach’s dir bequem. Ich hole uns ein kühles Bier aus dem Kühlschrank.«

Mit schnellen Schritten ging ich zur angrenzenden Küchenzeile hinüber. Die Einkaufstasche mit der aufgetauten Tiefkühlpizza stand immer noch auf dem Tisch. Rasch warf ich sie in den Mülleimer und beobachtete Jamie dabei aus den Augenwinkeln.

Er zog die zerfranste Jeansjacke aus und legte sie auf den Rucksack. Mit verschränkten Armen blieb er vor dem Panoramafenster stehen und blickte hinaus in die Nacht. Ich beeilte mich und kam mit zwei geöffneten Bierdosen zurück, wovon ich ihm eine überreichte.

»Von hier aus sieht London richtig schön aus«, murmelte er und nahm einen Schluck.

»Vor Weihnachten erstrahlt die Stadt in hellem Licht. Aus dem elften Stockwerk hat das schon was für sich«, antwortete ich und musterte Jamies Spiegelung in der Fensterscheibe.

Seine jungen Gesichtszüge fesselten mich. Er hatte die schmalen Lippen leicht geöffnet, während seine Augen eine Spur Traurigkeit verströmten. Ich kannte ihn gerade einmal zwei Stunden und trotzdem war ich mir sicher, ihn einschätzen zu können. Wenn ich mich für eine Charaktereigenschaft rühmen konnte, dann war das meine Menschenkenntnis, jedenfalls wenn es dabei nicht um Frauen ging.

Er hatte das Herz am richtigen Fleck, nur leider das Pech gehabt, gesellschaftlich tief zu sinken. Mich kümmerte es nicht, woher er kam und wo er sich jetzt befand. Was mich selbst erstaunte. Im Gegenteil. Inzwischen empfand ich ihm gegenüber eine gewisse Vertrautheit. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart wohl, denn er drängte mich zu nichts. Das bedeutete, dass er meine mangelnde Erfahrung in Bezug auf Männer verstand. Vielleicht ging es mir deshalb so nahe und ich verspürte den Drang, ihm zu helfen. Zumindest konnte Jamie heute Nacht endlich bei mir abschalten und die billige Absteige hinter sich lassen, aus der wir zusammen seine Habseligkeiten abgeholt hatten. Lächelnd erinnerte ich mich an die unflätigen Beschimpfungen, die er Jake zum Abschied hinterhergerufen hatte.

»Habe ich etwas im Gesicht?«, drang seine Stimme an mein Ohr.

»Was ... was meinst ... du?«, stotterte ich verlegen.

Jamie lachte und drehte sich zu mir um. »Weil du mich so anstarrst.«

Augenblicklich spürte ich die Hitze in den Wangen und setzte mich schnell auf die Ledercouch. Ich wollte nicht, dass er einen falschen Eindruck von mir bekam.

»Du findest mich attraktiv, stimmt’s?« Er nahm neben mir Platz und lehnte sich unbeschwert zurück. »Bereust du es schon, mich eingeladen zu haben?«

Ohne ihn anzublicken, schüttelte ich den Kopf. »Warum sollte ich?«

»Weil du noch nie einen Mann mit nach Hause genommen hast und einen Stricher schon mal gar nicht.«

Beinahe hätte ich mich am Bier verschluckt. Wieder einmal beschleunigte sich mein Herzschlag. Ich stellte die Dose auf dem Couchtisch ab und blickte ihn neugierig an.

»Es ist alles Neuland für mich. Das gebe ich offen zu. Aber solange du hier bist, bist du nur ein junger Mann, der ein Dach über den Kopf braucht. Was du draußen tust, geht mich nichts an. Ich finde es zwar nicht toll, aber ich kann dich auch nicht daran hindern. Es ist und bleibt deine Sache. Das einzige, das ich von dir erwarte, ist, dass ich am Ende nichts bereuen muss. Sind wir uns darüber einig?«

Jamie schenkte mir ein verschmitztes Lächeln. »Das klingt nach einem Deal.«

Ich nickte grinsend. »So kann man es auch sehen. Wie wäre es mit etwas zu essen und wenn du willst, kann ich mich am Montag erkundigen, ob es nicht doch ein paar Jobs für dich gibt. Ich glaube, da lässt sich bestimmt etwas finden.«

»Du meinst es ernst«, stellte Jamie fest und seufzte leise.

»Sobald ich einen Entschluss gefasst habe, ziehe ich es auch durch«, antwortete ich und stand auf. »Oder willst du wirklich weiterhin dein Geld auf diese Art und Weise verdienen?«

»Bisher war mein Arsch mein Kapital. Ich habe bislang keine Möglichkeit gesehen, das zu ändern. Aber nach deinem Angebot finde ich, dass ich zumindest darüber nachdenken sollte.«

»Ich würde mir wünschen, dass du es wirklich tust. In den letzten Jahren habe ich von meinen Bruder einiges über die Szene erfahren, das mir nicht gefällt. Wer nicht jung ist und gut aussieht, bleibt auf der Strecke. Momentan bist du beides, aber das ändert sich irgendwann. Von gesundheitlichen Risiken will ich gar nicht erst anfangen. Außerdem kann ich mir gut vorstellen, dass nicht jeder unbedingt nett zu dir ist. Deshalb wäre es eine Überlegung wert. Findest du nicht auch?« Entschlossen blickte ich ihn an.

Zum zweiten Mal an diesem Abend schien es Jamie die Sprache verschlagen zu haben. Er senkte den Blick und sprang plötzlich auf. Unerwartet schnappte er sich Jacke und Rucksack und versuchte in Richtung Wohnungstür zu flüchten. Ich bekam ihn jedoch am Handgelenk zu fassen und stellte mich ihm in den Weg. Mein Herz trommelte wild. Ich wollte nicht, dass er einfach verschwand.

»Was ist los?«

»Lass mich los!«, sagte er resolut und versuchte sich loszureißen.

Doch ich hatte nicht vor, ihn aus meinem Griff zu entlassen. »Was hast du? Raus mit der Sprache!«

»Nichts! Kapiert! Ich will nur gehen und der Rest geht dich nichts an!« Obwohl Jamies Aussage mich mehr traf als gedacht, erkannte ich an seiner Miene, wie unsicher und angespannt er war.

»Gib mir eine vernünftige Erklärung. Danach lasse ich dich gehen.« Um meinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, zog ich meine Hand zurück, blieb aber stehen.

»Es ist nichts. Okay!« Zähneknirschend drehte er sich von mir weg und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust.

»Für Nichts, ist deine Reaktion ein bisschen zu heftig. Findest du nicht auch?« Ich kämpfte mit meiner inneren Anspannung. Hatte ich womöglich einen Fehler begangen, von dem ich nichts wusste? Zumindest konnte ich mir keinen anderen Reim auf sein abruptes verändertes Verhalten bilden. Abgesehen davon tat er mir leid. Ich hatte zwar nur eine vage Vorstellung von dem, was er bisher erlebt hatte, doch dass es nichts Positives war, konnte ich mir gut ausmalen.

»Bis eben war doch noch alles in Ordnung. Habe ich etwas gesagt, das dir nicht gefallen hat?«, startete ich einen weiteren Versuch, ihn zum Reden zu bringen.

Jamie schluckte merklich und senkte die Arme. »Du hast keine Ahnung.«

»Woher auch. Deswegen frage ich ja. Geht es um unseren Deal?«

Er reagierte nicht.

»Bitte setz dich und erkläre es mir.«

»Ich verstehe es nicht«, murmelte Jamie, schien seinen Fluchtversuch jedoch aufgegeben zu haben.

»Was genau?« Vorsichtig drehte ich ihn zu mir und legte sanft eine Hand unter sein Kinn. Ich hob es an und zwang ihn mich anzusehen. Dabei lächelte ich beschwichtigend. »Ich möchte nicht, dass du gehst. Aber wenn du es hier nicht aushältst, wäre es schön, wenn du mir wenigstens den Grund verraten würdest.«

»Warum willst du das tun?«, antwortete er und eine Träne blitzte in seinem rechten Augenwinkel auf. Ich unterdrückte den Drang, sie mit meinem Daumen wegzuwischen.

»Was meinst du? Du musst schon mit der Sprache herausrücken. Ich kann leider keine Gedanken lesen.« Ich ließ ihn los und setzte mich. Ein mulmiges Bauchgefühl nahm von mir Besitz. War ich zu weit gegangen, indem ich ihm meine Hilfe angeboten hatte? Eine innere Stimme flüsterte mir zu, dass dies genau der Punkt war. Obgleich wir uns kaum kannten, hätte ich ihm gerne einen Ausweg aus dem Teufelskreis gezeigt. Die Vorstellung, dass er seinen Körper für ein paar Pfund an Männer verkaufte, die ihn nur als billige Befriedung ansahen, weckte etwas in mir, dass ich nicht ignorieren aber auch nicht näher beschreiben konnte. Tief in meinem Inneren drängten sich die Erinnerungen an meinen Vater an die Oberfläche. In seinem Club verdiente er mit jungen Kerlen wie Jamie sein Geld. Das war genau das, was ich so sehr an ihm verabscheute. Die Vorstellung, dass er auch mit Jamie Kohle scheffelte, brachte mich beinahe dazu, mich zu übergeben. Dagegen wollte ich etwas tun.

Jamie sah stur zu Boden und zeigte weiterhin keine Anstalten, meiner Einladung Folge zu leisten. Er kam mir wie ein Häuflein Elend vor, das nicht wusste, was es tun sollte.

»Es geht um mein Angebot, stimmt’s?«, tastete ich mich weiter voran und erhielt schließlich ein Nicken. Erleichtert seufzte ich.

»Wa ... warum ... tust du das?«, wiederholte Jamie und hob den Kopf. Er blickte mich konsterniert an. Seine gute Laune und Unbeschwertheit, die mich so an ihm fasziniert hatten, waren spurlos verschwunden.

»Oh je ... was habe ich angerichtet«, sagte ich leise und griff nach seiner Hand. Es freute mich, dass er es zuließ. »Es war nur ein Vorschlag. Ganz ohne Hintergedanken. Das musst du mir glauben. Ich mag dich und das meine ich ehrlich. Und zwar als Mensch und ich fühle mich keineswegs zu etwas verpflichtet, wegen dem, was in der Bar geschehen ist. Außerdem erinnerst du mich ein bisschen an meinen Bruder. Wie dem auch sei. Vielleicht war es Schicksal, dass wir uns begegnet sind. Wer weiß das schon. Lass uns einfach von vorne anfangen und ich stelle dir fürs Erste meine Couch als Schlafplatz zur Verfügung. Wenn du willst, helfe ich dir auch gerne bei der Suche nach einem neuen Zimmer. Alles andere vergessen wir vorerst. In Ordnung?«

Jamie schwieg, nahm jedoch neben mir Platz und knetete nervös die Finger.

»Das andere überlegst du dir in Ruhe. Muss nicht gleich heute sein und ich dränge dich auch zu nichts.«

»Und was willst du als Gegenleistung von mir? Soll ich...«, skeptisch hielt er inne.

»Gar nichts!«, antwortete ich rasch.

Ein weiteres Mal nickte Jamie und ein kaum merkliches Lächeln erhellte wieder sein wunderschönes Gesicht. »Du tust das echt ohne etwas von mir zu erwarten? Das ist mir so noch nie passiert.«

Ich lächelte ebenfalls. »Für alles gibt es ein erstes Mal. Ein Vorschlag zur Güte. Wir beide essen etwas und lernen uns besser kennen. Wolltest du nicht auch duschen?«

»Darf ich?«

»Na klar. Das Bad ist gleich da vorne links. Ich werde in der Zwischenzeit meinen Lieblingskoreaner anrufen und uns etwas Leckeres bestellen. Ich hoffe, du magst asiatische Küche.«

»Ich bin nicht wählerisch. Meine letzte Mahlzeit ist schon etwas länger her.«

»Trifft sich gut. Du verschwindest unter der Dusche und ich bestelle.«

Zufrieden sah ich, wie Jamie im Badezimmer verschwand.

Glücklich mit mir selbst atmete ich tief durch und griff nach dem Smartphone. In dem Moment, in dem ich die Nummer des Restaurants zu wählen begann, klingelte es. Um diese Uhrzeit meldete sich normalerweise nur Tyler, wenn er, wie so oft Geld schnorren wollte, um die Nacht durchzufeiern. Zu meiner größten Überraschung las ich aber nicht seinen Namen, sondern den von seiner leiblicher Mutter Rose. Irritiert starrte ich auf das Display. Ich verspürte keinerlei Verlangen, den Anruf meiner Stiefmutter anzunehmen, und drückte ihn weg. Rose Pearson und ich konnten uns nicht ausstehen. Das war von Anfang an so gewesen. Seit der Scheidung von meinem Vater vor zwei Jahren hatten wir uns nichts mehr zu sagen. Sogar Tyler hatte jeglichen Kontakt zu ihr abgebrochen. Dass sie sich jetzt bei mir meldete, konnte nur bedeuten, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Dennoch sollte sie wenigstens den Anstand besitzen, mich nicht um diese Uhrzeit damit zu behelligen. Als kurz darauf das Handy zum zweiten Mal klingelte, ignorierte ich es erneut. Was immer sie wollte, es interessierte mich nicht.

Kopfschüttelnd wählte ich die Nummer des koreanischen Restaurants. Ich hatte Hunger und freute mich darauf, gemeinsam mit Jamie zu essen.

 

*

 

Ich überreichte dem Lieferboten das Geld, da öffnete sich hinter mir die Badezimmertür. Lächelnd nahm ich das Essen entgegen, verabschiedete mich und wandte mich meinem Gast zu. Jamie kam mit nur einem Handtuch um die Hüften geschlungen ins Wohnzimmer spaziert. Seine Haare waren feucht und ich roch von Weitem, dass er mein Duschgel benutzt hatte. Ein auffälliges Tribaltattoo auf seiner Brust fiel mir ins Auge. Sein athletischer Oberkörper ließ mich schlucken. Er war wahrlich eine Augenweide, die in jeder Hinsicht meinen Geschmack traf. Mein Puls beschleunigte sich und ich musste mir eingestehen, dass das, was ich sah, sehr Appetit anregend war. Jamie konnte jedoch etwas mehr um die Hüfte herum vertragen. Dafür wollte ich unbedingt sorgen.

Verlegen holte ich tief Luft und lenkte den Blick von ihm weg. Mein Gesicht glühte und ähnelte vermutlich einer überreifen Chilischote.

Er legte den Kopf schief und lächelte mich an. »Sean, hättest du vielleicht ein paar Klamotten, die du mir ausleihen könntest? Meine gehören dringend gewaschen.«

»Ähm ... na klar.«

Ich kämpfte gegen den Drang an, ihn nicht näher in Augenschein zu nehmen, und stellte die beiden Styroporschachteln mit dem Essen auf dem Küchentisch ab. Dann eilte ich ins Schlafzimmer und kam mit einer Boxershort, Jeans und einem dunklen Rollkragenshirt zurück, die ich ihm überreichte.

»Die Sachen könnten vielleicht ein bisschen zu groß sein, aber es reicht, bis wir deine wieder sauber haben.«

»Cool. Danke. Bin gleich zurück.« Jamie verschwand erneut im Badezimmer.

Ich nutzte die Zeit und holte Gabeln aus der Schublade und zwei weitere Bierdosen aus dem Kühlschrank, bevor ich mich setzte.

»Boah ... du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut ich mich fühle. Beinahe wie ein neuer Mensch. Was gibt es denn? Es riecht lecker.« Jamie kam mit der Neugier eines Kindes näher und schnupperte.

»T... Tteokbokki und ... und ... Gimbap«, stammelte ich und schüttelte kaum merklich den Kopf. Niemals hätte ich gedacht, dass man in meinen Klamotten so heiß aussehen konnte.

Jamie entging mein interessierter Blick nicht, denn er begann zu grinsen. »Ich dachte, ich soll mit dem Anschaffen aufhören. Aber du siehst mich an, als würdest du mich für einen zwanziger ausziehen wollen«, flüsterte er mir überraschend ins Ohr und ich zuckte kurz zusammen.

Lachend setzte er sich mir gegenüber. Sein laszives Auftreten verfehlte keinesfalls seine Wirkung auf mich und er war sich dessen bewusst.

Dennoch wusste ich, dass er mich gerade aufzog, und erwiderte seine Anspielung. »Wie? Nur zwanzig? Hast du gerade ›Happy Hour‹? Das ist ganz schön billig für so ein schmuckes Kerlchen.«

Er zwinkerte mir zu.

Nervös fuhr ich mir mit den Fingern durch die Haare.

»Ein Sonderpreis ... nur für dich. Für einen Hunderter darfst mich auch anfassen«, säuselte er.

»Ist mir zu teuer. Da lade ich dich lieber zum Essen ein. Quatschen kostet nichts.«

»Gut gekontert.« Schmunzelnd nahm er sich eine Gabel und überlegte, was er zuerst probieren sollte.

»Das sind Tteokbokki. Reiskuchen in scharfer Sauce«, erklärte ich und deutete darauf. »Das andere ist ...«

»Sushi, ich weiß!« Er spießte sich ein Stückchen auf und steckte es sich in den Mund.

»Nicht ganz. Das nennt sich Gimbap. Es sieht zwar aus wie Sushi, ist aber keines. Die Koreaner füllen es mit allem Möglichen, unter anderem mit Omelett, Käse und Gemüse. Ich wusste nicht so genau, was dir schmeckt, daher habe ich einfach beides bestellt.«

»Wie geil ist dass denn! Ganz genau mein Geschmack«, sagte er, nachdem er den Bissen heruntergeschluckt hatte.

»Dann greif zu.« Mit Genuss fing auch ich an zu essen.

»Das schmeckt echt scheiße geil«, bedeutete Jamie und grub sich in den letzten Rest der Reiskuchen. »Versprich mir, dass du mich an meinem Geburtstag dazu einlädst. Das ist der absolute Hit.«

»Klar. Können wir gerne machen. Wann hast du denn?«, erkundigte ich mich interessiert.

»Ende des Jahres feier ich meinen Einundzwanzigsten.«

»Echt? Dann bist du sieben Jahre jünger als ich.«

»Ich wusste ja, dass du älter bist, aber nicht, dass du schon so ein alter Sack bist. Sieht man dir gar nicht an.«

Lachend prosteten wir uns zu.

»Dann ist es auch kein Wunder, dass du dir so eine Luxusbude leisten kannst. War bestimmt nicht billig.« Jamie grinste keck. Seine freche und vorwitzige Art faszinierte mich mehr und mehr.

»Alles nach meinem Studium hart erarbeitet. Die Wohnung selbst war jedoch ein Geschenk meines Vaters«, gab ich preis, ohne näher darauf einzugehen. Nur ungern dachte ich an diesen Tag zurück. Ich hatte die Villa mit gemischten Gefühlen verlassen und seither auch nicht mehr betreten.

Jamie ließ ein Pfeifen ertönen. »Cool! So ein Geschenk hätte ich auch gerne. Mit was verdienst du denn deine Kohle?«

»Ich bin Finanzberater. Mein Chef ist jedoch ein Arsch. Um die Drecksarbeit darf ich mich kümmern, aber die Anerkennung heimst er ein.«

»Solche Idioten kenne ich. Mein Dad ist auch so einer. Ihm gehört eine große Maklerfirma in Birmingham und er behandelt seine Angestellten gerne wie Sklaven.« Jamie stand auf und ging hinüber zum Couchtisch, auf dem die Zigaretten lagen. Er zündete sich eine an. Aufs Neue blieb er vor dem Panoramafenster stehen und sah hinaus in die Nacht.

Ich folgte seinem Beispiel, nahm allerdings auf dem Sofa Platz. »Das ist eine gute Umschreibung für meinen Boss. Wenn alles gut läuft, hat es aber bald ein Ende. Ich plane, mich selbstständig zu machen.«

Jamie nickte. »Klingt gut. Da bin ich froh, dass ich mir meinen Tag so einteilen kann, wie ich will. Wenn alles so gelaufen wäre, wie mein Dad geplant hatte, würde ich jetzt für ihn schuften.«

»Wäre es so verkehrt?« Ich wollte Jamies Redseligkeit nutzen, um mehr über ihn zu erfahren.

»Ehrlich gesagt, ich weiß nicht. Hätte er mich nicht mit einem Arschtritt vor die Tür gesetzt, dann vielleicht. Als ich noch auf die Schule ging, war er total versessen darauf, dass ich gute Noten nach Hause bringe, damit ich studiere, um später seine Firma weiterzuführen. Das ist aber kein Job für mich. Da ich seiner Meinung nach eh zu nichts zu gebrauchen bin, bin ich auch ganz froh ihn los zu sein. Vor meinem Rauswurf hat er auch gerne mal ausgeteilt. Jetzt ist es egal. Ein Studium hat sich so oder so erledigt. Ich habe zwar den Abschluss, aber nicht das nötige Kleingeld für die Studiengebühren. Das Geschäft wird wohl mein jüngerer Bruder übernehmen müssen. Der war sowieso schon immer Dads Liebling.«

»Hast du noch mehr Geschwister?«

»Eine ältere Schwester. Sie ist vierundzwanzig und ab und an telefoniere ich mit ihr. Meine Eltern wissen das gar nicht. Von ihr erfuhr ich so einiges, das mir nicht gefällt. Und was ist mit dir und deinem Bruder? Tyler, wenn ich mich richtig erinnere?«

»Im Grunde genommen ist er mein Halbbruder. Er kam bei meinem Auszug freiwillig mit mir mit. Ohne mich wollte er nicht in der Villa bleiben. Zum Glück hatte weder seine Mutter Rose noch unser Vater etwas dagegen. Für unseren Erzeuger waren wir ohnehin nur Ballast. Er lebt nur für die Arbeit. War er mal zu Hause, hat er sich fast nur besoffen und mich nicht beachtet. Tyler hingegen bekam seinen gesamten Frust ab. Er hat am meisten gelitten. Warum wir unserem Vater dermaßen egal waren, weiß ich bis heute nicht. Ich bin froh, dass ich keinen Kontakt mehr zu ihm habe.«

»Was für ein Arschloch.«

»Jupp und das beruht auf ...«, mitten im Satz klingelte mein Smartphone. Verärgert über die Störung holte ich es hervor. Schon wieder Rose. Ich hatte mich eben so nett mit Jamie unterhalten.

»Deine Freundin?«, hakte er schmunzelnd nach.

»Eher eine Hexe, die sich Stiefmutter schimpft«, antwortete ich mit sarkastischem Unterton.

»Sie hat nicht zufällig Warzen im Gesicht, einen Buckel und wohnt in einem Knusperhäuschen?«

»Noch nicht ... aber sie im finsteren Wald auszusetzen wäre eine gute Option.« Ich grinste gezwungen und überlegte, ob ich den Anruf wegdrücken sollte.

»Willst du nicht rangehen?«

»Eigentlich nicht. Ich fürchte nur, vorher gibt sie keine Ruhe. Du entschuldigst mich.« Lustlos nahm ich das Gespräch an.

»Na endlich!«, hörte ich sofort ihre näselnde Stimme und bekam bei ihrem Tonfall eine Gänsehaut. Alles an dieser Frau war für mich abstoßend. Ich hasste sie fast so sehr wie meinen Erzeuger. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Bedauerlicherweise war sie die Mutter meines Halbbruders. Zumindest teilten Tyler und ich unsere ablehnende Haltung ihr gegenüber.

»Was willst du? Ist was mit Tyler?«, antwortete ich unwirsch. Das nahm ich jedoch nicht an. Er hätte sich selbst bei mir gemeldet.

»Dein Vater liegt seit drei Tagen im St Thomasʼ Hospital«, brüllte sie mir förmlich ins Ohr.

»Und? Was interessiert es mich, ob der Mistkerl im Krankenhaus liegt.« Ich machte keinen Hehl daraus, dass mir diese Neuigkeit am Allerwertesten vorbeiging. Dabei sah ich Jamie an, der neben mir Platz genommen hatte und mir einen undefinierbaren Blick zuwarf.

»War ja klar, dass dich das nicht interessiert.«

»Und das schon seit Jahren, falls dir das entfallen sein sollte.«

»Edward liegt im Sterben.« Ihre kaltschnäuzige Art unterstrich nur umso mehr ihre mir so vertraute Gefühllosigkeit, während die Worte und deren Bedeutung mir einen flüchtigen Moment den Boden unter den Füßen wegzogen. Trotzdem schockierte mich die Nachricht nicht, obwohl sie ziemlich überraschend kam. »Die Ärzte sagen, dass er die Nacht nicht überlebt«, fuhr sie flapsig fort. »Er hatte einen schweren Herzinfarkt und wurde bereits reanimiert. Den nächsten Anfall übersteht er nicht. Bevor er stirbt, will er dich unbedingt sehen. Frag mich aber nicht warum.«

»Soll er doch verrecken. Ich habe ihm nichts zu sagen.« Vor Wut raste mein Puls und ich ballte die Hand zur Faust.

»Er hatte einen Herzinfarkt, du Idiot! Kannst du nicht wenigstens jetzt einmal nachgeben? Ach weißt du was, mir egal. Dann kann er mir ja die Villa auf dem Sterbebett vererben«, krähte sie ins Handy.

Fassungslos starrte ich Jamie an, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Da er das Gespräch ohne Probleme verfolgen konnte – Rose war schlecht zu überhören – war seine Gelassenheit aus seinem Gesicht verschwunden. Dennoch sagte er nichts.

»Das wagst du nicht! Die Villa gehörte meiner Mum und das weißt du genau!«, brüllte ich sie an.

»Versuch es doch, zu verhindern. Mein Anteil ist mir sicher.«

»Du blöde Schnalle! Wenn du ...«, tobte ich weiter, aber sie hatte bereits aufgelegt.

Ich atmete schwer. Mein Zorn wuchs und verbittert warf ich das Handy zur Seite. Trauer verspürte ich nicht, nur maßlose Verachtung. Hass auf meinen Vater, der mich in seinen letzten Stunden sehen wollte, während ich all die Jahre nicht für ihn existiert hatte. Weitaus mehr hasste ich in diesem Moment Rose, die angekündigt hatte, mir als leiblichen Sohn das Einzige zu nehmen, das mir von meiner verstorbenen Mutter geblieben war.

»Verdammte Scheiße!« Wutschnaubend sprang ich auf und suchte dringend ein Ventil, um mich abzureagieren. Ich fand jedoch nichts, was mich zusätzlich frustrierte. Seit Kindertagen war Edward stets ein Fremder für mich gewesen. Ein Mann, der mich nach dem Unfalltod meiner Mutter Amelie im Stich gelassen hatte, um mich in die Obhut seiner zweiten Frau Rose zu übergeben, die mich nie akzeptiert hatte. Eine Vater-Sohn-Beziehung oder eine Familie hatte es für mich nie gegeben.

»Hey Mann, tut mir leid für dich.« Plötzlich spürte ich Jamies Hand auf meiner Schulter.

Überrascht zuckte ich zusammen, denn ich hatte seine Anwesenheit völlig vergessen. Ich hieß die Berührung willkommen, denn insgeheim war ich froh, dass er bei mir war.

»Muss es nicht.« Seufzend blickte ich in seine herrlich dunkelbraunen Augen. Sie spiegelten Anteilnahme wider, wenngleich sie in diesem Fall fehl am Platz war. »Es wundert mich nicht, dass er jetzt schon den Löffel abgibt. Ich hätte aber eher damit gerechnet, dass er an Leberzirrhose und nicht an einem dämlichen Herzinfarkt stirbt.«

»Aber er ist trotzdem noch dein Vater«, murmelte Jamie gedämpft.

»Vater ist eine Bezeichnung für jemanden, der den eigenen Sohn nicht wie Luft behandelt«, antwortete ich ebenso leise und eilte hinüber zur kleinen Bar. Ich griff nach der Scotchflasche und goss mir ein. Bevor ich das Glas in einem Zug leerte, nahm ich einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Ich benötigte dringend etwas, um meine Nerven zu beruhigen. Zur Vorsicht schenkte ich mir ein weiteres Glas ein.

»Edward und sein bescheuerter Nachtclub gehen mir sonst wo vorbei. Er war ihm immer wichtiger als Tyler oder ich. Wer weiß, mit welchen Typen er sich rumgetrieben hat. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sein letztes Stündchen schlägt. Das hat der perverse und geldgeile Dreckskerl verdient.«

»Moment mal. Du redest jetzt aber nicht von dem Edward? Edward Ashton?«

Verwirrt über seine Frage starrte ich ihn an.

»Ich meine Eddi, dem der Nachtclub Black Desire gehört«, wurde Jamie deutlicher.

Geschockt riss ich die Augen auf. Meine Reaktion war für ihn Antwort genug.

»Was für eine coole Scheiße ist das denn!« Aufgeregt tigerte er vor mir auf und ab. »Jetzt ergibt das für mich einen Sinn. Als du dich vorhin mit dem Namen Ashton vorgestellt hast, dachte ich sofort an Eddi. Edward Ashton. Er und das Black Desire sind in der Szene bekannt wie ein bunter Hund. Dann bedeutet das, du ... du bist sein Sohn ... Sean Ashton.«

Unfähig etwas zu erwidern, schluckte ich mehrmals hintereinander einen wachsenden Kloß im Hals herunter. Mein Puls raste.

Jamie blieb stehen und sein fröhlicher Gesichtsausdruck verdüsterte sich zu einer traurigen Miene. »Sorry. Ich bin etwas durch den Wind. Ich stehe gerade in der Wohnung von Eddis Sohn. Wahnsinn! Aber um deinen Dad tut es mir echt leid.«

Ich räusperte mich und nahm einen weiteren Schluck des teuren Scotchs, bevor ich das Glas abstellte. Das Brennen in der Kehle und die Wärme, die sich daraufhin in meinem Magen ausbreitete, beruhigten mich ein wenig. Dennoch ich hatte das Gefühl, gleich umzukippen. Langsam ging ich zum Sofa zurück und setzte mich, ehe mir die Beine den Dienst versagten.

»Bist du dir sicher, dass wir hier von der gleichen Person reden?«, krächzte ich.

»Und wie! Es gibt nur ein Black Desire in der Stadt und das gehört Eddi.«

Zähneknirschend musterte ich ihn. Er war völlig aus dem Häuschen. »Könntest du aufhören ihn, so zu nennen.«

Nun war es Jamie, der mich verdutzt anstarrte. »Ich bin etwas durcheinander. Ich habe Eddi echt eine Menge zu verdanken. Einige der Jungs, die ich gut kenne, werden ihn sicherlich vermissen.«

»Vermissen?«, erkundigte ich mich schockiert.

»Mehr als einmal hat er mir ein Zimmer zum Übernachten überlassen, ohne dass ich Kundschaft bedienen musste«, sprudelte es aus Jamie heraus. »Und wenn das eine oder andere Arschloch mal zu weit ging, griffen seine Sicherheitsleute sofort ein. Hin und wieder hat er mir auch ein warmes Essen spendiert. Und das hat er nicht nur bei mir getan. Das ist Edward Ashton, wie ich ihn kenne.«

Bei seinen Worten drehte sich mir der Magen um. Er konnte keinesfalls von meinem Erzeuger sprechen. Das war unmöglich! Edward Ashton war kein herzensguter Samariter, sondern ein selbstverliebter Hurensohn, der seinen Söhnen bislang nur Ärger eingehandelt hatte.