Kapitel Vier

* * * * *

 

Mit verschränkten Armen lehnte ich am Türrahmen und zögerte hineinzugehen. Jamie stand neben mir und hatte mir eine Hand auf die Schulter gelegt. Einerseits war ich froh, dass er mich ins Krankenhaus begleitet hatte. Andererseits hätte ich mich in diesem Augenblick weit fortgewünscht.

Aufgewühlt ruhte mein Blick auf dem bleichen und sichtlich abgemagerten Mann im Krankenhausbett. Edward Ashton war an einem Herzmonitor angeschlossen und bekam künstlich Sauerstoff zugeführt. Ihn so zu sehen löste in mir ein unbeschreibliches entrücktes Gefühl aus. Dort lag mein Vater, aber in Wahrheit war er nur ein Fremder für mich.

Auf dem Weg ins Krankenhaus waren mir viele Gedanken durch den Kopf geschossen und alle waren mit folgenschweren Erinnerungen verbunden, die ich am liebsten für immer vergessen hätte. Zugleich musste ich ständig an Jamies Worte denken. Während der Taxifahrt hierher hatte er mir von weiteren positiven Seiten von Edward erzählt, die nicht zu dem Bild des Mannes passten, den ich nur als kaltherzig und schroff kannte.

»Ich hätte gewettet, dass du nicht kommst«, drang Rose’ Stimme an mein Ohr. Sie tauchte wie aus dem Nichts im Krankenhausflur auf und kam auf mich zu. Der widerliche süßorientalische Geruch ihres Parfüms stieg mir in die Nase und brachte mich zum Husten. Wie immer trug sie viel zu viel Make-up, um ihre faltig gewordene Haut zu kaschieren. Sie wollte nicht wahrhaben, dass sie mit ihren zweiundfünfzig Jahren nicht mehr die Jüngste war. Fahrig fuhr sie sich mit den Händen über ihre platinblond gefärbten Haare, die sie heute als Hochsteckfrisur trug, um zu ertasten, dass ihr keine Strähne abstand. Ihrer Miene war zu entnehmen, dass mit meinem Auftauchen ihr Traum vom schnellen Geld geplatzt war.

»Du bist noch da?«, knurrte ich gereizt. Mit zu Schlitzen verengten Augen fixierte ich meine Stiefmutter. Anstatt zu antworten, betrachtete sie Jamie mit einem abfälligen Blick.

»Ach das ist die Schrumpelhexe«, sagte er mit einem breiten Grinsen.

Empört schnaubte sie und zupfte sich die Jacke ihres hellblauen Kostüms gerade. »Ich will gar nicht wissen, wo du den da aufgegabelt und was du ihm alles erzählt hast. Geh zu ihm! Wenn du noch länger wartest, stirbt er, bevor er mit dir reden konnte. Ich bin dann weg. Vergiss mir nicht, eine Nachricht mit dem Beerdigungsdatum zu schicken.« Sie zeigte mit dem Kinn auf Edward, dann drehte sie sich um und stolzierte auf ihren Stöckelschuhen davon.

»Also die kann ich schon mal nicht leiden«, nuschelte Jamie.

»Wer kann das schon.«

»Vergiss die Schnepfe. Geh zu deinem Vater.« Jamie schob mich ins Zimmer.

Ich schüttelte jede Gefühlsregung in Bezug auf Rose ab und atmete tief durch. Schließlich konzentrierte ich mich auf den sterbenden Mann im Bett. Schritt für Schritt ging ich auf ihn zu und blieb mit zu Fäusten geballten Händen vor ihm stehen.

»Sean ...«, flüsterte mein Vater kaum hörbar.

Erschrocken über die schwache Stimme sah ich ihm ins fahle Gesicht. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass der Mann vor mir nur ein blasses Abbild dessen darstellte, das ich als meinen Vater kannte und hasste. Die letzten Jahre hatten ihn sichtlich gezeichnet. Die Wangen waren eingefallen, der dunkle Bart graumeliert und die schmalen Lippen schimmerten blau. Als er die dürre Hand hob, um nach der meinen zu greifen, zitterte sie.

»Sean«, wisperte er erneut und sein Blick durchbohrte mich förmlich. »Da... danke, dass du ... gekommen bist.«

»Rose hat mich angerufen«, antwortete ich eisig.

»Bitte ... bitte ... setz dich«, bat er mich.

Im ersten Moment wollte ich ablehnen, aber tief im Inneren spürte ich, dass mich sein Anblick nicht völlig gefühllos ließ. Ich wusste, dass ich hier und jetzt vermutlich das letzte Mal mit ihm sprechen würde. Obwohl ich keinerlei Gefühle für ihn hegte, war das die Chance zumindest zu erfahren, warum er mich als seinen Sohn von sich gestoßen hatte. Ich sprang über meinen eigenen Schatten und nahm auf dem Stuhl Platz, den die Schwester zuvor bereitgestellt hatte.

Schweigend blickten wir uns an. Nur zu deutlich erkannte ich, dass mein Vater um den letzten Funken Leben kämpfte. Obwohl ich mir geschworen hatte, dass ich den Tag feiern würde, an dem er endlich diese Erde verlässt, tat er mir auf einmal leid.

»Wir ... wir müssen reden«, presste Edward kraftlos hervor.

Ich nickte. Mir schwirrten unzählige Fragen im Kopf herum, doch ich war nicht fähig, auch nur eine davon zu stellen.

»Mir bleibt nicht viel Zeit, bevor der Teufel mich ins ewige Höllenfeuer schickt«, bedeutete er dieses Mal etwas gefestigter.

»Erwarte kein Mitleid. Das hast du dir selbst zuzuschreiben.«

»Ich weiß.« Er hustete und streckte die Hand nach meiner aus.

Erstaunt darüber, dass er meine Nähe suchte, zögerte ich. Es kam mir alles so unwirklich vor.

»Bitte«, murmelte er und sein Blick war flehend, als wäre es das Letzte, das er sich vor seinem Tod noch ersehnte. Widerwillig kam ich seinem Wunsch nach und ergriff sie. Seine Finger waren eiskalt.

Edward verzog die Mundwinkel kaum merklich zu einem wissenden Lächeln. »Du bist mein Sohn ... und der Einzige auf dieser Welt, dem ich vertraue.«

»Tyler ist es auch«, gab ich flapsig zurück.

»Ja und nein. Es ist nicht seine Schuld. Du musst mir etwas versprechen. Es ist wichtig. Kein anderer kann es tun.« Er hielt inne und hustete aufs Neue. »In ... in der Schublade ... ist der Schlüssel. Ein Leben hängt davon ab. Du darfst nicht zulassen, dass ihn jemand in die Finger bekommt. Es ist so verdammt wichtig. Du musst es mir versprechen.«

»Was erwartest du von mir? Ich bin dir nichts schuldig.« Ich spürte, wie meine Wut wieder in mir hochkochte. Am liebsten hätte ich seine Hand losgelassen, doch er fand die Kraft, sie zu drücken.

»Ich weiß, du hasst mich aus gutem Grund«, flüsterte er. »Ich möchte keine Vergebung von dir ... aber Sean ... du bist mein Erstgeborener. Der Sohn meiner einzigen Liebe. Es tut mir leid, dass ich dir nie ein richtiger Vater war. Ich bin mir meiner Fehler bewusst ... und ... bereue sie.«

»Dafür ist es zu spät.« Seufzend schloss ich einen Moment die Augen.

»Ich weiß. Von ... von mir aus kannst du alles ablehnen. Aber bitte ... bitte versprich mir, dass du den Brief liest und dich um meinen Engel kümmerst.« Wieder wurde er durch einen Hustenanfall unterbrochen. Automatisch griff ich nach dem Becher mit Wasser auf dem Tischchen neben ihm und gab ihm einen Schluck zu trinken. Erst danach stellte ich die Frage, die mir auf der Zunge brannte: »Was für einen Engel?«

»Versprich es ... du musst es ver...« Plötzlich japste er panisch nach Luft und griff sich an die Brust.

Der Monitor, der die ganze Zeit ein kontinuierliches Piepsen von sich gegeben hatte, spielte verrückt. Das Geräusch ging in einen monotonen Pfeifton über. Als ich Edward ansah, riss er die Augen auf. Er atmete aus, aber nicht mehr ein. Sein Körper erschlaffte, ebenso die Hand, die ich hielt.

Auf einmal war der Teufel um mich herum los. Mehrere Krankenschwestern und ein Arzt kamen ins Zimmer gerannt und drängten mich ruppig zur Seite. Hektisch begann das Krankenhauspersonal mit der Reanimation. Immer wieder wurde versucht, sein Herz mithilfe des Defibrillators zum Schlagen zu bringen. Doch selbst nach ein paar Elektroschocks kehrte mein Vater nicht mehr ins Leben zurück. Wenigen Minuten später war der Spuk auch schon vorbei. Der Arzt bekundete mir sein Beileid und die Schwestern schlossen sich ihm an.

Edward Ashton – mein Vater – war tot. Der Mann, der nun leblos im Bett lag, hatte nicht nur meine Kindheit und Jugend ruiniert, sondern mir mit seinem letzten Atemzug eine Bürde auferlegt, auf die ich gut und gerne verzichten konnte. Fassungslos starrte ich ihn an und war unfähig etwas zu sagen.

 

*

 

»Verdammter Mistkerl!«, fluchte ich und blickte unwillkürlich gen Himmel.

Vor meinem geistigen Auge konnte ich meinen Vater dort oben euphorisch grinsen sehen. Genau das war seine Art gewesen. Geheimnisse zu hüten und andere vor vollendete Tatsachen zu stellen. Selbst nach dem Tod musste er sich köstlich amüsieren. Tiefe Enttäuschung und wachsende Verärgerung wechselten sich ab. Ich war nicht einmal in der Lage um den Mann zu trauern, der mir stets zu verstehen gegeben hatte, dass ich nicht in sein Weltbild passte.

»Hast du denn gar keine Ahnung, was er gemeint haben könnte?«, fragte Jamie, der sich auf einer Parkbank vor dem Krankenhauseingang gesetzt hatte und eine rauchte.

»Nein!«, antwortete ich verbittert und zündete mir ebenfalls eine Zigarette an. »Ich habe nur diese doofen Schlüssel.«

»Gib mal her«, bedeutete Jamie und streckte die Hand aus.

Ich griff in die Hosentasche und überreichte ihm den Schlüsselbund, an dem ein schwarzes Lederarmband befestigt war. Es handelte sich um handelsübliche Türschlüssel, die ihn jede Haustür gepasst hätten.

»Vielleicht gehören sie zu Eddis Zuhause«, sagte Jamie nachdenklich. »Einer davon sieht wie ein Briefkastenschlüssel aus. Die anderen eher, als würden sie zu Vorhängeschlössern passen.«

Seufzend nahm ich sie wieder an mich und steckte sie ein. »Keine Ahnung. Eigentlich interessiert es mich nicht, aber ich will zumindest wissen, was er in diesen verdammten Brief geschrieben hat.«

»Vergiss diesen Engel nicht«, erinnerte er mich an das letzte Rätsel, das mein Vater mir vor die Füße geworfen hatte.

Ich schnaubte. »Bestimmt ist es irgendeine bescheuerte Tussi oder so ein verkorkster Typ, den er sich geangelt hat. Mir aber auch egal.«

»Und was wirst du jetzt tun?«

Das war eine gute Frage. Am liebsten hätte ich meinen Frust laut herausgeschrien, denn ich hatte das untrügliche Empfinden, plötzlich die Last der Welt auf meinen Schultern zu tragen. Da kam mir eine Idee. Ich blickte Jamie mit einem herausfordernden Lächeln an. »Bist du müde?«

Er schüttelte den Kopf. »Warum?«

»Lust auf einen Abstecher nach Havering?«

Jamie dachte einen Moment nach, bis er mich ziemlich überrascht ansah. »Das liegt nicht gerade um die Ecke.«

»Das nicht, aber wie du schon gesagt hast, gehört der Schlüssel bestimmt zur Villa. Seit meinem Auszug besitze ich keinen mehr. Lass es uns ausprobieren. Aber dieses Mal nehmen wir mein Auto.«

»Bist du nüchtern genug?«

»Wir laufen nach Hause und unterwegs besorge ich uns Kaffee und etwas zum Beißen. Das dürfte reichen, um mir einen klaren Kopf zu verschaffen.«

Mit neuem Tatendrang drückte ich die Zigarette aus und ging voraus. Jamie folgte mir. Eine halbe Stunde später saßen wir im Auto auf dem Weg zum Heim meiner Vergangenheit.

Die Sonne blinzelte bereits am Horizont hervor, als ich den Sportwagen in der Auffahrt parkte. Mit gemischten Gefühlen schaltete ich den Motor aus und blickte durch die Windschutzscheibe zum zweistöckigen Herrenhaus. Äußerlich hatte es sich stark verändert. Die weiße Hausfassade wies Risse auf und an manchen Stellen blätterte der Verputz ab. Der wildwachsende Efeu hatte sich an der Wand einen Weg nach oben gesucht und verdeckte zwei der vorderen Fenster. Der verwahrloste Vorgarten zeigte ebenfalls deutlich, dass sich niemand mehr um das Anwesen kümmerte. Das passte so gar nicht zu meinen Erinnerungen, die ich jedoch weit von mir fortschob. Ich war nicht gekommen, um in früheren Zeiten zu schwelgen, sondern um mir Klarheit zu verschaffen.

»Lass uns erst einmal reingehen.« Ich öffnete die Autotür und stieg aus. Das Garagentor, das sich direkt vor mir befand, benötigte ebenfalls dringend einen neuen Anstrich. Nur zu gut wusste ich, dass sich dahinter ein großer Raum befand, in dem einst drei Oldtimer und ein Maybach gestanden hatten und der reichlich Platz für weitere Autos bot. Ob mein Vater noch den alten Porsche aus den Neunzigern besaß? Oder den Mustang aus den Sechzigern, den er kurz vor meinem Auszug gekauft hatte?

»Hier wurde schon lange nichts mehr gemacht«, sprach Jamie das Offensichtliche aus und riss mich aus den Gedanken. Gemeinsam stiegen wir die drei Stufen zur Eingangstür hinauf.

»Bist du aufgeregt?«, erkundigte ich mich bei meinem Begleiter neugierig, während ich die Schlüssel hervorholte.

Jamie grinste. »Ich würde eher sagen ehrfürchtig. Versteh mich nicht falsch, aber mein Bild von deinem Dad ist eben ein anderes.«

Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich verstehe schon.«

Langsam steckte ich den größten der Schlüssel ins Türschloss und er glitt problemlos hinein. Das uralte Zahlenschloss war schon bei meinem Auszug defekt gewesen und nicht mehr erneuert worden. Weitere Sicherheitsmaßnahmen fielen mir nicht auf. Für geschickte Einbrecher wäre es ein Leichtes das gesamte Haus auszuräumen. Das schien jedoch nicht der Fall zu sein, denn die Verschlussvorrichtung war immer noch intakt.

Die Tür glitt quietschend auf. Sofort stieg mir ein modriger Geruch in die Nase. Ein wenig überrascht betrat ich das Haus meiner Kindheit und schaltete das Licht an. Schweren Herzens ließ ich die Erinnerungen zu, die mich beim Anblick der antiken Kommode zu überfluten begannen. Ein Großteil der Möbel stammte noch von meiner Mutter Amelie, die das Anwesen von ihren Eltern geerbt hatte. Damals hatte sie Edward gerade geheiratet und an mich hatte noch niemand gedacht.

»Wow! Was ist denn das?«, hörte ich Jamie, der an mir vorbeihuschte und sich ein Landschaftsgemälde in Öl betrachtete, das in der Eingangshalle gegenüber der Treppe an der Wand hing. »Ist das ein Original?«

»Ja. Hat meine Mum gemacht. Hier stehen ihre Initialen. A.A. ... Amelie Ashton.« Mit traurigem Blick nahm ich es in Augenschein. Mein Puls beschleunigte sich, denn alles an diesem Haus war mit Bildern meiner Vergangenheit behaftet. Aber gerade dieses Gemälde gehörte zu den schönsten, die meine Mutter gemalt hatte. Ich liebte es und schämte mich, da ich vergessen hatte, dass es dort hing. Mit den Fingerspitzen strich ich über die wunderschönen harmonierenden Farben einer blühenden Frühlingswiese, auf der ein kleines Mädchen und ein kleiner Junge um die Wette rannten. Meine verstorbene Mutter hatte wahrlich Talent für Details besessen, dabei aber nie den Blick für das große Ganze verloren.

»War deine Mum eine Künstlerin oder so etwas Ähnliches?«

»In erster Linie war sie Kunstprofessorin an der Uni. Sie hatte Kunst studiert und in ihrer Freizeit selbst gerne gemalt.« Vor meinem inneren Auge tauchte eine Erinnerung auf. Meine Mutter, die bei Sonnenschein unter einem Baum saß und total vertieft in ihrer Arbeit war. Rasch schüttelte ich sie ab und ging weiter in Richtung Wohnzimmer. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, mich den längst vergangenen Tagen zu stellen. Vermutlich war es nicht das letzte Mal, dass ich künftig dieses Haus betreten würde. Ich musste mich noch um ein Beerdigungsinstitut kümmern und um alles andere wahrscheinlich auch.

Durch die hohen Fenster des großzügigen Raumes fiel das erste Tageslicht hinein und leuchtete ihn schwach aus. Die meisten Möbel waren abgedeckt und eine dicke Staubschicht lag auf den Laken. Auch hier roch es muffig. Ein weiteres Indiz, das Edward schon lange nicht mehr hier gewohnt oder sich um das Anwesen gekümmert hatte. Vermutlich hatte er sich in der Innenstadt eine Wohnung gemietet. Etwas anderes fiel mir nicht ein. Ich ging voraus und verzichtete auf Licht, denn je mehr ich sah, desto deutlicher wurden meine schmerzlichen Erinnerungen, die ich jahrelang ausgeblendet hatte. Ich war nur gekommen, um den Brief zu finden.

Mit schnellen Schritten hielt ich auf Edwards Arbeitszimmer zu, dass gleich nebenan lag. Die kleine Lampe auf dem Schreibtisch spendete Licht und präsentierte mir eine weitere Staubschicht. Es war jedoch alles ordentlich aufgeräumt.

»Er muss irgendwo sein«, murmelte ich vor mich hin und wies Jamie an, alle Schubladen und Schränke zu öffnen.

Wir suchten das gesamte Büro ab, aber nirgendwo fand ich einen Brief. Es gab nicht einmal Ordner oder sonstiges, dass man für gewöhnlich in einem Arbeitszimmer aufbewahrte. Lediglich alte Bücher in halbzerfressenen Einbänden.

Frustriert gab ich die Suche auf und setzte mich auf den Bürostuhl.

Jamie hockte sich auf die Schreibtischkante und blickte mich fragend an. »Was hat dein Dad noch einmal genau gesagt?«

Nachdenklich runzelte ich die Stirn. »So etwas wie den Brief lesen und mich um seinen Engel kümmern. Richtig daran erinnern kann ich mich nicht.«

»Hm. Gibt es denn noch einen anderen Ort?«

»Vielleicht das Gartenhäuschen oder die Garage«, antwortete ich und sprang auf. »Das ist es. Mums Atelier!«

Ohne auf Jamie zu achten, eilte ich zurück ins Wohnzimmer und riss die Terrassentür auf. Vorbei am abgedeckten Pool, den ich bewusst ignorierte, spurtete ich weiter und erreichte schließlich das Poolhaus, in dem meine Mutter immer gezeichnet hatte. Es war mit einem Vorhängeschloss verriegelt. Ich zog die Schlüssel hervor und instinktiv griff ich nach dem Richtigen.

Urplötzlich wurde es mir ganz mulmig in der Magengegend. Ich hatte das Atelier zum letzten Mal an meinem achtzehnten Geburtstag betreten. Wehmütig trat ich über die Schwelle und in diesem Moment streckte die Sonne ihre ersten Strahlen aus. Der Raum wurde von angenehm warmem Licht durchflutet. Wie in Trance spazierte ich an den Wänden entlang und strich mit den Händen über die zahlreichen abgedeckten Leinwände meiner Mutter. Neben einer bequemen Chaiselongue befand sich nur noch Mums Staffelei und ein Schrank hier. Bedächtig ging ich darauf zu und seufzte dabei mehrmals. Niemals hätte ich geglaubt, diesen Ort wiederzusehen. Es wirkte so, als hätte mein Vater alles so belassen, wie es schon immer gewesen war. Ich hielt auf den Schrank zu und öffnete ihn. Er war gefüllt mit Malerutensilien. Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich die alten getränkten Farblappen und eine unverschlossene Dose mit Terpentin. Der Inhalt war längst verdunstet. Alles was ich sah, war, wie ich es in meiner Erinnerung gespeichert hatte. Nur leider befand sich auch hier nirgendwo ein Brief.

Enttäuscht ließ ich die Schultern hängen.

»Hast du noch eine andere Idee?«, flüsterte Jamie unerwartet neben mir.

Ich zuckte kurz zusammen. »Die Garage ...«, sagte ich tonlos.

Ohne ein weiteres Wort marschierte ich dorthin. Bis auf Autos, unter denen sich zu meiner Verwunderung tatsächlich die beiden Oldtimer befanden, beherbergte sie nichts als altes, verschmutztes Werkzeug.

Verärgert suchte ich im Haus weiter. Zuerst im Erdgeschoss und danach in den oberen Zimmern. Doch nirgendwo fand ich auch nur die Spur eines Briefes.

»Du verfluchter Mistkerl!«, schnaubte ich laut und verschaffte meinem Ärger Luft. Mit verschränkten Armen blickte ich aus Edwards Schlafzimmerfenster hinaus in den verwahrlosten Garten.

»Vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit.« Jamie trat an meine Seite und wir beiden sahen uns deprimiert an. Ich konnte spüren, dass es ihm ein aufrichtiges Anliegen war, mir zu helfen, obwohl wir uns kaum kannten.

»Und welche?« Ahnungslos zuckte ich mit den Schultern.

»Das Black Desire.«

Schockiert starrte ich ihn an. »Du meinst, er hat ...?«

»Wenn er hier nicht ist und du sonst keinen anderen Ort kennst, liegt das nahe. Findest du nicht auch?«, ergänzte Jamie mit einem tröstenden Lächeln.

Grimmig darüber, dass er recht haben könnte, fuhr ich mir unwirsch mit der Hand durchs Gesicht.

»Ich habe mir geschworen den Club nie zu betreten«, gab ich offen zu.

»Falls es dir hilft ... der Laden ist seit längerem geschlossen. Angeblich aufgrund von Sanierungsarbeiten. Das weiß ich, weil ich erst letzte Woche zufällig in der Gegend war.«

»Du glaubst wirklich, dass er dort ist?«, hakte ich nach und schluckte schwer. Auch wenn es mir widerstrebte dieses Höllenloch zu betreten, wollte ich jedoch unbedingt den Brief finden. Ebenso, wie ich meine Neugier nicht verleugnen konnte. Ob mir gefiel, was darin geschrieben stand, war eine völlig andere Sache.

Jamie nickte.

»Nun gut. Ich fürchte, mir bleibt keine andere Wahl. Aber du kommst mit.«

»Klar. Ich halte mit dir auch Händchen, wenn es dir hilft«, erklärte er todernst und rang mir damit sogar ein schwaches Grinsen ab.

Beim Verlassen der Villa überlegte ich, ob ich meine beiden besten Freunde anrufen sollte. Sie hatten meinen Vater ebenfalls gekannt. Ein Blick auf die Uhr brachte mich jedoch von dem Vorhaben ab. Es war noch sehr früh und das an einem Sonntag. Anderseits war der Club auch nicht unbedingt der Ort, an dem ich sie sehen wollte. In diesem Fall war Jamie weitaus geeigneter. Insbesondere, wenn ich bedachte, dass er schon mehrmals dort gewesen war.

 

*

 

Mit einer Mischung aus Verachtung und aufsteigender Neugier stand ich mit Jamie vor dem Black Desire. Von außen war das riesige Gebäude nicht anders als jedes fünfstöckige Backsteinhaus, das irgendwann in den fünfziger Jahren erbaut worden war. Ich wusste, dass es früher ein Hotel gewesen war. Eine verdreckte Leuchtschrift in Großbuchstaben über dem Eingang wies daraufhin, dass sich dahinter keine Wohnungen befanden. Das tat auch ein Schild an der Tür, auf dem ›Menʼs Club - Zutritt nur für Personen ab einundzwanzig Jahren‹ stand.

Sicherheit war für meinen Vater wohl oberste Priorität gewesen. Das zeigte sich durch eine Kamera, die jeden Besucher filmte. Ein roter Punkt verriet, dass sie in Betrieb war und uns im Moment aufnahm. Direkt an der Tür hing ein handgeschriebenes Blatt Papier mit den Worten ›vorübergehend wegen Sanierungsarbeiten geschlossen‹.

Überrascht über die trostlos wirkende Fassade verwunderte mich dennoch nichts. Das Gebäude reflektierte von außen die Kaltherzigkeit und Unnahbarkeit meines Vaters wider, die er mir gegenüber stets verkörpert hatte. Aber um meine Suche nach dem bescheuerten Brief fortzusetzen, musste ich über meinen Schatten springen und in sein Reich eintreten.

Ich zog den Schlüsselbund hervor. Mein Puls schnellte in die Höhe und ich verspürte eine gewisse Anspannung, als ich den richtigen Schlüssel in der Hand hielt. Sobald ich den Club betrat, würde ich meinen selbstauferlegten Schwur brechen, das Etablissement unter keinen Umständen aufzusuchen. Ich wollte mit Edwards dreckigen Geschäften nichts zu tun haben.

»Komm, schließ schon auf!«, forderte Jamie.

Seufzend blickte ich ihn an. Er hatte keine Ahnung, wie es in meinem Inneren aussah. Einerseits wollte ich wissen, was mein verstorbener Vater mir zu sagen hatte. Andererseits fühlte ich Scham, weil er mit Jungs wie Jamie sein Geld verdient hatte. Gleichwohl war dies für meinen Begleiter alles kein Neuland. Vielleicht hatte ich deshalb darauf bestanden, dass er mitkommen sollte. Mit ihm an der Seite fühlte ich mich nicht allein.

»Dich beißt niemand. Hier ist keine Menschenseele«, sprach er und griff nach meiner Hand, die er kurz und fest drückte. Seine Anteilnahme verlieh mir neue Stärke. »Aber du musst nicht, wenn du nicht willst. Wir können ein anders Mal wiederkommen.«

»Jetzt sind wir schon da.« Mehr antwortete ich nicht und steckte den Schlüssel ins Schloss. Dennoch zögerte ich. Einen Moment überlegte ich, Tyler anzurufen. Er hatte das gleiche Recht wie ich hier zu sein. Noch wusste er weder vom Tod unseres Vaters, noch dass ich auf Rose getroffen war. Mir war aber ebenso klar, dass er beides lediglich mit einem Schulterzucken abgetan hätte. Obwohl er die Szene kannte, gab er mir immer wieder zu verstehen, dass auch er den Club nicht akzeptierte und respektierte.

»Okay. Tun wir es«, sagte ich zu mir selbst und öffnete den Haupteingang des Clubs.

Sofort schlug uns eine erdrückende Dunkelheit entgegen. Im Gegensatz zur Villa roch es jedoch wesentlich frischer und man konnte spüren, dass bis vor kurzem noch reger Betrieb geherrscht hatte.

Flugs schloss ich hinter uns beiden wieder ab. Mit der Taschenlampenfunktion des Smartphones leuchtete ich den Weg ins Innere aus, bis ich den ersten Lichtschalter im Barbereich fand. Hass stieg in mir hoch. In Gedanken konnte ich mir ausmalen, wie Callboys und Freier verschiedenen Alters diesen Ort bevölkert hatten, während Musik über die Lautsprecher das Areal beschallte. Erstaunlicherweise begrüßte mich jedoch nicht die erwartete Schmuddeligkeit. Alles war ordentlich aufgeräumt und der Ort erweckte nicht den Eindruck, als wäre der Betrieb eingestellt worden.

Ich achtete nicht näher auf meine Umgebung und steuerte auf eine Tür zu mit der Aufschrift ›Privat‹. Dahinter erstreckte sich ein langer Gang, der an einer Großküche vorbei führte. Auch hier konnte die Arbeit jederzeit wieder aufgenommen werden.

»Ich wusste nicht, dass auch gekocht wurde«, murmelte ich verblüfft.

»Hättest mich nur fragen müssen.« Jamie grinste und betrat die Küche.

Ich folgte ihm aus Interesse und wagte einen Blick in die beiden Kühlschränke. Sie waren leer und ausgeschaltet. Im angrenzenden Vorratsraum standen ein paar wenige Konserven in den Regalen.

»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Eddi hier gelebt hat. Sieht zumindest so aus«, hörte ich Jamie und kam zu ihm hinüber.

Überrascht entdeckte ich mehrere Schüsseln in der Spüle und zwei Dosen. Laut der Aufschrift hatten sie passierte Tomaten enthalten. Merkwürdigerweise waren sie jedoch sauber. Im Abfallcontainer daneben fanden sich weitere leere und gereinigte Konserven und Plastikverpackungen von Nudeln. Einen Moment dachte ich an die Villa und deren Zustand zurück. Es war durchaus denkbar, dass mein Vater hier gelebt hatte.

»Wenigstens ziehen sie kein Ungeziefer an.« Ich kehrte der Küche den Rücken zu und verschwendete keinen weiteren Gedanken daran, als ich plötzlich ein leises Klicken wahrnahm. Rasch blickte ich den Flur entlang, doch weit und breit war keine Menschenseele. Trotzdem hätte ich schwören können, dass ich mir das Geräusch nicht eingebildet hatte.

»Was ist los?«, erkundigte sich Jamie.

»Ach nichts. Ich glaube, ich höre schon Gespenster«, wiegelte ich ab und rieb mir erschöpft die Augen.

Als Antwort gähnte Jamie ausgiebig.

»Suchen wir den Brief und dann gehen wir zu mir zurück. Vorher kann ich nicht schlafen.« Ohne seine Reaktion abzuwarten, setzte ich die Erkundung fort und fand ganz am Ende Edwards Büro.

Neugier überkam mich, als ich mich drinnen umsah. Ein übervoller Ordnerschrank und ein Bücherregal stachen mir ins Auge. Weitere Ordner türmten sich in der Mitte des Raumes auf einem überdimensionalen dunklen Holzschreibtisch. Dahinter thronte ein Ohrensessel, der seine besten Zeiten längst hinter sich gelassen hatte. Mit der Hand fuhr ich über das dunkelbraune verschlissene Leder.

»Verdammte Scheiße!«, hörte ich Jamie und drehte mich irritiert zu ihm um.

»Was ist?«

»Nichts. Ich stehe gerade nur im Herz des Black Desires. Wenn ich das jemandem sagen würde, der würde mir nicht glauben.«, antwortete er mit feierlicher Stimme.

»Behalte das bitte für dich«, bat ich ihn, schüttelte aber dennoch amüsiert den Kopf.

Schweigend ging ich um den Schreibtisch herum und setzte mich. Fieberhaft überlegte ich, wo ich an Edwards Stelle einen Brief abgelegt hätte, der gefunden werden sollte. Das trat jedoch in den Hintergrund, als mir mehrere gerahmte Fotografien neben dem Computerbildschirm ins Auge fielen.

Mit Unbehagen streckte ich die Hand nach dem ersten Foto aus und strich mit dem Zeigefinger über den Rahmen. Es zeigte mich im Alter von sieben mit meinem Hund Tank. Ich hatte den Sheltie kurz nach der Beerdigung meiner Mutter im Welpenalter bekommen und ihn als Teenager nach zwölf Jahren unter Tränen einschläfern lassen müssen. Verwundert darüber, dass mein Vater ein Bild von mir besaß, wanderte mein Blick zum nächsten.

Wehmütig starrte ich in das zauberhafte Antlitz meiner Mutter Amelie. Ihr Lächeln berührte mein Herz und ich nahm das Foto an mich. Ich hatte es nie zuvor gesehen. Sie saß in einem bunten Sommerkleid auf einer Wiese und blickte mit zurückgelegtem Kopf gen Himmel. Ihre dunkelblonden Haare fielen ihr den Rücken herab.

Mein Herzschlag beschleunigte sich aus Freude und Verwirrung. Niemals hätte ich ein Bild von ihr hier erwartet. Doch es war nicht der geeignete Zeitpunkt und auch nicht der richtige Ort, um sentimental zu werden. Tief seufzend stellte ich es auf seinen Platz zurück.

»Wer ist das?«, drang Jamies leise Stimme an mein Ohr.

»Meine Mum«, antwortete ich beklommen. Meine Erinnerungen an Amelie Ashton waren lediglich schemenhaft, dennoch drängten sie sich mir in diesem Moment unweigerlich auf. Das Einzige, woran ich mich deutlich entsinnen konnte, war ihr liebevolles Lächeln und eine angenehme Wärme, wenn sie mir abends im Bett Lieder vorsang. Für einen Augenblick verspürte ich einen inneren Frieden, der jedoch von dem verhassten Gesichtsdruck meines Vaters überschattet wurde. Auf mein jahrelanges Nachbohren hin, hatte er mir kurz nach meinem fünften Geburtstag endlich erklärt, warum meine Mutter nicht mehr da war. Sie war bei einem tragischen Unfall zu Hause im Pool ertrunken, als ich gerade drei geworden war. Die genauen Umstände kannte ich bis heute nicht. Doch seit diesem Tag hatte mein Vater mich wie Luft behandelt. Er hatte meine Erziehung einer Nanny anvertraut, bis Rose bei uns eingezogen war.

»Sean, du kommst ganz nach ihr. Echt! Sie war eine wunderschöne Frau«, holte mich Jamie zurück in die Gegenwart.

»Danke«, erwiderte ich bedrückt. »Ehrlich gesagt hätte ich nie gedacht, dass hier ein Bild von ihr stehen würde.«

»Und wer ist das? Dein Bruder?« Jamie griff nach dem dritten Bilderrahmen.

Konsterniert starrte ich es an. Ich atmete schneller und riss ihm das Foto aus der Hand. Es zeigte Edward glücklich lächelnd auf dem Ohrensessel sitzen. Auf seinem Schoß saß ein Junge, der ihm einen Kuss auf die Wange hauchte.

Schockiert knallte ich es auf den Schreibtisch und stand auf. »Ich wusste ja schon immer, dass er ein Dreckskerl war, aber so pervers hätte ich ihn trotzdem nie eingeschätzt!«, brüllte ich und tigerte entrüstet durch den Raum. Wer auch immer die Person auf dem Foto war, instinktiv wusste ich, dass ich den mysteriösen Engel gefunden hatte. Er war jung. Verdammt jung. Ich schätzte ihn nicht älter als dreizehn. Edward hatte schon immer auf blutjunge Typen gestanden. Aber die Vorstellung, mein Vater und dieser unbekannte Junge könnten eine Liebesbeziehung geführt haben, schnürte mir die Kehle zu. Ich schmeckte plötzlich Gallenflüssigkeit im Mund und am liebsten hätte ich mich übergeben. Meine Verachtung gegenüber Edward wuchs und wuchs. Was in drei Teufels Namen hatte er sich nur dabei gedacht? Es handelte sich nicht einfach um einen jungen Mann in Jamies Alter, das hier war eindeutig Pädophilie!

»Wie krank warst du eigentlich wirklich?«, flüsterte ich außer mir und ballte die Hände zu Fäusten. »Würdest du nicht längst in der Hölle schmoren, würde ich dir eigenhändig den Hals umdrehen. Das ist sowas von pervers!«

»Hey ... Sean!«, drang wie aus der Ferne Jamies Stimme an mein Ohr. »Komm mal her.«

»Was ist?«, blaffte ich ihn an.

»Das ist der Brief«, sagte er und streckte die Hand mit einem Umschlag aus.

Wutschnaubend nahm ich ihn an mich und las darauf meinen Namen. »Wo hast du ihn gefunden?«

»Er lag direkt unter dem Bild mit dem Typen.«

Mit einem Mal tat es mir leid, Jamie angeschnauzt zu haben. Mit dem Brief in der Hand setzte ich mich auf den Sessel zurück und öffnete ihn. Dabei blendete ich alles um mich herum aus und versuchte mich auf die handgeschriebenen Zeilen zu konzentrieren.

 

Mein über alles geliebter Sohn,

 

sobald du diesen Brief gelesen hast, wirst du hoffentlich so einiges in einem neuen Licht sehen. Ich weiß, ich war dir nie ein Vater und wahrscheinlich denkst du jetzt, was will der Mistkerl überhaupt von mir. Aber die Wahrheit ist ... ich war ein Feigling. Und ich bin auch als solcher gestorben.

Ich sehe deinen düsteren Gesichtsausdruck vor mir, da du nicht weißt, was du denken und fühlen sollst. Hasst du mich für das, was ich bin oder bin ich dir wirklich völlig egal? Die zwei Fragen gehen dir durch den Kopf. Ich weiß, dass du unzählige Fragen hast, auf die ich dir eine Antwort schuldig geblieben bin. Nur leider fand ich nie den Mut, mich mit dir auszusprechen.

Ich nutze die Gelegenheit in diesem Brief, um dir endlich mein wahres Ich näherzubringen. Ich kenne dich besser, als du denkst und ich weiß, du wirst am Ende alles verstehen. Du wirst mich vermutlich weiterhin verabscheuen, doch du besitzt ein kluges Köpfchen. Das hattest du schon immer und du bist besonnen. Zwei Eigenschaften, die dir deine Mutter mit auf den Weg des Lebens gegeben hat.

Sean, ich habe deine Mutter über alles geliebt. Amelie war nicht nur meine erste Liebe, sondern auch die einzige. Ohne sie war mein eigenes Leben nicht mehr lebenswert. Ich war nur die eine Hälfte der Medaille. Nach ihrem Unfalltod fiel ich in eine bodenlose Leere. Du trägst keine Schuld an ihrem Ableben, auch wenn es durch meinen Umgang mit dir vielleicht so ausgesehen hatte. Du warst gerade drei. Sie stürzte unglücklich, fiel ins Wasser und ertrank. Es war einfach mieses Schicksal, dass es so kommen musste. Doch eines kann ich mit Bestimmtheit sagen ... ich liebe dich, mein Sohn. Ich wusste nur nicht, wie ich dir das zeigen sollte.

Weil du Amelie so sehr ähnelst, war es für mich kaum zu ertragen, dich zu sehen. Jede Gemeinsamkeit mit ihr führte mir vor Augen, dass sie für immer gegangen war. Mein Herz schmerzte bei deinem Anblick. Ich schaffte es nicht, über meinen Schatten zu springen, und verkroch mich stattdessen. Das war feige und ist unverzeihlich. Tank war damals der klägliche Versuch, dir wenigstens einen Freund an die Seite zu geben, der dich auffängt. Ein weiterer Versuch war Rose und ich bedauere diesen Fehler zutiefst.

Ich lernte Tylers Mutter zufällig kennen, als sie gerade mit ihm im fünften Monat schwanger war. Ich hatte Mitleid mit ihr, denn sie war mittellos und wusste nicht wohin. Du brauchtest dringend eine Mutter, also gingen wir einen Deal ein. Sie zog in die Villa und sollte sich um dich und ihren Sohn kümmern. Dass sie sich an diese Abmachung nicht hielt, fand ich leider erst heraus, als du mit Tyler ausgezogen warst.

Meine Reue kommt zu spät. Nun weißt du, dass Tyler nicht dein Halbbruder ist. Deshalb war ich auch nicht in der Lage ihn zu lieben. Ich habe ihn zwar als Sohn anerkannt und ihm meinen Nachnamen gegeben, doch mehr konnte ich nicht tun. Er litt ebenfalls sehr unter meinen Stimmungsschwankungen, das ist mir bewusst. Heute kann ich sagen, dass auch das nie meine Absicht war.

Das eine Mal, dass meine Faust dich getroffen hat, kann ich nicht ungeschehen machen. Ebenso wenig, dass der Ausrutscher deinen Entschluss zum Auszug verstärkte. Eine Entschuldigung dafür gibt es nicht. Doch Vergangenheit ist Vergangenheit. Gegenwart ist Gegenwart.

Jetzt, da ich für meine Fehler in der Hölle schmore, muss ich dir sagen, du bist nicht allein. Du hast noch einen Onkel, von dem du nichts weißt und einen leiblichen Halbbruder, den du nicht kennst.

Ich sehe dein schockiertes Gesicht vor mir und würde dich jetzt nur zu gerne ein einziges Mal wie ein Vater seinen Sohn in den Arm nehmen und dir Auge in Auge erklären, was passiert ist. Doch auch diese Gelegenheit habe ich verpasst.

Melanie Conners, die Mutter deines Halbbruders, lernte ich Jahre nach Amelies Tod kennen. Sie verstand mich und meine Gefühle, denn sie hatte ebenfalls ihren Ehemann verloren. Wir wurden von Leidensgenossen zu Freunden und schließlich passierte es. In nur einer gemeinsamen Nacht wurde Riley gezeugt, wovon ich jedoch erst acht Jahre später erfuhr, als ich zufällig wieder auf seine Mutter traf. Melanie war zu dem Zeitpunkt ein menschliches Wrack. Sie war Alkohol- und drogenabhängig und verdiente ihr Geld auf dem Strich. Wie sie so abrutschen konnte, ist für mich bis heute nicht nachvollziehbar. Sie erzählte mir von Riley und wo sie das Kind gelassen hatte, um Geld von mir zu erpressen. Schockierenderweise musste ich erfahren, dass sie ihren eigenen Sohn für ein paar Drogen verkauft hatte.

Dein Onkel Thomas, der übrigens Anwalt ist, hat mir geholfen die Spur von Riley aufzunehmen. Gefunden habe ich ihn bei Luther Mitchell. In der Schulzeit waren Luther und ich Freunde gewesen. Ich kann es bis heute nicht glauben, ihn jemals so bezeichnet zu haben. Luther ist ein geldgieriger, skrupelloser, machthungriger und pädophiler Bastard! Und das wird ihm nicht annähernd gerecht. Er ist so viel mehr. Ein gewissenloses Schwein, das selbst über Leichen geht. Weil es ihn gibt, gibt es auch das Black Desire. Ich wollte den Jungs auf der Straße eine Alternative zu Luthers schmierigen Geschäften bieten, denn wer einmal in seine Fänge gerät, verlässt sie meist nie wieder. Er verdient sein Geld mit dem horizontalen Gewerbe und Drogenhandel, betreibt mehrere Casinos und ist geschickt darin seine Kohle über ausländische Investoren zu waschen.

Jetzt bin ich ganz vom Thema abgekommen. Riley. Riley Conners ist dein Bruder. Ihm ist Widerliches widerfahren. Luther hat Riley bereits als Kind zur Prostitution gezwungen. Wie sehr ich jeden Drecksack dafür verabscheue und ihnen ihre Schwänze abschneiden möchte, kann ich gar nicht in Worte fassen. Mithilfe von Thomas gelang es mir, ihn in einer Nacht- und Nebelaktion zu befreien. Seither verstecke ich den Jungen. Luther darf ihn nie wieder in seine Fänge bekommen. Riley ist mein geliebter Engel. Und er braucht dich als seinen großen Bruder. Ich bitte dich nur um einen letzten Gefallen und ich weiß, dass du ihn mir nicht abschlagen wirst. Kümmere dich um ihn und schenke ihm die Liebe, die er nie erfahren durfte.

Was mit dem Black Desire geschieht, ist mir egal. Es ist deine Entscheidung. Nach meinem Tod wird sich Thomas mit dir in Verbindung setzen und dir alles erklären.

Auch wenn du es nicht glauben wirst, ich habe dich immer geliebt, mein Sohn Sean.

 

Dein zutiefst bedauernder Vater Edward

 

Wie in Trance starrte ich auf die mir wohlbekannte Unterschrift. Unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen oder überhaupt eine Gefühlsregung zu empfinden, glitt das Papier aus meiner zittrigen Hand.