Kapitel Fünf

* * * * *

 

Nachdenklich starrte ich in den Kaffeebecher vor mir auf dem Küchentisch. Die dampfende dunkle Flüssigkeit spiegelte meine düsteren Gedanken wider. Seit Edwards Tod kam es mir vor, als wäre ich in einem Albtraum gefangen. Sein Geständnis ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Es verfolgte mich bei allem, was ich tat. Zum Glück war Jamie an diesem Morgen bei mir gewesen. Er hatte mich seelisch aufgefangen und zurück in meine Wohnung begleitet. Mit seiner Hilfe war es mir gelungen, Tyler anzurufen, der zu meiner größten Überraschung sofort aufgekreuzt war. Inzwischen kannte auch er den Inhalt des Briefes.

»Hast du wenigstens ein bisschen geschlafen?«, rissen mich Tylers Worte aus meinen Gedanken.

Ich schreckte auf und blickte ihn an. »Was?«

Tyler grinste dümmlich und wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum. »Erde an Sean? Kleine grüne Aliens sind gelandet und haben vor eine riesige Sexorgie zu feiern.«

»Lass die doofen Sprüche. Ich bin dazu überhaupt nicht in der Stimmung.« Mit einem launischen Grummeln schlug ich seine Hand zur Seite, während er kichernd auf einem Stuhl mir gegenüber Platz nahm. Er streckte mir frech die Zunge heraus. »Wenn du blöd vor dich hin träumst, kann ich doch nichts dafür.«

Seufzend beobachtete ich, wie er an der Kaffeetasse nippte. Seine strohblonden schulterlangen Haare sahen aus, als wäre er gerade erst aus dem Bett gesprungen. Er wiederum richtete belustigt den Blick aus seinen glänzenden rehbraunen Augen auf mich.

»Kannst du einfach mal fünf Minuten ernst bleiben?«, wies ich ihn auf unser vorangegangenes Gesprächsthema dem Black Desire hin.

»Nachdem ich laut Edwards eigener Aussage kein einziges Molekül mit ihm teile, geht mir der Club ehrlich gesagt am Arsch vorbei. Die Sache mit diesem Riley finde ich allerdings ziemlich heftig.«

Ich nickte zustimmend. Seine Reaktion wunderte mich nicht. Nachdem er die Wahrheit über seine eigene Herkunft gelesen hatte, ergab so vieles einen Sinn. Zwischen uns hatte sich in den vergangenen zwei Tagen deshalb jedoch nichts verändert. Tyler würde für immer mein jüngerer Bruder sein, egal ob leiblich oder nicht. Er konnte auf mich zählen, so wie all die Jahre zuvor. Das hatte ich ihm unmissverständlich klargemacht. Insbesondere hatten wir beschlossen, keinem Menschen gegenüber ein Wort darüber zu verlieren. Jamie war die einzige Person, die davon wusste. Ihm vertraute ich jedoch, denn er hatte bislang nichts gesagt oder getan, das mich an ihm zweifeln ließ.

»Ich frage mich nur, wo dieser Riley steckt?«

Tyler runzelte nachdenklich die Stirn. »Gute Frage. Und wer ist dieser geheimnisvolle Onkel Thomas?«

»Also bei mir hat sich im Bezug auf den Nachlass noch niemand gemeldet Bis auf das Beerdigungsinstitut und Rose weiß keiner, was passiert ist.«

»Mein Bauchgefühl sagt mir, dass sich das bald ändern wird.«

Ich schaute Tyler fragend an.

»Rose kann ihre Klappe nicht halten. Weißt du doch. Sicherlich wissen ihre Freunde und Bekannte längst über alles Bescheid und sie prahlt damit, dass sie erben wird.«

Wutschnaubend sprang ich auf und marschierte durchs Wohnzimmer. »Diese blöde Schnepfe! Sie soll nur einmal das Wort ›erben‹ erwähnen und ich werfe sie hochkant vor die Tür! Sorry Tyler ...«

»Hey, Großer«, sagte mein Bruder plötzlich neben mir und legte beruhigend eine Hand auf meine Schulter. »Sie ist zwar meine Mutter, aber das auch nur, weil ich zufällig aus ihrem Schoß gehüpft bin. Du weißt, dass ich keine Gefühle für sie hege und das wird immer so bleiben. Ich hasse sie und schäme mich, dass ich mit ihr verwandt bin.« Er sah mir tief in die Augen und ich spürte seine Aufrichtigkeit. »Egal was auch passiert, Rose bekommt die Villa nie! Und wenn ich sie dafür eigenhändig um die Ecke bringen muss. Außerdem waren Edward und sie ohnehin längst offiziell geschieden und sie hatte damals eine ordentliche Abfindung kassiert. Somit hat sie keinerlei Ansprüche auf irgendetwas. Also vergiss nicht ... auf mich kannst du immer zählen.«

Dankbar streckte ich die Hand aus und wuschelte ihm väterlich durch die Haare. »Du hast recht. Du bist und bleibst mein kleiner Bruder. Verstanden?«

Tyler nickte zufrieden. »Und du mein großer.«

Ich nahm Tyler in den Arm und flüsterte ihm ins Ohr: »Wir müssen zusammenhalten, egal was auf uns zukommt. Zwischen uns wird sich nichts ändern.«

»Ich kenne dich mein ganzes Leben«, sprach er leise über meine Schulter hinweg. »Ich zweifele nicht an dir, nur an meiner Mutter. Du hast mich immer unterstützt. Ohne dich hätte ich nicht einmal meine eigene Wohnung. Doch es gibt eine Sache, die mich seit dem Brief nicht mehr loslässt. Wer verdammt noch mal ist mein leiblicher Vater?«

Ich ließ ihn los und wir beiden lächelten uns aufmunternd an. »Gemeinsam werden wir es herausfinden. Versprochen.«

»Hoffentlich ohne Rose fragen zu müssen.«

»Ganz sicher.«

Etwas beruhigter setzte ich mich an den Küchentisch zurück und schaute auf das Display meines Handys. Es war inzwischen halb zwei am Nachmittag. Gegen vier Uhr wollte ich gemeinsam mit Jamie ins Black Desire gehen. Er hatte mir seine Hilfe angeboten, die ich gerne angenommen hatte.

»Hast du ein Date?«, fragte mich Tyler überraschend und ging hinüber zu meinem Kühlschrank. Er öffnete ihn und suchte nach etwas Essbarem.

»Wie kommst du denn darauf?«, erkundigte ich mich und fühlte mich seltsam ertappt. Ich kaschierte meine Gefühlsregung, indem ich einen großen Schluck Kaffee nahm.

»Weil du schon mindestens zehn Mal auf dein Handy gestarrt hast, seit ich hier bin. Sag mir jetzt nicht, dass du dich mit Jamie triffst.« Er drehte sich mit einem frechen Grinsen zu mir um. »Übrigens, du müsstest dringend mal einkaufen. Bei dir verhungert man ja.«

Beinahe hätte ich mich am Kaffee verschluckt. Ich stellte die Tasse ab, umklammerte sie aber fest mit den Händen. »Du hast selbst einen Kühlschrank«, erwiderte ich und gab mir Mühe, gelassen zu klingen.

»Lenk nicht ab. Du kannst es mir ruhig sagen.«

»Was denn?«

»Da fragst du noch?« Tyler lehnte sich mit einem verwegen Grinsen gegen die Arbeitsplatte und sah mich erheitert an. »Gib’s zu! Du fährst auf ganzer Linie auf Jamie ab und träumst von einer heißen Nacht mit ihm. Ehrlich gesagt, kann ich dich gut verstehen. Wäre er ein paar Jahre älter, würde ich ihn dir vor der Nase wegschnappen.«

Im ersten Moment war ich schockiert über seine Aussage. Im Nächsten konnte ich die Hitze spüren, die mir in die Wangen schoss. Dennoch empört griff ich nach dem Feuerzeug auf dem Tisch und warf es nach ihm. »Hast du auch noch etwas anders in deinem Schädel außer Ficken?«

»Manchmal ... aber nicht oft.« Kichernd ging er in Deckung.

Mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich an meinen Gast dachte. Seit zwei Nächten schlief er nun schon in Tylers altem Zimmer. Noch immer fand ich ihn faszinierend und anregend, wie bei unserem Kennenlernen, doch das war alles zwischen uns. Ich war noch lange nicht soweit, mir Gedanken über mehr zu machen. Dazu hatte ich derzeit zu viel um die Ohren.

»Wenn du es unbedingt wissen willst. Wir wollen später in den Club. Er unterstützt mich später beim Durchsehen der Unterlagen. Du könntest auch mitkommen und uns helfen. Wie wär’s?«

Tyler zwinkerte. »Zwei Turteltauben beim Flirten stören? Wo käme ich da hin.«

Empört räusperte ich mich. »Es war eindeutig ein Fehler euch beide bekannt zu machen.«

»Sieh mich nicht so an. Ich bin nach deinem Anruf sofort vorbeikommen und fand ihn auf deiner Couch vor. Dass wir zwei uns auf Anhieb verstanden, kann ich doch nichts dafür.« Nebenbei hob er das Feuerzeug auf.

»Darum geht es doch gar nicht!«

»Um was dann?« Tyler wirkte äußerst interessiert und setzte sich ebenfalls wieder.

Obwohl mir eine Menge Worte durch den Kopf schossen, fiel mir keine passende Erwiderung ein. Ich wusste, dass mir Tyler jedes Wort im Mund herumdrehen würde. Jamie war lediglich ein junger Mann, dem ich half und der mir im Gegenzug zur Seite stand, bis ich ihm ein neues Zimmer besorgt hatte. Das war unser Deal. Aber das würde mir mein Bruderherz niemals glauben. Hatte er sich einmal in eine Sache verrannt, war er nur schwer wieder davon abzubringen. Dass ich richtig lag, zeigte er mir mit seiner nächsten Aussage.

»Es wird wirklich Zeit, dass du das Ufer wechselst. Dann können wir gemeinsam um die Häuser ziehen. Ich hoffe, dass du Amy bereits in den Wind geschossen hast. Wenn nicht, tu es! Der potentielle neue Kandidat schläft bereits in meinem alten Bett. Und komm mir jetzt nicht mit einer Ausrede.« Tyler warf mir einen herausfordernden Blick zu.

»Du bist manchmal wie Christopher und Lian, weißt du das?« Frustriert, weil mein Bruder zu gerne die Tatsachen verdrehte, zündete ich mir eine Zigarette an. Meine besten Freunde wussten noch nichts von Jamie, nur dass mein Vater verstorben war. Ich fragte mich ohnehin, ob es klug wäre, ihnen überhaupt von ihm zu erzählen.

»Frag dich mal warum! Das ist nur, weil wir alle Augen im Kopf haben«, fuhr Tyler fort und riss mich aus meinen Gedanken. »Du musst endlich anfangen, es dir selbst einzugestehen. Du bist bi und daran gibt es nichts zu rütteln. Das liegt in deiner Natur und hat gar nichts mit Edward oder dem Club zu tun.« Er legte eine kurze Pause ein und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an »Du bist doch derjenige, der sich bei mir ständig auskotzt, weil im Bett nichts mehr läuft. Und wenn du mit Jamie zusammen bist, dann sieht selbst ein Blinder mit Krückstock, dass du voll auf ihn abfährst. Er ist dein Typ und er würde dich ganz bestimmt nicht von der Bettkante stoßen.«

Ich schluckte einen dicken Kloß im Hals herunter. »Wegen der Kohle?«

»Quatsch! Das war bei deinen Weibern der Fall. Jamie ist anders gestrickt. Er steht auf dich. Schon mal selbst in den Spiegel geschaut? Du bist ein verdammt heißer Typ. Dich würde so schnell kein Mann abblitzen lassen.«

»Mach mal halblang«, erwiderte ich verärgert über den Themenwechsel. Ich drückte die Zigarette aus, stand auf und ging zur Kaffeemaschine, um meine Tasse erneut aufzufüllen. Mit ihr in der Hand lehnte ich mich an die Arbeitsplatte. Grimmig fragte ich mich, wie wir vom Black Desire auf mein Liebesleben zu sprechen gekommen waren.

Tyler seufzte und drehte sich auf dem Stuhl zu mir um. »Typisch Sean. Du musst lernen dich selbst und deine Neigung zu akzeptieren. Solange du das nicht kannst, wird das niemals etwas. Ob mit Mann oder Frau. Scheißegal.«

»Das sagt gerade der Richtige. Bist du nicht derjenige, der alle paar Monate seinen angeblichen Traumtypen fürs Leben gefunden hat und zwei Wochen später stellt er sich als das größte Arschloch auf Erden heraus?«, konterte ich und ignorierte den Anflug von Panik. Ich war nicht bereit, mich meiner angeblich sexuellen Neigung zu Männern zu stellen, doch mein Bruder schien es nicht verstehen zu wollen.

»Aber im Gegensatz zu dir bin ich mir im Klaren, dass ich auf Schwänze stehe.«

Nach diesen Worten herrschte einen Augenblick Stille zwischen uns. Insgeheim hatte Tyler recht. Was am Samstag geschehen war, konnte ich nicht einfach abtun, als hätte es nicht stattgefunden. Ich hatte mich bei der Vorstellung eines jungen Mannes selbst bis zum Höhepunkt befriedigt. Das hieß für mich aber noch lange nicht, dass ich mich von einer Minute zur nächsten entschieden hatte, nur noch Männer zu lieben.

»Ein Vorschlag zur Güte«, sagte Tyler ernst. »Denk gut darüber nach und wenn du jemanden zum Quatschen brauchst, du weißt, wie du mich erreichst. Ich an deiner Stelle würde nicht krampfhaft versuchen, es vehement abzustreiten. Du sollst ja auch nicht sofort einen auf große Liebe machen.«

»Du bist mir ja eine große Hilfe«, antwortete ich mit sarkastischem Unterton. Doch ich verstand ihn besser, als er annahm. Ich war ihm sogar dankbar. Vor allem, weil er mich trotz des Zwiespalts in mir nie aufgegeben hatte und mir wirklich mein Glück wünschte.

»Na klar. Auf mich kannst du zählen.«

Ich nickte ihm zu und trank schließlich meinen Kaffee leer, bevor ich mich wieder setzte. »Mal etwas ganz anderes. Hast du dich schon wegen des Studienplatzes erkundigt?«

Betreten sah Tyler auf die Tischplatte.

»Also nicht. Was willst du dann? Du hast einen fantastischen Abschluss mit einem Notendurchschnitt von 1,8 und bereits genug Zeit vertrödelt. Warum wirfst du deine kostbare Zeit einfach so zum Fenster heraus? Barkeeper kannst du jederzeit werden. Alt genug bist du ja inzwischen.«

»Ich werfe meine Zeit nicht zum Fenster hinaus.«

»Was dann? Du könntest mit deinem Wissen gleich ohne Studium in einer Firma anfangen.« Seufzend lehnte ich mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Mehr, als ihm Ratschläge zu geben, blieb mir nicht übrig. Er war einundzwanzig und bereit sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Daran änderten weder Edwards Geständnis noch dessen Ableben etwas.

»Was soll ich deiner Meinung nach studieren?«

»Wie wäre es mit Betriebswirtschaftslehre? Oder schon mal an ein IT-Studium gedacht? Du bist doch derjenige, der in jeder freien Minute am Laptop hockt.«

»Du verwechselst da was. Nicht jeder der in seiner Freizeit permanent am Computer hockt und zockt, will Programmierer werden. Das ist genau so, als wenn du behaupten würdest, jemand der gerne isst, muss Koch werden«, argumentierte er dagegen und schüttelte amüsiert den Kopf. »Ich mache das ganz anders. Ich gehe schnell bei dir duschen und besuche dann diesen Frank von Entertainment Event. Die suchen Aufbauhilfen. Wenn die ganze Sache mit Edward vorbei ist, können wir uns ja gemeinsam mal nach geeigneten Unis im Web umsehen. Bis ich mich entscheiden muss, sind es ja noch ein paar Monate. Und wenn ich nächstes Jahr einen Job als Barkeeper bekomme, kann ich mir jederzeit etwas dazu verdienen. Okay?«

Ich nickte zustimmend. »Das klingt nach einem Plan. Aber beeil dich, ich will auch noch duschen.«

»Oh. Ich wusste doch, du hast ein Date.« Augenzwinkernd ging er bereits wieder in Deckung, bevor ich die Zigarettenschachtel nach ihm werfen konnte.

 

*

 

Erschöpft saß ich auf der Couch und starrte auf den flimmernden Fernsehbildschirm. Von den Nachrichten, die mich ohnehin nicht interessierten, bekam ich nichts mit. Meine Gedanken kreisten um Tylers Worte und um Jamie.

Es stimmte, dass ich Jamie überaus attraktiv fand. Heimlich hatte ich sogar schon mehrmals daran gedacht, wie es sein würde, wenn wir uns küssten. Ich hatte mir letzte Nacht sogar vorgestellt, sein Tattoo auf der Brust mit meinen Fingern zu berühren. Alles andere wagte ich nicht, mir intimer auszumalen. Fest stand nur, dass es mir zunehmend schwerer fiel, mich in seiner unmittelbaren Nähe zu konzentrieren. Mal war es ein Augenaufschlag, dann ein flüchtiges Streifen seiner Hand an meiner oder seine Stimme, in der ein erotischer Unterton mitschwang. Zum Glück schliefen wir in getrennten Zimmern.

Allein mir anschaulich vor Augen zu führen, wie er nackt unter der Dusche stand und sich einseifte, jagte mir einen wohligen Schauder über den Rücken. Bisher hatte ich ihn zwei Mal lediglich mit einem Handtuch um die Hüften bekleidet gesehen und stets hatte ich ein heftiges Ziehen in der Leistenregion verspürt. Würde das so weiter gehen, wüsste ich nicht, wie lange ich mich noch im Zaum halten konnte. Jamie spielte bewusst mit mir und ich war mir darüber im Klaren.

»Hat Tyler wirklich recht und er steht auf mich?«, fragte ich mich und seufzte tief.

Schweren Herzens gestand ich mir ein, dass Jamie genau der Typ Mann war, den ich mochte. Natürlich auch was das Aussehen betraf. Leicht sportlich aber nicht muskelbepackt. Seine betörenden Blicke aus den dunklen Augen waren wie ein Aphrodisiakum für mich. Dennoch war es überwiegend seine zwanglose Art und Weise, die mich so in seinen Bann zog. Sollte ich mich vielleicht doch nicht mehr verbissen gegen mein Gefühlschaos wehren? Sollte ich auf meine innere Stimme hören und meinen immer stärker werdenden Empfindungen für Männer – und Jamie im Besonderen – nachgeben?

»Meine Fantasie geht einfach mit mir durch, mehr nicht. Ich kenne Tyler und er hat immer nur Unsinn im Schädel!«, rügte ich mich selbst und stand auf, um mir ein Glas Wasser zu holen. Gerade als ich mich wieder setzen wollte, klingelte das Handy. Ich kramte es aus der Gesäßtasche hervor und las eine unbekannte Nummer. Insgeheim hatte ich gehofft, Jamie würde anrufen. Doch er war lediglich Lebensmittel einkaufen gegangen, daher gab es keinen Grund sich bei mir zu melden. Er müsste ohnehin bald zurück sein. Neugierig nahm ich das Telefonat mit einem schlichten »Hallo?« an.

»Wer ist dran? Bist du Sean? Sean Ashton?«, fragte eine volltönende männliche Stimme.

»Das bin ich. Und Sie sind?«

»Es tut mir leid, dass wir uns so kennenlernen. Ich bin Thomas Ashton. Der kleine Bruder deines verstorbenen Vaters.« Er klang bei den Worten etwas nervös.

»Ich habe bereits von dir gehört.« Mehr brachte ich im ersten Moment nicht über die Lippen und nahm überrumpelt Platz. Mein Herz schlug schneller.

»Das ist gut. Wir müssen uns dringend treffen. Besteht die Möglichkeit, dass wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten können? Ich bin derzeit in London. Es wäre schön, wenn es in den nächsten Tagen klappen könnte. Am Freitag muss ich zurück nach Sheffield in meine Kanzlei.«

»Können wir.« Ich war froh, bereits zu sitzen, denn meine Beine fühlten sich plötzlich so weich wie Wackelpudding an.

»Wann passt es dir?«, erkundigte sich der Anrufer.

»Jetzt gleich? Vielleicht im Club? Da wären wir ungestört. Ich hatte ohnehin vor dort vorbeizuschauen.«

Im Hinterkopf hatte ich Jamie, der mich begleiten würde. Somit traf ich meinen angeblichen Onkel nicht allein. Für mich war er ein Fremder und ich wusste nicht einmal, ob ich ihm trauen konnte.

»Das ließe sich einrichten. Schickst du mir bitte die Adresse auf die Nummer, von der aus ich gerade anrufe? Bisher bin ich noch nie dort gewesen. Um wie viel Uhr?«

»Um sechzehn Uhr, falls es möglich ist.« Nebenbei sah ich auf meine Armbanduhr. Das war in einer Stunde.

»Geht in Ordnung. Danke. Dann sehen wir uns dort. Bye.« Danach legte er auf.

Hin- und hergerissen zwischen Neugier und Vorsicht starrte ich aufs Display. Ich speicherte die Nummer unter seinem Namen ab und schickte ihm die Adresse des Black Desire per SMS. Kurz darauf erhielt ich eine Antwort, dass er sich freute, mich endlich kennenzulernen.

Aber freute ich mich auch? Einerseits war ich gespannt darauf ihn zu sehen. Andererseits kroch die Unsicherheit in mir hoch, dass er vielleicht nur freundlich tat, um mir dann arglistig in den Rücken zu fallen. Das würde ich jedoch nur herausfinden, wenn ich ihm persönlich gegenüberstand.

 

*

 

Bereits von Weitem entdeckte ich einen Mann in einem schwarzen Anzug und dunklem Mantel vor dem Eingang des Clubs warten. In der Hand hielt er eine Aktentasche. Automatisch verlangsamte ich meine Schritte.

»Ist er das?«, erkundigte sich Jamie überflüssigerweise.

»Das werden wir gleich wissen.«

Wir gingen langsam weiter. Der Fremde drehte sich zu uns um und blickte mich interessiert an. Als uns nur noch wenige Meter voneinander trennten, staunte ich über alle Maßen. Vor mir stand mein Onkel, daran gab es keinen Zweifel. Er ähnelte meinem Vater sehr. Neben der spitzzulaufenden Kinnpartie teilten sie sich die gleichen buschigen Augenbrauen und die grauen Augen. Mit einem Unterschied, dass Thomas Ashton keinen Bart trug und seine dunklen Haare leicht verwuschelt waren, was ihm ein sympathisches Auftreten verlieh. Ich erkannte sofort, dass er einige Jahre jünger war als Edward.

»Sean?«, hakte er vorsichtshalber nach und lächelte warmherzig.

Ich nickte. »Thomas?«

Erleichtert streckte er die Hand aus. Als ich sie ergriff, zog er mich unerwartet in eine feste Umarmung. Irritiert ließ ich es zu. Ich spürte jedoch augenblicklich, dass er seine Freude nicht vorgaukelte. Sie entsprang aus seinem Herzen.

»Entschuldigung, dass ich dich einfach so überfalle, aber ich habe mir schon immer gewünscht, dich endlich einmal wieder zu sehen.«

»Mich wiederzusehen?«, wiederholte ich überrascht.

»Du erinnerst dich nicht an mich. Wie auch. Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, warst du gerade zwei Jahre alt geworden.«

Sprachlos sah ich zuerst Thomas und dann Jamie an. Der wiederum zuckte mit den Schultern.

»Bist du vielleicht Tyler?«, fragte Thomas und musterte Jamie aufmerksam.

»Oh nein, Sir. Mein Name ist Jamie und ich bin ein Freund von Sean. Ich hatte versprochen ihn heute zu begleiten«, antwortete er galant.

»Dann entschuldige. Es freut mich auch dich kennenzulernen. Ich bin Thomas Ashton. Aber sag mal, Sean. Kommt Tyler vielleicht auch? Oder Riley?«

Seufzend verneinte ich. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns drinnen weiterunterhalten.« Ich entriegelte die Tür und bat beide einzutreten. Anschließend führte ich meinen Onkel zu einem kleinen Tisch im Barbereich.

»Sean, du entschuldigst mich«, sagte Jamie, als ich gerade Platz genommen hatte. »Während ihr euch unterhaltet, werde ich mich solange ein wenig in den oberen Stockwerken umsehen. Dann kann ich auch gleich mit der Bestandsliste anfangen. Das Essen stelle ich in die Küche.« Er verabschiedete sich von Thomas und verschwand im hinteren Bereich.

»Dein Freund ist sehr sympathisch«, stellte Thomas fest und legte mehrere Unterlagen auf den Tisch.

Ich nickte, verschwieg jedoch, dass ich ihn kaum kannte. Trotzdem war ich unglaublich erleichtert, dass Jamie bereits mit der Arbeit beginnen wollte. Damit würden wir die kommenden Tage noch lange beschäftigt sein. Was beim Gespräch herauskommen würde, konnte ich ihm immer noch berichten, wenn ich das wollte.

»Also Tyler und Riley kommen nicht?«, erkundigte sich mein Onkel und öffnete eine Mappe.

»Da gibt es ein Problem.« Fieberhaft überlegte ich, ob ich ihm vom Inhalt des Briefes erzählen sollte.

Er blickte mich fragend an.

»Ich habe von allem Kopien für dich dabei. Die Originale händige ich dir bei der offiziellen Testamentseröffnung aus. Doch mit Riley müsste ich vor meiner Abreise reden.«

»Die Sache ist so ... ich habe keine Ahnung, wo Riley steckt. Und ehrlich gesagt, kenne ich ihn nicht einmal. Ich erfuhr nur durch Zufall von ihm«, platzte ich heraus. Ich sah keinen Sinn darin, ihn diesbezüglich im Unklaren zu lassen.

Bass erstaunt schaute Thomas Ashton von den Dokumenten auf.

Ohne darüber nachzudenken zog ich den Brief meines Vaters aus der Hosentasche und überreichte ihn. »Edward und ich waren nicht das, was du vielleicht annimmst. Wir haben uns auseinandergelebt. Wir hatten lange keinen Kontakt zueinander. Zwischen uns herrschte mehr oder weniger eine Eiszeit. Das gilt auch für Tyler. Auf seinem Sterbebett erfuhr ich von diesem Schriftstück. Am besten liest du ihn zuerst, bevor wir weiterreden.«

Thomas entfaltete den Brief und studierte den Inhalt. Dabei beobachtete ich sein Gesicht und erkannte, dass auch er von den Worten meines Vaters überrascht war. Indes fragte ich mich, warum er sich niemals zuvor bei mir gemeldet hatte. Er war immerhin mein Onkel.

Mit blassem Gesicht gab er mir das Schreiben zurück. »Verstehe. Ich bin dir wohl auch ein paar Erklärungen schuldig, bevor wir uns um das Geschäftliche kümmern.«

»In der Tat. Ich wüsste schon gerne mehr. Steht es überhaupt fest, dass er wirklich mein Bruder ist?«

Betreten biss er sich auf die Unterlippe und trank einen Schluck Wasser aus einem der beiden Gläser, das ich zuvor bereitgestellt hatte. »Er ist es wirklich. Edward hat einen DNA-Test machen lassen. Ich bin nicht stolz darauf, dass der Kontakt zwischen meinem Bruder und mir eingeschlafen war. Es hängt viel mit dem plötzlichen Tod von Amelie zusammen. Edward hat mir die Schuld gegeben, da ich an diesem Tag einen Termin mit ihr nicht eingehalten hatte. Wäre ich wie ausgemacht erschienen, hätte ich sie vielleicht retten können. Das hatte er mir zum Vorwurf gemacht und sich danach regelrecht abgeschottet. Dabei hatten wir nur noch uns. Wie du weißt, lebt von unserer Seite niemand mehr. Auch die Eltern deiner Mutter starben schon früh. Trotzdem wollte mein Bruder mich nicht mehr sehen. Ich respektierte unfreiwillig seinen Willen, obwohl er mir leidtat. Zu dieser Zeit hatte ich allerdings auch gerade meine Kanzlei eröffnet und war mit der Arbeit ziemlich ausgelastet.«

»Interessant. Und wie kam es, dass ihr wieder Kontakt hattet?«, hakte ich nach und deutete mit dem Kinn auf die Unterlagen. Dann holte ich meine Zigarettenschachtel hervor. »Es stört dich hoffentlich nicht?«

»Nein. Rauch ruhig«, sagte er und runzelte nachdenklich die Stirn. Mit belegter Stimme sprach er schließlich weiter. »Das war vor zwei Jahren. Edward rief mich plötzlich an und sagte, ich solle meine Schuld begleichen und wiedergutmachen, was ich damals zerstört habe. Er würde dringend meine Hilfe brauchen und ich solle sofort zu ihm nach London kommen. Ich habe gar nicht lange über das ›Warum‹ nachgedacht, da ich einfach nur froh war, dass er in seiner Not nach mir verlangte. Es ging um deinen Bruder Riley.«

Bei diesen Worten wurde ich hellhörig. Ich spannte die Schultern an und forderte ihn auf weiterzureden.

»Wie du ja selbst gelesen hast, hat Luther Mitchell ihn zur Prostitution gezwungen. Aber das ist noch harmlos ausgedrückt. Dieses Monster hält Dutzende von Mädchen und Jungen gefangen und zwingt sie zu abartigen Dingen mit Männern. Genaueres weiß ich nicht, aber ich kann dir mit Bestimmtheit sagen, dass er sie auch als billige Ware nach Russland verkauft.«

»Was? Warum habt ihr nichts dagegen unternommen?« Verstört über die Neuigkeit ballte ich instinktiv die Hände zu Fäusten.

Thomas holte tief Luft. Ich erkannte, dass ihm dieses Thema augenscheinlich sehr an die Nieren ging. Und nicht nur ihm.

»Wir haben etwas unternommen, aber nur für Riley«, antwortete mein Gegenüber beklommen. »So einfach ist das Ganze leider nicht. Dein Vater hat es selbst geschrieben. Luther Mitchell ist nicht nur einflussreich, sondern auch sehr gerissen. Er ist geschickt darin, alles unter dem Radar des Scotland Yards und Europol durchzuführen. Das weiß ich mittlerweile, weil ich meinen Privatdetektiv darauf ansetzte. Er fand leider nicht sehr viel heraus, nur das, was ich dir eben schon sagte. Bislang sind die Behörden machtlos gegen ihn. Und wer den Versuch unternommen hat, ihm etwas nachzuweisen, lebt nicht mehr. Somit blieben Edward und mir nicht viele Möglichkeiten, um überhaupt zu agieren.«

»Was meinst du damit? Wäre Riley denn nicht Beweis genug gewesen?«, sagte ich lauter als beabsichtigt und sprang wutschnaubend auf. Mich beschlich ein mulmiges Baugefühl. Allein die Vorstellung, dass erwachsene Männer sich an unschuldigen Kindern vergriffen, ließ mich zornig werden. Schon viel zu oft hatte ich über Pädophilenringe in den Nachrichten gehört.

»Leider nein.«

»Nein?« Ich war schockiert.

»Lass es mich erklären«, bat mich mein Onkel, während ich aufgebracht vor ihm ab und ab tigerte.

»Ich kann dich gut verstehen, Sean. Mir ging es genauso. Doch solche perversen Mistkerle wissen, wie man alles vertuscht. Abgesehen davon wäre Riley vermutlich nicht einmal in der Lage gewesen, gegen ihn auszusagen. Ich habe ihn nur kurz kennengelernt, aber das hat mich geprägt. Er war ein völlig verängstigter Junge. Edward hat sich sofort liebevoll um ihn gekümmert und ihn versteckt. Wo hat er selbst mir nie gesagt. Du kannst nur froh sein, dass du diesen Hurensohn Luther nicht kennst. Als etwas anderes kann ich ihn nicht bezeichnen. Ich bekomme ihn und seine Machenschaften bis heute nicht aus dem Kopf und bin unglaublich erleichtert, dass ich nichts mehr mit ihm zutun haben muss.«

Überrascht blieb ich stehen und starrte ihn an. »Was ist passiert?«

»Wie dein Vater schrieb, haben wir deinen Bruder in einer Nacht- und Nebelaktion befreit.« Thomas nahm einen weiteren Schluck Wasser und räusperte sich. »Nachdem Edward herausfand, wo Riley ist, habe ich mich selbst in Lebensgefahr gebracht und mich als Kunde ausgegeben. Ich bezahlte viel Geld für eine Nacht mit Riley. Als ich mit ihm allein war, sind wir aus dem Fenster geklettert und mithilfe von Edward geflohen, der in einem Auto auf uns wartete. Mein Bruder hat ihn zuerst in der Villa versteckt, ihn dann aber woanders hingebracht. Das war auch das letzte Mal, dass ich Riley gesehen habe. Von da an telefonierte ich nur noch mit meinem Bruder, um einige Dinge zu regeln. Da Edward Angst hatte, dass Luther die Spur zu ihm zurückverfolgen könnte, habe ich die Vormundschaft für Riley übernommen.«

Entsetzt nahm ich Platz. Mir lief ein eiskalter Schauder über den Rücken. Dennoch hatte ich Schwierigkeiten, mir das Gesagte vorzustellen. »Das habt ihr wirklich getan?«

»Unter Einsatz unseres Lebens. Das ist ein Grund, warum ich es vermeide nach London zu kommen, außer es muss sein. Luther Mitchell weiß zum Glück nicht, wer ich wirklich bin. Damals hatte ich mich als Geschäftsmann aus Melbourne ausgegeben. Ich war sogar im Besitz gefälschter Papier. Den Akzent konnte ich sprechen, weil meine Frau ursprünglich aus Melbourne stammt.«

Es fiel mir immer noch schwer, seine Geschichte zu glauben, aber er erweckte den Anschein einer gewissen Vertrautheit. Lag es vielleicht an der optischen Ähnlichkeit zu meinen Vater? Oder womöglich an seiner offenen Art, wie er mir begegnete? Thomas hatte auch keinen Grund zu lügen.

»Aber Riley ist verschwunden«, sagte ich schließlich tonlos.

»Ein Umstand, der mir nicht gefällt. Schließlich bin ich bis zu seiner geschäftlichen Volljährigkeit sein gesetzlicher Vormund und Ärger kann ich gerade gar nicht gebrauchen.«

»Ich mach mir mehr Sorgen darum, ob mit ihm alles in Ordnung ist?« Das mulmige Gefühl, dass etwas Schlimmes passiert sein könnte, verstärkte sich und ich wusste nicht einmal warum. Auf den Schock hin steckte ich mir eine weitere Zigarette an, denn die erste lag heruntergebrannt im Aschenbecher.

»Okay. Vergessen wir jetzt erst einmal das eine und kommen zum Wesentlichen.« Thomas schob mir die Dokumentenmappe zu und lehnte sich auf dem Stuhl zurück.

Ich nickte kaum merklich und öffnete neugierig die Mappe. Zu allererst entdeckte ich die Vormundschaftsurkunde von Riley Conners. Thomas Ashton hatte mich nicht angelogen. Anhand des dort vermerkten Geburtsdatums war mein Bruder gerade einmal fünfzehn Jahre alt. Als Nächstes stachen mir die notariellen Schriftstücke über Eigentum- und Grundstücksrechte der Villa in Havering und des Blacks Desires ins Auge.

Thomas bemerkte meine Verwirrung. »Lies dir alles in Ruhe durch. Aber kurz gesagt gehört dir bereits alles. Dein Vater und ich mussten ein wenig tricksen, aber letztendlich ist alles legal. Das Ganze fing bereits kurz vor Amelies Tod statt. Sie hat damals noch mitunterschrieben. Seit deinem einundzwanzigsten Geburtstag gehört dir die Villa. Bis dahin war ich ebenfalls dein Vormund. Deine Eltern besaßen lediglich uneingeschränktes Wohnrecht bis zu ihrem Tod. Nachdem Edward nun ebenfalls gestorben ist, kannst du mit der Immobilie tun und lassen, was du möchtest.«

Sprachlos und mit schnell schlagendem Herz überflog ich das Dokument.

»Beim Club liegt der Fall etwas anders«, fuhr mein Onkel fort und ich hörte ihn nur noch wie aus weiter Ferne. Das Haus meiner Mutter gehörte mir und niemand anderem! Ich spürte, wie mir ein großer Brocken von den Schultern fiel. Meine schlimmste Befürchtung war damit hinfällig. Meine Stiefmutter würde nichts von dem bekommen, was mich als einziges noch mit meiner leiblichen Mutter verband.

»... der Club ist mit einundfünfzig zu neunundvierzig Prozent zwischen dir und Riley aufgeteilt«, vernahm ich Thomas’ Stimme und sah ihn mit offenem Mund an. »Er gehört bereits seit zwei Jahren euch. Edward war lediglich der Geschäftsführer und erhielt ein monatliches Gehalt aus den Clubeinnahmen. Genaueres findest du in den Unterlagen. Tyler erhält vom Barvermögen deines Vaters zehn Prozent, der Rest ist zu gleichen Teilen zwischen Riley und dir aufgeteilt. Alle Dokumente dazu findest du ebenfalls als Kopie in der Mappe. Die Originale erhaltet ihr nach der Testamentseröffnung.«

»Und ... und was heißt das ... im Klartext? Über welche Beträge reden wir hier?«, presste ich perplex hervor. Mir schwirrte der Kopf und ich war verdammt froh zu sitzen.

»Wir reden hier über zehn Millionen.«

»Also grob überschlagen fünf für mich und fünf für Riley?«

Mein Gegenüber schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Eigentlich geht um insgesamt zwanzig Millionen.«

»Z... z... zwanzig Millionen?« Ich konnte es nicht fassen. »Woher stammt das Geld?«

Thomas lächelte mich liebevoll an. »Wie du vielleicht weißt, stammt das meiste davon von deinen verstorbenen Großeltern mütterlicherseits. Als dann unsere Eltern starben, kam noch eine Menge dazu. Ein Großteil ist in Form von Aktien angelegt. Mir ist es gelungen im Laufe der Zeit das Geld dadurch zu verdoppeln. Bei den heutigen Aktionskursen würdest du beim Verkauf immer noch ordentliche Gewinne erzielen.«

Augenblicklich stockte mir der Atem. Ich versuchte, zu begreifen, was mir Thomas soeben zu verstehen gab. Doch es wollte mir nicht gelingen. Hatte mein Vater, den ich bis zu seinem Tod abgrundtief gehasst hatte, mir wahrhaft diese Unsumme vererbt? Das war zu viel für mich. Mit zittrigen Händen griff ich nach dem Wasserglas, doch es entglitt mir und fiel klirrend zu Boden.

»Geht es dir gut?«, fragte mein Onkel. Er stand auf, umrundete den Tisch und sah mich besorgt an.

»Ich denke schon«, flüsterte ich. »Das ist jetzt nur ein Schock, den ich erst einmal verdauen muss.«

Er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Das glaube ich dir gerne. Ich lasse dich jetzt am besten in Ruhe. Aber es wäre schön, wenn wir noch einmal vor meiner Abreise miteinander reden könnten. Ich würde auch gerne mal Tyler kennenlernen. In der Zwischenzeit werde ich meinen Privatdetektiv in der Suche nach Riley betrauen. Er muss ja irgendwo abgeblieben sein. Und übrigens, wenn ich dürfte, würde ich gerne an Edwards Beerdigung teilnehmen.«

Konsterniert nickte ich und bekam erst mit, dass Thomas Ashton gegangen war, als er sich längst verabschiedet hatte.