Kapitel Sechs

* * * * *

 

Ich saß am Schreibtisch im Büro meines Vaters und war immer noch leicht durch den Wind. Neben mir standen ein halb volles Glas und eine Flasche Scotch. Um mich herum stapelten sich Geschäftsordner. Bislang konnte ich mich nicht dazu überwinden, einen davon zu öffnen. Bis vor kurzem war ich noch fest der Meinung gewesen, der Club gehöre Edward Ashton. Umso schwerer fiel es mir, mich mit der Tatsache abzufinden, dass das riesige Gebäude und alles, was sich darin befand, längst mein Eigentum waren. Vor allem geisterte mir die enorme Summe des Erbes im Kopf herum. Nie im Leben hätte ich mit so etwas gerechnet. Ich war zwar nicht in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und mir hatte es nie an etwas gefehlt, doch die Neuigkeit überstieg bei weitem mein Vorstellungsvermögen. Deutlich sah ich Tylers grinsendes Gesicht vor mir, wenn ich ihm davon erzählen würde. Besonders, weil Edward ihn keineswegs benachteiligt hatte, obwohl er nicht sein leiblicher Sohn war. Vermutlich war das Edwards Art Wiedergutmachung zu betreiben.

»Du warst trotzdem ein Mistkerl«, nuschelte ich vor mich hin. Merkwürdigerweise konnte ich meinem Vater dennoch nicht mehr böse sein. Zumindest im Hinblick auf das Vermögen und die Immobilien nicht. Dass es zwischen uns niemals eine Vater-Sohn-Beziehung gegeben hatte, daran änderte auch der neue Stand der Dinge nichts. Doch seine handgeschriebenen Zeilen hatten mich ein wenig milder gestimmt. Ich war jedoch noch lange nicht soweit, ihm zu verzeihen. Ob ich das überhaupt jemals tun konnte, stand in den Sternen.

»Hey Sean. Bist du da?«, drang Jamies Stimme aus dem Flur ins Büro.

»Ja. Im Büro«, rief ich und sah ihn lächelnd eintreten.

»Ist dein Onkel schon weg?«

Ich lehnte mich bequem im Ohrensessel zurück und betrachtete Jamie, der sich auf die Schreibtischkante setzte.

»Er ist vor eine Viertelstunde gegangen.« Mein Blick glitt unweigerlich von seinem Schritt hinauf in sein wunderhübsches Gesicht. Nervös räusperte ich mich und verdrängte den Gedanken ihn in diesem Moment berühren zu wollen.

»Okay. Ich hoffe, er hatte gute Nachrichten für dich.«

Als Antwort nickte ich schweigend. »Und was hast du herausgefunden?«

Jamie grinste kess. »Die ersten beiden Stockwerke sind komplett leergeräumt. Im Dritten war ich noch nicht. Aber es sieht alles ganz danach aus, als hätte Eddi etwas Größeres geplant.«

Dieses Mal verzog ich die Mundwinkel bei der Nennung seines Kosenamens nicht.

Ich seufzte leise. »Dann scheint das mit der Sanierung wohl zu stimmen.«

»Warum sollte er es erfinden. Aber mal etwas ganz anderes. Warum hast du mein Sandwich verdrückt? Jetzt ist nur noch Pute übrig und ich hatte dir gesagt, das mag ich nicht.« Jamie zog einen Schmollmund und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Was? Ich habe noch gar nichts gegessen«, verteidigte ich mich.

»Ach ja? Dann hat das Sandwich wohl Flügel bekommen?« Er zog skeptisch die Augenbrauen nach oben und pikste mir mit dem Zeigefinger unbefangen in die Magengegend. »Das wird schon längst verdaut, du Dieb.«

Schmunzelnd blickte ich Jamie an und blieb an seinen glänzenden schmalen Lippen hängen. Das Licht der Deckenlampe verlieh ihm eine anregende Aura. In Gedanken berührten sich ganz langsam unsere Münder. Zuerst sanft, dann leidenschaftlicher. Meine Finger fuhren dabei durch seine Haare.

»Wen nennst du hier Dieb, du freches Früchtchen«, konterte ich und erhob mich aus dem Sessel. Vergnüglich schob ich die Unterlippe nach vorne.

»Freches Früchtchen?«, wiederholte er und stand ebenfalls auf. Sein vorwitziges Grinsen kehrte in sein Gesicht zurück. Plötzlich packte er mich mit den Händen am Kragen und zog sich näher zu sich heran. Ich spürte die Wärme seines Atems, der meine Wange streifte und mir ein angenehmes Kribbeln über den Rücken jagte. Mein Herz schlug schneller und eine außergewöhnliche Hitze nahm von meinem Körper Besitz. Ich dachte an das Gespräch mit Tyler zurück.

Jamie steht auf dich und du fährst voll auf ihn ab. Er ist genau dein Typ und er würde dich ganz bestimmt nicht von der Bettkante stoßen.

Das waren seine Worte gewesen und ich wusste in diesem Moment, dass sie stimmten. Ich holte tief Luft und hauchte ihm zu: »Ich kaufe dir später ein neues Sandwich.«

Jamie antwortete nicht. Stattdessen wanderten seine Hände in meinen Nacken und er zog mich näher an sich heran. Nasenspitze an Nasenspitze sah ich ihm tief in die Augen. Sie glänzten heißblütig. Mein Atem beschleunigte sich und ein ungewöhnliches Begehren flackerte in mir auf. Ich schloss die Lider und ich spürte seinen Mund auf meinem, als plötzlich und unerwartet ein lautes Rumpeln zu hören war.

Vor Schreck zuckten wir zusammen und ließen voneinander ab. Ich fühlte immer noch die Berührung seiner Lippen, aber meine Leidenschaft war wie weggeblasen.

»Was zur Hölle war das? Wo kam das her?« Fahrig starrte ich zur offenen Bürotür.

Jamie schaute sich ebenfalls um und zuckte mit den Schultern, als ein kaum wahrnehmbares Stöhnen zu uns vordrang.

»Wenn es nicht spukt, würde ich behaupten, hier ist jemand.«

Ich nickte und wandte mich verlegen dem Bücherregal zu. Dabei versuchte ich, nicht daran zu denken, was beinahe geschehen wäre. Jamie dagegen lächelte mir aus den Augenwinkeln wissend zu. Verärgert ignorierte ich ihn. Gerade als ich bereit war, einen Schritt auf ihn zuzugehen, mussten wir gestört werden. Das war so typisch für mich.

»Pssst«, flüsterte ich und legte das Ohr gegen die Wand. Zu hören war nichts, aber als ich zufällig zu Boden blickte, fielen mir Kratzspuren auf dem Parkett auf. Ich deutete Jamie leise zu sein und zeigte auf die Risse im Boden.

»Sieht aus, als gebe es hier eine Tür«, murmelte Jamie und lauschte ebenfalls aufmerksam.

»Da ist es wieder! Hörst du? Das Stöhnen!« Aufgeregt deutete ich zum Regal.

»Du meinst, es kommt von dort?«

Ich nickte. »Los, hilf mir mal. Lass uns es uns verschieben.«

Auch mit vereinten Kräften gelang es uns nicht, das Möbelstück auch nur einen Millimeter zu verrücken. Daher gingen wir dazu über einen versteckten Mechanismus zu suchen. Wir tasteten die einzelnen Fächer ab und zogen ein Buch nach dem anderen heraus. Nichts passierte.

»Das wird so nichts.« Enttäuscht griff Jamie nach den kleinen Porzellanfiguren, die als Dekoration im Regal standen. Als er die Letzte anheben wollte, bewegte sie sich nicht. Die Figur, die einen Engel darstellte, ließ sich jedoch zur Seite drehen. Wir vernahmen ein kaum hörbares Klicken.

Die Geheimtür glitt auf und gab den Weg in einen weiteren Raum frei. Jamie warf einen Blick hinein und wirkte sichtlich geschockt. Neugierig schob ich ihn zur Seite und erblasste ebenfalls. Schlagartig wurde mir flau im Magen. Nur wenige Meter von mir entfernt lag zusammengekrümmt ein Teenager auf dem Boden. Der Junge stöhnte und presste die Hände auf die Magengegend. Schweißperlen glitzerten in seinem Gesicht. Er schien vor Schmerzen kaum noch bei sich zu sein.

»Oh Scheiße!« Hastig ging ich vor ihm auf die Knie und legte ihm die Hand auf die Stirn. Er glühte förmlich. Der Gedanke, dass wir soeben Riley gefunden hatten, drängte sich mir auf.

»Ich habe das Sandwich gefunden«, sagte Jamie und deutete auf das angebissene Käsesandwich, das dem Jungen heruntergefallen war. Wenige Meter weiter entdeckte er auf einer Kommode eine geöffnete Konservendose mit Ravioli. Er nahm sie an sich und wir beiden rochen daran. Ein eigentümlicher Geruch stieg uns in die Nase.

»Lebensmittelvergiftung und das ist wohl das Corpus Delicti. Außerdem hat er Fieber«, antwortete ich und konnte mir gut vorstellen, wie schlecht es dem Jungen ging. Vor Jahren hatte ich mir selbst eine eingefangen.

»Am besten legst du ihn erst einmal da vorne hin.«

Ich nickte und bettete den dünnen Körper behutsam in meine Arme. Ohne Schwierigkeiten stand ich auf und brachte ihn hinüber zu einem ausladenden Bett. Dabei musste ich feststellen, dass der Junge viel zu leicht für sein Alter war. Fürsorglich legte ich ihn ab und zog die Decke über seinen zitternden Körper. Es war ohnehin nicht besonders warm im Raum. Ohne auf die nähere Umgebung zu achten fand ich zur rechten ein kleines Badezimmer und hielt darauf zu. Von dort stach mir der bittere Gestank von Gallenflüssigkeit in die Nase, der mich einen kurzen Moment zum Würgen brachte. Der Junge, von dem ich annahm, dass es Riley war, hatte sich mehrmals in die Toilettenschüssel übergeben, aber nicht nachgespült. Ich drückte die Spülung und öffnete das kleine Fenster, das den Blick auf einen Innenhof freigab.

Eilig suchte ich nach einem Handtuch. In dem Schränkchen unter dem Waschbecken wurde ich fündig und tränkte es in kaltem Wasser. Dann wrang ich es aus und ging ich zu dem Jungen zurück. Behutsam legte ich es ihm auf die Stirn. Zumindest half es ein wenig gegen die hohe Körpertemperatur.

»Wen rufst du an?«, fragte ich Jamie, der mit dem Handy am Ohr am Bettende stand.

»Einen Krankenwagen. Warum?«

»Keine gute Idee.«

Jamie runzelte die Stirn, legte jedoch sofort auf. »Wieso nicht? Der Kleine braucht Hilfe.«

»Schon. Ich habe nur so die leise Befürchtung, wir haben Edwards Engel gefunden. Es ist gerade etwas ungünstig, aber ich erkläre dir später warum.« Nun zückte ich mein Smartphone. »Einer meiner besten Freunde ist Arzt. Ich rufe ihn an und frage, ob er vorbeikommen kann.«

Nachdem ich Lian erreicht und er mir zugesichert hatte, in der nächsten halben Stunde einzutreffen, beruhigte ich mich ein wenig. Zum Glück war heute sein freier Tag.

Jamie hatte ich auf die Suche nach weiteren Decken geschickt. Der Junge war im Delirium und zitterte immer mehr aufgrund des Fiebers. Ich ging noch einmal zurück ins Bad und durchnässte das Handtuch erneut. Dann nahm ich den kleinen Eimer, der im Bad in einer Ecke stand und füllte ihn mit eiskaltem Wasser. Ich wollte Rileys Körper abreiben, um den Schweiß zu entfernen und die Temperatur zu senken. Vorsichtig schob ich das dunkle verschwitzte T-Shirt nach oben. Bestürzt nahm ich gleich mehrere alte Vernarbungen wahr. Einige davon waren kreisrund und sahen wie Verbrennungsspuren aus, die anderen waren lang und zogen sich beinahe über den gesamten Oberkörper.

Mit Entsetzen entsann ich mich an Thomas Erzählung und Edwards Brief zurück. Beide hatten von Luther Mitchel und dessen Machenschaften berichtet und beide hatten erwähnt, dass er ein pädophiler, skrupelloser Hurensohn war. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie Riley zu den Verletzungen gekommen war. Noch weniger wollte ich mir vorstellen, wie notgeile Drecksäcke sich an Kindern vergingen. Der bloße Gedanke daran war schauderhaft und kaum zu ertragen.

Instinktiv ballte ich die Hände zu Fäusten. In diesem Augenblick sah ich meinen verstorbenen Vater in einem ganz neuen Licht. Er war plötzlich nicht mehr der Mann Mitte fünfzig, der hin und wieder mit einem Jüngeren das Bett geteilt hatte. Mit einem Mal wurde er zu dem Mann, der diesen misshandelten Teenager aus den Tiefen der Hölle befreit hatte. Falls alles stimmte, was ich von Jamie über Edward wusste, hatte er sogar den Versuch unternommen, weiteren Jungs zu helfen. Er hatte sie von der Straße geholt, um ihnen hier ein Dach über dem Kopf zu geben.

War das nur Wunschdenken oder die Wahrheit? Ich fand darauf keine Antwort. Nur in einem Punkt war ich mir sicher: Ich hatte meinen Vater kaum gekannt.

Beschämt senkte ich den Kopf und konzentrierte mich wieder voll und ganz auf den Jungen vor mir. Er war jetzt wichtiger als Edward, egal ob er tatsächlich mein Halbbruder Riley war oder nicht.

»Sorry Sean, aber ich finde keine Decken. Die Zimmer in den oberen Stockwerken sind alle abgeschlossen«, sagte Jamie beim Eintreten und legte mir eine Hand auf die Schulter.

Bei seiner Berührung kehrte sogleich das angenehme Kribbeln auf der Haut zurück, aber ich verdrängte es. Für diese Gefühle war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.

»Dann gib mir meine Jacke. Die hängt an der Garderobe im Büro.« Bevor ich ausreden konnte, war Jamie auch schon hinausgeeilt und kehrte einen Moment später mit der Daunenjacke zurück. Sie musste ausreichen, bis Lian kam.

Ich wusch Rileys Oberkörper ab, trocknete ihn und zog das T-Shirt wieder nach unten. Danach breitete ich die Jacke über ihn aus und am Ende folgte die Bettdecke. Mehr konnte ich fürs Erste nicht tun.

»Was hast du jetzt vor?«, erkundigte sich Jamie und setzte sich im Schneidersitz vor mich auf den Boden.

»Du meinst wegen ihm?«

Jamie nickte traurig. Auch er hatte die Narben auf dem jungen Körper gesehen.

Ich hatte keine Ahnung. »Würde sagen, zuerst einmal nehme ich ihn mit in die Wohnung und wenn er so weit fit ist, dass er reden kann, muss er mir viele Fragen beantworten. Du hast den Brief ja auch gelesen.«

»Gerade deswegen. Aber du hast recht. Abwarten ist erst einmal eine gute Idee. Ich geh mal nach draußen und passe deinen Freund ab. Eine Klingel habe ich nämlich nirgendwo gesehen.«

Kaum war Jamie verschwunden, tauchte er auch bereits wenige Minuten später wieder mit Lian im Schlepptau neben mir auf. Mein bester Freund blickte mich mit seinen dunklen Augen fragend aber auch vorwurfsvoll an.

»Warum bringst du das Kind nicht in ein Krankenhaus?«

»Lian.« Ich erhob mich und klopfte ihm dankbar auf die Schulter. »Würde ich gerne, aber aus bestimmten Gründen geht das nicht. Bitte vertrau mir, ich erzähle dir später alles, aber kümmere dich erst um den Jungen.«

»Sei froh, dass ich gerade in der Nähe war. Es wundert mich nur, dass du mich ausgerechnet hierher bestellt hast. Wer ist das?« Während er sprach, zog er den Mantel aus und öffnete die Arzttasche, um das Stethoskop herauszuholen.

»Wie es aussieht, mein leiblicher Halbbruder«, antwortete ich tonlos.

»Dein was? Warte. Okay, jetzt hast du mich neugierig gemacht. Ich kümmere mich erst um den Kleinen, dann will ich alles bis ins kleinste Detail hören. Ihr wartet am besten dort.« Lian deutete zu dem Sofa, das fast eine gesamte Wand des Raumes einnahm.

Wortlos nahm ich den Mantel meines besten Freundes an mich und entfernte mich mit Jamie. Neugierig beobachtete ich Lian, der Riley gründlich untersuchte. Dabei entging mir nicht das schockierte Gesicht, als er die alten Narben entdeckte. Er horchte ihn ab, kontrollierte den Puls und die Temperatur und ging schließlich dazu über, ihm einen Venenzugang zu legen. Darüber entnahm er zuerst ein paar Blutproben und verabreichte ihm irgendwelche Medikamente, um ihm anschließend eine Infusion anzulegen. Als er etwas ratlos mit dem Tropf in der Hand dastand, kam ich auf die Idee, den Garderobenständer aus dem Büro meines Vaters zu holen. Mit einem zufriedenen Lächeln befestigte er die Flasche daran. Erst als Lian fertig war und die Flüssigkeit langsam aber stetig in den Körper meines Bruders tropfte, wandte er sich wieder an uns.

»Die Blutprobe lasse ich auf eigene Rechnung im Krankenhaus untersuchen«, sagte er und setzte sich auf das Sofa. Nebenbei zückte er seinen Notizblock aus der Tasche. »Das Ergebnis wird morgen da sein. Ich rufe dich dann an.«

»Und wie geht es ihm?«, erkundigte ich mich.

»Nachdem was du mir schon am Telefon gesagt hast und dem, was ich jetzt gesehen habe, scheint er sich tatsächlich eine Lebensmittelvergiftung eingefangen zu haben. Er ist dehydriert. Wahrscheinlich geht es ihm schon seit ein paar Tagen schlecht. Deswegen bekommt er über den Tropf eine Glucoselösung und ich habe ihm etwas krampflösendes und fiebersenkendes beigemischt. Ich schreibe noch zwei Medikamente auf, die du in der Apotheke kaufen kannst. Er soll sie bei Bedarf mit ausreichend Wasser oder Tee einnehmen. Dann wird er schon wieder. Lass ihn erst einmal schlafen. Ich komme morgen vor der Spätschicht vorbei.«

Ich seufzte erleichtert. »Danke. Du warst meine Rettung.«

»Also? Wieso habt ihr keinen Rettungswagen gerufen?« Aus Lians Miene las ich noch weitere Fragen ab, deren Antworten ich ihm schuldig war. Besonders interessiert nahm er Jamie in Augenschein.

»Das ist eine etwas längere Geschichte«, druckste ich herum und nahm mit Jamie ebenfalls Platz. »Hast du Zeit?«

Lian blickte auf die Armbanduhr und lächelte. »Ich bin um zwanzig Uhr mit Jacky im Restaurant verabredet. Wir haben noch zwei Stunden. Also leg los.«

Mit gemischten Gefühlen fing ich an zu erzählen. Ich startete mit dem Kennenlernen von Jamie und endete mit dem Auffinden von Riley. Als ich mich angespannt nach vorne beugte und das Gesicht zwischen den Händen vergrub, konnte ich zwei Augenpaare spüren, die mich anstarrten. Seufzend blickte ich auf.

Lian schwieg, doch sein überraschter Gesichtsausdruck zeugte davon, dass er die Neuigkeiten, die mir Thomas offenbart hatte, kaum glauben konnte. Auch Jamie starrte mich fassungslos an. »Das heißt, der Junge ist dein Bruder und euch gehört die Bude? Mann oh Mann! Da sieht man sich ein paar Tage nicht und plötzlich lässt du eine Bombe nach der anderen platzen.«

»Oh glaub mir, Lian, ich habe das selbst noch nicht verdaut«, antwortete ich und fuhr mir fahrig durch die Haare. »Ohne Jamie hätte ich vermutlich nicht den Mut gefunden, das Black Desire zu betreten, und dann wäre weiß Gott was mit dem Jungen passiert. Ich bin wirklich dankbar, dass er hier ist.« Und das nicht nur, weil er mir eine seelische Stütze war, fügte ich im Stillen hinzu. Heimlich schielte ich zu ihm hinüber und schmunzelte verlegen. Einen Moment dachte ich an unseren flüchtigen Kuss zurück und erinnerte mich an die Begierde, die er in mir ausgelöst hatte.

»Und wie soll es jetzt weitergehen?« Lian wirkte äußerst interessiert, insbesondere in Bezug auf Jamie. Mein bester Freund schien zu spüren, dass ich meinen Begleiter mochte. Zum ersten Mal war mir dieser Gedanke nicht unangenehm, was mich selbst überraschte. Wäre Riley nicht bewusstlos umgekippt, wäre vermutlich mehr zwischen uns beiden passiert. Wenn ich ehrlich war, bereute ich, dass es nicht so weit gekommen war, was mich erneut verwunderte.

»Du meinst mit dem Club?«, hakte ich nach und beäugte Jamie verstohlen aus den Augenwinkeln.

»Nicht nur das.« Lian grinste und wechselte abrupt das Thema, wobei er sich direkt an Jamie wandte. »Ich verrate dir mal etwas. Sean eiert schon seit Jahren um den heißen Brei herum. Er hat weder auf Tyler, noch auf Christopher oder mich je gehört. Und dann kommst du und schwupps betritt er sogar den Club, von dem ich dachte, dass ihn keine zehn Pferde dazu bringen würden. Egal was zwischen euch ist, es gefällt mir. Hol ihn aus seinem Schneckenhaus heraus und zeige ihm, dass Weiber nichts für ihn sind.«

»Und ich habe hier kein Wort mitzureden?«, mokierte ich mich mit verschränkten Armen.

»Nein!«, kam es von beiden wie aus einem Mund.

»Ihr kennt euch gerade einmal fünf Minuten und verschwört euch gleich gegen mich?« Ich rümpfte beleidigt die Nase und hörte ihr amüsiertes Lachen. Mit einiger Mühe gelang es mir, eine ernste Miene beizuhalten, obwohl ich Lians Worten insgeheim zustimmte.

»Keine Sorge. Ich bin nicht abgeneigt, Sean ein wenig herauszufordern.« Grinsend biss sich Jamie auf die Unterlippe. Es war jedoch sein Blick aus den leuchtenden Augen, der mir verriet, woran er gerade dachte.

Das Blut schoss mir unweigerlich in die Wangen und eilig kaschierte ich es, indem ich aufstand und zu Riley ans Bett hinüberging. Lian war mir gefolgt und legte mir kameradschaftlich eine Hand auf die Schulter.

»Jamie scheint ein netter Typ zu sein. Leg deine Bedenken beiseite und lass dich auf ihn ein. Vielleicht schaffst du es ja mit seiner Hilfe, dir über eine bestimmte Sache endlich Klarheit zu verschaffen«, flüsterte er mir ins Ohr.

Ich verstand sofort, was er mir damit sagen wollte und nickte. Lian hatte meine Wahl akzeptiert und respektiert, noch bevor ich es selbst getan hatte. Alles andere lag jetzt an mir. Merkwürdigerweise war mir noch immer nicht unbehaglich zumute. War ich womöglich bereits über meinen eigenen Schatten gesprungen, ohne es zu bemerken?

»Lass Jacky nicht warten«, sagte ich schließlich. »Ich will nicht schuld sein, wenn sie die Verlobung mit dir lösen will, weil ich dich in Beschlag genommen habe.«

Lian lachte erheitert. »Das ist das Gute daran, wenn deine Herzallerliebste ebenfalls Ärztin ist, und weiß, was ein Notfall bedeutet. Aber du hast recht, ich werde mich jetzt verabschieden. Ruh dich aus und nutze, die Zeit, um die Sache mit dem Jungen und dem Club zu überdenken. Ich möchte momentan echt nicht in deiner Haut stecken.«

»Danke. Wie immer sehr zuvorkommend.«

Wissend schenkte mir Lian ein Lächeln und drückte mir eine Medikamentenpackung in die Hand. »Sind beste Freunde dazu nicht da?«

»Jetzt hau schon ab und vergiss die Blutröhrchen nicht. Ich bin schon am Überlegen, was ich Tyler erzählen soll.« Ich boxte ihm lächelnd gegen den Oberarm.

»Ich bin schon weg. Und was ich dir eben gegeben habe, ist gegen Übelkeit und Erbrechen. Falls der Kleine aufwacht, könnte es sein, dass er sich erneut übergeben muss. Wenn die Infusion durchgelaufen ist, findest du auf dem Nachtisch den Stöpsel, um sie abzuklemmen. Du weißt noch, wie es geht?«

Ich nickte.

»Gut. Dann bis morgen. Wenn es ihm da besser geht, entferne ich auch die Kanüle.«

Lian verschwand mit Jamie, der ihm die Tür aufschloss und für mich in die Apotheke gehen wollte. Ich rief in der Zwischenzeit Tyler an, der sich sofort auf den Weg machte.

 

*

 

»Das ist vielleicht ein Bullshit!«, fluchte Jamie bereits zum fünften Mal innerhalb einer Viertelstunde und raufte sich die Haare. Er sah von einem der zahlreichen Ordner auf, die wüst verteilt um ihn herum lagen.

»Was ist es dieses Mal?«, erkundigte sich Tyler müde. Er hockte neben Jamie auf dem Boden und studierte gleich mehrere Papiere.

Ich blickte fragend von den letzten Abrechnungen des Clubs auf, die einem großen Chaos glichen.

Zu dritt hatten wir uns vor zwei Stunden in Edwards Büro zurückgezogen, damit der Junge genügend Ruhe bekam, um sich zu erholen. Um die Zeit sinnvoll zu nutzen, gingen wir die Geschäftsunterlagen durch. Es wunderte mich immer noch, dass Tyler die Neuigkeiten so gut aufgenommen hatte. Ich bezweifelte, dass es daran lag, dass Edward ihn in seinem Testament ebenfalls bedacht hatte, obwohl sie nicht verwandt waren. Vermutlich lag es eher an Riley. Tylers Augen hatten verräterisch geglänzt, als er ihn zum ersten Mal sah. Mein Bruder hatte ein weiches Herz und der Junge tat ihm leid, ebenso wie Jamie und mir.

»So sehr ich Eddi auch mochte, aber was das Geschäftliche angeht, hatte er keinen blassen Schimmer. Zum Glück lief der Laden ziemlich gut, sonst wäre er längst bankrott gegangen«, platzte Jamie heraus.

»Das ist mir auch schon aufgefallen. Jeder Steuerprüfer würde hier verzweifeln. Er hat einfach alles wahllos abgeheftet«, antwortete Tyler und legte die Dokumente beiseite. Dann beugte er sich zu Jamie hinüber und schielte auf die aufgeschlagene Seite. »Was hast du gefunden?«

Neugierig beobachtete ich beide und musste schmunzeln. Es kam mir vor, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen, so ungezwungen gingen sie miteinander um.

»Ich habe keinen blassen Schimmer, nach welchem System er das hier abgelegt hat. Nach dem Alphabet jedenfalls schon mal nicht. Das ist echt heftig.« Jamie schüttelte frustriert den Kopf. »Eddi hätte so viel Geld bei den Getränkezulieferern sparen können. Hier sind drei Angebote und er hat trotzdem nicht gewechselt. Genauso mit den Reinigungsmitteln. Ich habe es mal grob überschlagen und unterm Strich hätte er bei beidem locker dreitausend im Halbjahr gespart.«

Ich merkte auf. Nur jemand, der mit Zahlen gut umgehen konnte, hätte das so schnell feststellen können. Interessiert sah ich ihn an und winkte ihn zu mir. »Wirf mal einen Blick auf die Abrechnungen hier.«

Jamie erhob sich und begutachtete die Geschäftsbilanzen in dem vor mir aufgeschlagenen Ordner genau. Ich selbst war die Kontenabschlüsse bereits durchgegangen und hatte festgestellt, dass mein Vater sich in manchen Dingen mächtig verkalkuliert hatte.

Gespannt wartete ich ab, als Jamie plötzlich geschäftig hin und her blätterte. Er schlug nach, verglich, blätterte vor und nochmals zurück und kehrte schließlich zu einer bestimmten Stelle zurück, auf die er mit dem Finger deutete. »Hast du das gesehen?«

Ich nickte und lehnte mich zufrieden lächelnd zurück.

»Und hier auch!« Jamie wirkte schockiert über das, was er gefunden hatte. So war es mir vorhin ebenfalls ergangen, als ich die Buchungsfehler entdeckte.

»Was ist denn los?«, wollte Tyler neugierig wissen.

»Edward hat einige der Ausgaben als Einnahmen verbucht«, erklärte ich. »Das hat er in den letzten beiden Jahren leider öfter getan. Würde er die Bilanzen korrigiert nachreichen, dann ...«

»... würde er für die zwei Jahre zwanzigtausend Piepen zurückbekommen«, beendet Jamie den Satz. »Eddi muss seine Steuer selbst eingereicht haben, denn jedem guten Steuerberater wäre das sofort aufgefallen.«

Ich lächelte breiter. »Ganz genau, vorausgesetzt er wäre mit diesem Chaos zurechtgekommen. Mir kommt da gerade eine Idee. Es wäre doch eine Verschwendung, wenn ich deinen klugen Kopf nicht nutzen würde.«

Jamie grinste, sah mich dennoch irritiert an. »Was meinst du damit?«

In diesem Moment sprang Tyler auf.

»Schieb mal das kluge Köpfchen beiseite. Ich habe hier etwas richtig Interessantes.« Mit einem Bauplan in der Hand kam er zum Schreibtisch und breitete ihn aus. Er ging zurück und holte noch ein paar Schreiben, die er zuvor eifrig durchgelesen hatte.

»Was hat es damit auf sich?« Ich begann den Plan intensiver zu begutachten und erkannte den Grundriss des Black Desires.

»Das mit der Sanierung ist tatsächlich kein Fake! Es gibt konkrete Pläne für das gesamte Gebäude. Edward hatte sich sogar schon Angebote von verschiedenen Baufirmen eingeholt.« Tyler wirkte wie ein aufgeregtes Schulkind, das zum ersten Mal einen Vergnügungspark besuchte.

»Wie geil ist dass denn!« Jamie war ebenfalls völlig aus dem Häuschen.

»Ich hatte zwar noch nie etwas mit dem Club zu tun, aber ich könnte mir vorstellen, dass man so einiges aus dem Laden machen könnte«, schwärmte Tyler unerwartet.

Während die beiden enthusiastisch und träumerisch die Immobilie neu gestalteten, hörte ich nur mit einem Ohr zu. Ich schielte durch die offene Tür zu Riley hinüber. Er schlief weiterhin ruhig. Auch ich spürte allmählich eine leichte Erschöpfung. Zu viel war in zu kurzer Zeit auf mich eingeprasselt.

Gähnend streckte ich mich im Sessel. »Jungs? Warum machen wir nicht Schluss für heute und schauen uns das morgen in Ruhe an? Ich könnte eine Mütze Schlaf vertragen.«

Tyler blickte auf die Uhr. »Jetzt schon? Es ist gerade mal neun.«

»Ja, jetzt schon. Mir schwirrt der Kopf. Ihr könnt ja in meine Wohnung gehen und dort weiter fachsimpeln. Wenn ihr morgen zurückkommt, bringt Frühstück und ein paar frische Klamotten mit.«

»Okay. Ich habe aber eine bessere Idee.« Tyler blickte Jamie verschwörerisch an. »Lust auf Pizza?«

Jamie nickte.

Tyler grinste frech und streckte die Hand in meine Richtung aus. »Rück mal Kohle rüber.«

»Warum ich?«

»Du willst uns doch loswerden. Also musst du dafür auch bluten.«

Lachend übergab ich meinem Bruder ein paar Scheine und wünschte den beiden einen guten Appetit.

»Du willst nichts?«, hakte Jamie nach.

Ich schüttelte den Kopf. »Mir reicht das Sandwich. Bringt morgen einfach genug Frühstück mit.« Zufrieden beobachtete ich, wie Jamie aufgeregt plappernd mit Tyler davon zog. Ich streckte mich noch einmal ausgiebig, bevor ich in den Raum nebenan ging, einen Kontrollblick auf den Kleinen warf und es mir anschließend auf dem Sofa bequem machte.