Kapitel Sieben

* * * * *

 

Übermüdet wälzte ich mich auf dem Sofa hin und her. So sehr ich auch versuchte Schlaf zu finden, es wollte mir nicht gelingen. Zu viele Dinge spukten in meinem Kopf herum. Angefangen von Jamie bis hin zum Black Desire. Dass ich mit Riley allein im Club geblieben war, trug nicht zu meiner Entspannung bei. Immer wieder vernahm ich seltsame und ungewohnte Geräusche, die mich zusätzlich nervös werden ließen. Das Mauerwerk war alt und von der Außenwelt trennte mich lediglich eine marode Eingangstür. Für Einbrecher kein großes Hindernis. Doch zum Stehlen gab es außer ein paar Flaschen Alkohol in der Bar nichts. Zumindest hatte ich nichts Wertvolles entdeckt.

Frierend setzte ich mich auf und fuhr mir fahrig mit den Händen durchs Gesicht. Die Heizung funktionierte nicht. In einer Woche brach der November an und die Nächte waren bereits empfindlich kalt. Da ich technisch gesehen absolut zwei linke Hände hatte, unternahm ich noch nicht einmal den Versuch in den Keller zu gehen, um nach der Heizung zu sehen. Meine Daunenjacke lag immer noch auf Riley, somit blieb mir nichts als mein dünner Pullover.

»Okay. Wenn ich schon nicht schlafen kann, kann ich mich genauso gut umsehen«, murmelte ich vor mich hin und stand auf.

Die Stehlampe neben dem Bett brannte und spendete ausreichend Licht. Interessiert schlenderte ich durch das geräumige Zimmer. Am Fenster befand sich ein Schreibtisch. Als ich ihn genauer in Augenschein nahm, war ich mehr als überrascht, dort Schulbücher zu finden. Ich nahm das oberste des Stapels in die Hand und blätterte es neugierig durch. Es war ein Mathematikbuch für die vierte Klasse. Ein Lösungsbuch gab es ebenfalls, dazu ein Aufgabenheft. Edward musste sie Riley gekauft haben, um ihm zumindest lesen, rechen und schreiben beizubringen.

Ich setzte mich auf den Bürostuhl und begutachtete die Schulsachen genauer. Die meisten Aufgaben waren bereits gelöst und erstaunlicherweise beinahe alle richtig. Wer auch immer Riley unterrichtet hatte, hatte gute Arbeit geleistet. Ein Lächeln stahl sich in mein Gesicht. In Gedanken sah ich den Jungen am Schreibtisch sitzen und mein Vater war der Lehrer. Eine unwirkliche Vorstellung, denn weder Tyler noch mir hatte er je in unserer Schulzeit geholfen oder Interesse daran gezeigt.

Das führte mir zum wiederholten Mal vor Augen, dass der Edward Ashton aus dem Black Desire nicht der war, den ich gekannt hatte. Erst durch seinen Abschiedsbrief war mir allmählich bewusst geworden, dass er ein Mann mit Gefühlen und Gewissen gewesen war. Der frühe Tod meiner Mutter hatte ihn gebrochen. Ab da hatte sich alles verändert. Wäre sie noch am Leben, wäre meines ganz anders verlaufen. Traurig schob ich den Gedanken weit von mir. Eine harmonische Familie war mir fremd. Für mich gab es nur Tyler ... und nun auch Riley.

Seufzend lehnte ich mich zurück und schaute mit verschränkten Armen zum Bett hinüber. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit dem Jungen tun sollte. Meine Welt war innerhalb weniger Tage aus den Fugen geraten. Eines wusste ich allerdings mit Gewissheit. Der Kleine benötigte Hilfe und das vermutlich nicht nur, weil er gerade krank war. Ich konnte mir zwar nicht ausmalen, wie genau sie aussehen würde, aber ...

Ein leises Wimmern schreckte mich plötzlich auf. Mein Bruder öffnete die Augen und krampfte sich im gleichen Moment auch schon zusammen. Ich eilte zu ihm hinüber und setzte mich auf die Bettkante.

»Hast du Schmerzen?«, fragte ich und griff zu dem Medikament, das laut Lian krampflösend wirkte.

Riley reagierte panisch. Mit angsterfüllten Augen stierte er mich an und schlug ohne Vorwarnung wild um sich. Überrascht sprang ich auf, in der Hoffnung, der größere Abstand würde ihn beruhigen. Ich fühlte mich völlig hilflos. Was war mit ihm los?

»Hey, alles ist gut. Du bist Riley, nicht wahr? Edward hat gesagt, ich soll dich suchen und mich um dich kümmern«, sagte ich beschwichtigend, aber ich schien nicht zu ihm durchzudringen.

Riley griff nach der Venenkanüle in der Armbeuge und versuchte, das Klebeband zu lösen. Zum Glück hatte ich den Schlauch längst abgeklemmt. Doch ich konnte nicht zulassen, dass er sich die Injektionsnadel herauszog und dabei womöglich noch verletzte. Ohne darüber nachzudenken fasste ich ihn an den Handgelenken, wobei ich jedoch instinktiv darauf achtete, nicht fest zuzupacken. Dennoch verschlimmerte ich dadurch die Situation nur noch. Schreiend wehrte er sich verbissen, aber ich gab nicht nach. Riley musste sich dringend beruhigen. Erst als er von einem Würgereiz heimgesucht wurde, gab er den Kampf auf. Sofort ließ ich ihn los und griff nach der Schüssel, die ich vorsichtshalber neben dem Bett abgestellt hatte. Er stieß sie jedoch mit der Hand beiseite, sodass sie in hohem Bogen durch die Luft flog und mit einem lauten Knall an der Wand abprallte.

Bevor Riley weiter um sich schlug, beugte ich mich über ihn und drückte ihn an den Schultern sachte in die Laken zurück. Vorsichtig, dennoch überlegen hielt ich seine Unterarme fest.

Ich sah ihn mit einem einfühlsamen Lächeln an. »Gegen mich kämpfen kannst du, wenn du wieder fit bist. Jetzt beruhige dich erst einmal und lass mich dir helfen. Ich tu dir nichts.« Ich achtete darauf, dass meine Stimme besonders sanft klang.

Mein Bruder schien mir dennoch nicht zu vertrauen, denn erneut versuchte er sich gegen mich zur Wehr zu setzen. Ich verstärkte ganz leicht den Druck, um ihm zu verstehen zu geben, dass seine Bemühungen umsonst waren.

»Lass mich nicht böse werden«, fuhr ich bestimmender fort, doch mit der deutlichen Absicht, meinen Worten Taten folgen zu lassen. »Wenn du nicht langsam Vernunft annimmst, bleibt mir nichts anderes übrig, als dich festzubinden. Und das würde ich ungern tun.«

Abrupt hörte er auf und durchbohrte mich mit einem vernichtenden Blick. Ich hielt dem problemlos stand und nahm ihn ebenfalls grimmig in Augenschein. Bedrückt stellte ich mir die Frage, was Riley alles widerfahren sein musste, dass er so verängstigt reagierte. Kurz darauf bemerkte ich voller Erleichterung, dass er sich allmählich entspannte. Er drehte er den Kopf zur Seite und sah hinüber zum Fenster. Tränen blitzten unter seinen langen Wimpern hervor.

Mit einem schlechten Gewissen zog ich meine Hände zurück, damit er merkte, dass ich ihn nicht angelogen hatte. Als er ruhig blieb, nickte ich zufrieden und sagte lächelnd: »So ist es schon viel besser. Findest du nicht auch?«

Riley antwortete nicht, doch ich sah, wie sich sein Atem etwas beruhigte. Allerdings zitterte er am ganzen Körper und das nicht nur, weil es im Raum kalt war.

»Hast du Schmerzen? Oder ist dir übel?«, erkundigte ich mich mitfühlend.

Erneut reagierte Riley nicht. Seufzend erhob ich mich und holte die Schüssel zurück, die ich auf dem Nachttisch zurückstellte. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich dabei meinen jüngsten Bruder, der mich ebenfalls nicht aus den Augen ließ.

Ich tat, als wäre mir seine Skepsis nicht aufgefallen und erkundigte mich: »Hast du Durst? Möchtest du etwas trinken?«

Zum ersten Mal kam als Antwort ein kaum wahrnehmbares Kopfnicken.

Ich goss Wasser in ein Glas und reichte es ihm. Wortlos nahm er es an und nippte mehrmals daran.

Schmunzelnd setzte ich mich wieder auf den Rand des Bettes. Plötzlich überkam mich der Gedanke, dass ich soeben den ersten Sieg von vielen Kämpfen errungen hatte, die uns womöglich bevorstanden. Denn Rileys Verhalten hatte mir eindeutig zu verstehen gegeben, dass er kein normaler Junge seines Alters war.

»Ist dir kalt?«, hakte ich nach, während ich ihm das leere Wasserglas abnahm und abstellte. Sein Zittern hatte zugenommen.

Riley nickte stumm.

»Wie wäre es, wenn du meine Jacke anziehst und dich unter die Decke kuschelst«, schlug ich vor und griff auch bereits nach ihr, da sie durch den Kampf ans Bettende gerutscht war. »Hier, schlüpf rein. Sie hält schön warm.«

Anstatt zu antworten, blickte der Junge entsetzt von der Jacke zur Kanüle im Arm.

»Es ist alles in Ordnung. Vorhin war ein Arzt da, der hat dir darüber Medikamente gegeben, damit du dich besser fühlst«, erklärte ich und meine Hand wanderte betont langsam in Richtung seiner Finger. Ich befürchtete, dass er sie sich wieder herausreißen wollte. »Er ist ein guter Freund von mir und hat nachgeschaut, warum du bewusstlos warst, als wir dich gefunden haben«, sprach ich wie zu einem kleinen Kind und bemerkte, dass mir Riley genau zuhörte und mich auch verstand. Er ließ die Schultern hängen und biss sich auf die Unterlippe. Dennoch vermutete ich, dass er in seinem Leben noch nie einen Arzt geschweige denn eine Nadel zu Gesicht bekommen hatte. »Leider hast du etwas gegessen, dass nicht mehr gut war. Deshalb hast du dich schlecht gefühlt und dich übergeben. Hohes Fieber hattest du auch. Vermutlich war dir schwindlig und bist darum umgekippt.«

Ich hob wie in Zeitlupe die Hand und legte sie Riley auf Stirn. Er zuckte kurz zurück, doch dann entspannte er sich auch schon. »Du musst vor mir keine Angst haben. Ich möchte nur fühlen, ob dein Fieber gesunken ist. Deine Stirn ist nicht mehr so heiß. Das ist ein gutes Zeichen.«

Nach diesen Worten veränderte sich der Ausdruck in seinen glänzenden saphirblauen Augen und die Furcht wich einer kindlichen Neugier. Erst jetzt nahm ich zur Kenntnis, dass sie eine wunderschöne Farbe besaßen. Er wirkte unschuldig und wies tatsächlich ein wenig Ähnlichkeit mit Edward auf.

Mir wurde mehr und mehr bewusst, dass ich mit Riley behutsam umgehen musste. Für ihn war ich ein Fremder. Also hatte er auch keinen Grund, sich mir zu öffnen. Dieses Vertrauen musste ich mir erst verdienen. Zumal er nicht einmal wusste, dass unser Vater verstorben war.

»Also? Möchtest du meine Jacke anziehen?«, fragte ich erneut und hielt sie in seine Richtung.

Riley nickte abermals.

»Komm, ich helfe dir.« Problemlos durfte ich sie ihm überziehen und lächelte zufrieden. »Siehst du. Gleich frierst du nicht mehr.«

Mein Bruder kuschelte sich hinein und roch am Stoff. Ihm schien der Duft meines Eau de Toilette zu gefallen, denn er sog ihn immer wieder tief ein, ehe er mich erneut ansah.

»Hast du noch Schmerzen? Ist dir vielleicht übel?«, erkundigte ich mich nochmals.

Riley deutete auf seinen Bauch.

»Diese Tabletten hat mir der Arzt für dich gegeben«, sagte ich und griff zu den Medikamentenpackungen auf dem Nachttisch. »Sie helfen, damit es dir bald besser geht. Ich schlage vor, du nimmst sie. Dann verschwinden die Bauchschmerzen und du musst dich nicht mehr übergeben.« Ich öffnete die Packungen und drückte Riley zwei unterschiedliche Tabletten die Hand. Anschließend goss ich Wasser im Glas nach und reichte es ihm.

Er blickte beides skeptisch an, dann wanderte sein Blick zurück zu mir. »Nimm sie. Ich verspreche, sie werden helfen. Ich hatte die auch, als ich einmal so krank war wie du jetzt. Wie du hatte ich etwas Falsches gegessen. Bei mir waren es allerdings Muscheln und keine Ravioli.« Zur Unterstreichung schmunzelte ich. »Nachdem ich die Medikamente genommen hatte, ging es mir schnell besser.«

Offenbar hatte ich ihn damit genügend beruhigt, denn er schluckte die Tabletten, ohne weiter zu zögern. Sein angeekeltes Gesicht sprach Bände.

Ich kicherte leise. »Oh ja. Sie schmecken überhaupt nicht gut. Daran kann ich mich erinnern. Trink noch einen Schluck hinterher.«

Artig setzte er das Glas an die Lippen und trank es leer. Dann übergab er es mir und legte sich zurück ins Bett. Ich nahm die Decke, zog sie ihm bis zur Nasenspitze hoch und stopfte sie zusätzlich links und rechts unter seinen Körper. Dem Kleinen schien nun warm zu sein, ich hingegen fröstelte weiter. Die Nacht war noch lange nicht vorbei und so würde ich sicherlich keinen Schlaf finden.

Wie aus heiterem Himmel spürte ich Rileys Finger auf meiner Hand. Er umschloss sie mit Bedacht.

»Du bist schön warm. Schlaf jetzt, damit du ganz schnell gesund wirst«, wisperte ich und wollte mich zurückziehen. Doch Riley ließ mich nicht los. Verwundert sah ich ihn an.

Stumm rückte er zur Seite und machte Platz. Als ich reglos sitzen blieb, hob er die Bettdecke ein Stück an und deutete mit dem Kinn auf das Kissen.

Überrascht holte ich tief Luft. »Soll ich bei dir schlafen?«

»Ja«, vernahm ich kaum hörbar seine sanfte Stimme zum ersten Mal. »Du frierst. Wie ich.«

Er ging mit dieser unschuldigen Geste eindeutig den ersten Schritt auf mich zu. Mir lief vor Freude ein wohliger Schauder über den Rücken. Dankbar und überglücklich lächelte ich.

»Also gut, dann rück noch ein wenig zur Seite«, murmelte ich, zog die Schuhe aus und legte mich mit dem Rücken zu ihm gewandt ins Bett.

Riley zog die Decke über uns beide. Dann überraschte er mich ein weiteres Mal, indem er ein »Danke« hauchte und sich an mich kuschelte.

Vor Freude schlug mein Herz schneller. Sollte das wirklich bedeuten, dass ich einen Zugang zu dem Jungen gefunden hatte? Doch bevor ich zu einer Antwort kommen konnte, schloss ich die Augen und schlief ein.

 

*

 

Gähnend öffnete ich die Lider und erschrak, als im gleichen Augenblick mein Handy klingelte. Verwirrt sah ich mich um, doch da fiel es mir wieder ein. Ich hatte gemeinsam mit meinem jüngsten Bruder im Black Desire übernachtet. Immer noch leicht erschöpft schlug ich die Bettdecke zurück und stand auf. Riley lag mit geschlossenen Augen und einem entspannten Gesichtsausdruck im Bett und atmete ruhig. Er hatte sich in meine Jacke eingekuschelt und schien keine Schmerzen mehr zu haben. Zufrieden wandte ich mich von ihm ab und machte mich auf die Suche nach meinem Smartphone. Nach kurzem Suchen fand ich es auf der Couch unter einem Kissen. Rasch schnappte ich es mir und eilte ins Büro meines Vaters. Ich lehnte die Geheimtür an und nahm den Anruf an.

»Lian. Wie spät ist es?« Gähnend setzte mich in den Ohrensessel und hoffte, dass Riley weiterschlief.

»Gleich neun Uhr«, antwortete mein bester Freund. »Ich wollte dir nur sagen, es wird ein wenig später bei mir. Heute Nacht rief das Krankenhaus wegen eines Notfalls an. Komme gerade aus dem OP und habe soeben Rileys Blutergebnisse vor mir liegen. Alles im Normbereich. Er ist so weit gesund, ist das Fieber gesunken? Hat er sich noch einmal übergeben?«

Befreit über diese Neuigkeit seufzte ich erleichtert auf. »Das Fieber war heute Nacht schon so gut wie weg. Ich habe ihm aber trotzdem die Tabletten gegeben. Er schläft noch, aber ich glaube, er ist bereits über dem Berg.«

»Das freut mich. Übrigens, damit du es weißt ... ich habe vorsichtshalber auch einen HIV-Schnelltest machen lassen. Das Ergebnis ist negativ.«

Im ersten Moment erschrocken nickte ich, obwohl Lian es nicht sehen konnte.

»Hast du eine Ahnung, woher seine Narben stammen?«, fuhr er fort. »Ich frage dich nur, weil ich eigentlich dazu verpflichtet wäre es zu melden. Er ist gerade einmal fünfzehn. Also minderjährig. Ich drücke ein Auge zu, aber nur weil ich weiß, dass du sie nicht verursacht hast.«

»Dafür bin ich dir auch unendlich dankbar. Wir kamen noch nicht dazu, miteinander zu reden. Er war gestern nur ganz kurz wach und im Moment schläft er noch.« Während ich sprach, überkam mich ein flaues Gefühl. Ich hatte mich selbst schon gefragt, wer ihn so misshandelt hatte. Für mich waren Luther Mitchell und dessen perverse Kundschaft die Schuldigen.

»Okay. Vielleicht sagt er es dir ja. Wir reden später. Ich muss los. Bis dann.« Lian beendete das Gespräch und ließ mich mit den unbeantworteten Fragen zurück.

Ich schluckte einen Kloß im Hals herunter. Noch war es zu früh, um Riley darauf anzusprechen. Erst einmal musste ich Vertrauen zu ihm aufbauen und ich war mir sicher, dass da noch eine Menge Arbeit vor mir lag. Leise kehrte ich ins Zimmer nebenan zurück und war positiv überrascht Riley tiefenentspannt auf dem Sofa vorzufinden. Er trug immer noch meine Jacke und hatte die Beine angewinkelt.

»Guten Morgen, Kleiner«, sagte ich und ging langsam auf ihn zu. Dabei bemerkte ich, dass er etwas in der Hand hielt, das er betrachtete. Als ich näher kam, erkannte ich, dass es ein Foto war.

Riley blickte schweigend auf und sah mich neugierig an. Sodann schaute er wieder auf das Bild.

»Mein Freund der Arzt hat angerufen. Er kommt später vorbei. Er hat mich gefragt, ob es dir gut geht. Geht es dir denn gut?« Behutsam setzte ich mich auf den äußersten Rand der Couch und musterte meinen Bruder genauer. Riley wirkte nicht mehr so blass. Das war ein gutes Zeichen.

Als Antwort bekam ich ein Nicken, ohne dass er aufblickte. Stattdessen legte er die Fotografie beiseite, stand auf und ging hinüber zu einem Schrank in der Ecke. Interessiert beobachtete ich, wie er die Türen öffnete und Kleidungsstücke herauszog. Riley entledigte sich meiner Jacke und zog einen kuschlig aussehenden blauen Wollpullover über, der ihm mindestens zwei Nummer zu groß war. Mit einem Zweiten kam er zu mir zurück und überreichte ihn mir.

»Für mich?«, erkundigte ich mich erstaunt.

»Der gehört Dad. Damit du nicht frierst«, flüsterte Riley und setzte sich zurück ans andere Ende des Sofas, wo er das Foto sofort wieder in die Hand nahm.

Wie ein Donnerschlag hallte das Wort Dad in meinen Ohren nach. So hatte ich meinen Vater nur in jungen Jahren angesprochen. Danach war er nur Edward oder mein Erzeuger gewesen. Es aus dem Mund von Riley zu hören, brachte mein Herz in Aufruhr. Mir wurde bewusst, dass mein Vater diesen Jungen wahrhaft geliebt haben musste und es auf Gegenseitigkeit beruhte. Er hatte Riley sogar als seinen Engel bezeichnet. Wehmutsvoll senkte ich den Kopf. In den letzten Tagen hatte ich so viel über meinen Vater erfahren, dass es mir beinahe leidtat, dass er so früh gestorben war. Im Nachhinein hätte ich gerne ein klärendes Gespräch mit ihm geführt. Zumindest in Hinblick auf meinen Halbbruder. Für mich persönlich würde Edward nie mehr die liebevolle Vaterfigur werden, die er für Riley zu sein schien. Ich dachte zwar nicht mehr mit abgrundtiefen Hass an ihn zurück, doch all die Jahre der Vernachlässigung und Gleichgültigkeit ließen sich nicht einfach wegwischen, wie ein paar Krümel auf einem Tisch.

»Das ist nett von dir«, antwortete ich und streifte ihn mir rasch über. Ich war ehrlich dankbar über den Pullover. Im Black Desire war es beinahe so kalt wie draußen. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, einmal etwas von meinem Vater zu tragen.

Plötzlich drang ein lautes Poltern aus dem Flur zu uns herüber. Sofort wusste ich, Tyler und Jamie waren gekommen. Sie waren die einzigen mit einem Schlüssel. Riley zuckte sogleich zusammen und verzog sich zitternd in eine Ecke des Sofas. Ängstlich presste er eines der Kissen an seine Brust und versuchte sich dahinter zu verstecken.

Ich sprang auf, um die beiden davon abzuhalten, wie Elefanten im Porzellanladen herein zu poltern. Die zarte Bande, die ich mit Riley geknüpft hatte, war noch zu fein und konnte jederzeit zerreißen.

»Keine Angst. Das ist Tyler ... unser Bruder und mein Freund Jamie. Sie tun dir nichts«, erklärte ich. »Sie waren gestern auch hier. Sie bringen uns nur Frühstück.«

Ohne seine Reaktion abzuwarten, verließ ich das Zimmer und passte beide noch vor dem Büro ab.

»Der Lieferservice ist da!«, trällerte Tyler ausgelassen und drückte mir eine Papiertüte mit der Aufschrift meines Lieblingsbäckers in die Hand.

Jamie hielt zwei Becher in die Luft. »Ich hoffe, Tee ist genauso gut wie Kaffee. Die Kaffeemaschine ist leider kaputt.«

»Was trägst du denn da?« Tyler sah mich verblüfft an.

Ich nahm die beiden Pappbecher von Jamie entgegen. »Eine längere Geschichte. Würdet ihr mir bitte mit Riley noch ein wenig Zeit geben? Ich muss ihn erst auf eure Anwesenheit vorbereiten.«

»Oh. Er ist wach. Geht es ihm gut?«, platzte Jamie freudig heraus und schielte in Richtung Bürotür.

»Warum dürfen wir ihn nicht sehen?« Tyler wirkte gleich umso verständnisloser.

»Körperlich geht es ihm gut. Aber er ist völlig verschreckt und ich bin gerade erst dabei, sein Vertrauen zu gewinnen. Wenn er euch jetzt sieht, igelt er sich sofort wieder ein.«

Tyler schnaubte und verschränkte schmollend die Arme vor der Brust. »Wie bitte? Ich bin doch nicht hässlich!«

»Aber ein Trampeltier, das immer gleich mit der Tür ins Haus fällt«, gab Jamie belustigt zurück und ich nickte verständnisvoll.

»Wir lernen uns gerade kennen. Gehen wir es lieber langsam an. Aber ich hätte eine Aufgabe für euch. Würdet ihr den Schlüssel für den Club nachmachen lassen. Mit nur einem kommen wir nicht weit.«

»Na gut. Dann verschieben wir es eben auf später. Hier sind deine Sachen. Planst du, länger hierzubleiben?« Tylers Ärger war verraucht. Grinsend setzte er den Rucksack ab, den er trug.

»Keine Ahnung. Die Heizung ist aus und es eisig kalt hier drinnen. Also eher nicht. Nachher rufe ich noch meinen Chef an und nehme mir ein paar Tage frei.«

»Mir ist das auch schon aufgefallen. Hier friert man sich echt den Arsch ab. Kein Wunder, dass der Kleine krank geworden ist.«

»Tyler, er hat eine Lebensmittelvergiftung und keine Grippe«, belehrte ich ihn kopfschüttelnd.

»Auch egal. Dann marschieren wir mal los. Genießt das Frühstück, wir sehen uns, Bruderherz.« Tyler hob die Hand zum Abschied und Jamie schenkte mir ein geheimnisvolles Lächeln.

Automatisch dachte ich an die gestrige unmissverständliche Situation zwischen uns zurück und spürte erneut die Wärme im Gesicht. Bei der uns nächstbesten Gelegenheit wollte ich es mit Jamie darauf ankommen lassen. Doch im Augenblick zählte nur Riley.

Ich ließ den Rucksack im Gang stehen und ging beladen mit der Frühstückstüte und den zwei Pappbechern zu Riley zurück. Mein Halbbruder saß noch an Ort und Stelle und starrte wie gebannt auf das Foto. Ich nahm an, dass er das Gespräch belauscht hatte.

»Hast du Hunger? Tyler und Jamie haben uns bei meinem Lieblingsbäcker Frühstück besorgt.« Ich stellte alles auf dem Couchtisch ab und öffnete die Tüte. Ein herrlicher Duft von frischen Croissants und Brioches stieg mir in die Nase.

Zu meinem Bedauern bekam ich keine Antwort, jedoch schielte mein Bruder begierig auf das Gepäck. Ich nahm mir ein Croissant und biss herzhaft hinein. »Hm. Das ist wirklich lecker«, nuschelte ich mit halbvollem Mund. »Möchtest du auch etwas haben?«, lockte ich ihn weiter aus der Reserve.

Seine Reaktion kam in Form eines deutlichen Magenknurrens. Schmunzelnd biss ich erneut ab und bemerkte, wie Riley immer näher kam.

Ich holte ein rundes Brioche aus der Tüte und legte es neben dem Teebecher ab. »Ich an deiner Stelle würde das Hefegebäck probieren. Gut für deinen Bauch.«

Leider traute sich Riley immer noch nicht, zuzugreifen. Doch so schnell gab ich nicht auf. Ich schob beides zu ihm hinüber und ließ genug Raum zwischen uns.

Lächelnd sah ich ihn an. »Dein Magenknurren hat dich verraten. Das kannst du ruhig essen.«

Seelenruhig lehnte ich mich zurück und nippte an dem schwarzen Tee. Kaffee wäre mir dennoch lieber gewesen, um mich heute Morgen wieder wie ein ganzer Mensch zu fühlen. Dafür belohnte Riley meine Geduld, indem er endlich nach dem Gebäck griff und ein Stück davon abbiss. Das Foto hatte er beiseitegelegt, sodass ich einen Blick darauf erhaschen konnte. Beinahe hätte ich mich vor Schreck am Tee verschluckt.

Auf dem Bild war ich zu sehen! Wie war das möglich? Überrumpelt spannte ich die Schultern an. Ich durfte mir jedoch die Überraschung nicht anmerken lassen.

»Riley?«, fragte ich und konnte kaum meinen Blick davon abwenden. »Darf ich das Foto einmal sehen?«

Wortlos schob er es mir zu. Es zeigte eine Großaufnahme von mir. Bei genauerem Betrachten erkannte ich den Ort, an dem es entstanden war. Ich stand neben meinem Auto auf dem Parkplatz vor der Sporthalle, in der Christopher und ich uns jede Woche trafen. Den Klamotten nach, die ich trug, musste das Bild dieses Jahr und bei noch etwas wärmeren Temperaturen geknipst worden sein.

»Wo ... wo ... woher hast du das?«, presste ich mühsam hervor, da ich schockiert war, dass er im Besitz eines aktuellen Fotos von mir war.

»Dad hat es mir gegeben«, antwortete Riley zwischen zwei Bissen. Er hatte das Gebäck schon halb aufgegessen und nippte zwischendurch immer wieder an seinem Tee.

»Wann?« Mir lief es eiskalt den Rücken herunter, und das nicht, weil ich fror. Dieses Bild war der Beweis, dass Edward mich aus der Ferne beobachtet hatte. War ich ihm vielleicht doch nicht so egal gewesen?

»Bevor die Frau zu Dad kam. Sie haben sich ganz laut gestritten und ihm ging es plötzlich total schlecht. Dann kamen Männer mit gelben Jacken und die haben Dad mitgenommen.«

Mir stockte kurzzeitig der Atem. Als ich meine Sprache wiederfand, fixierte ich Riley voller Neugier. »Kannst du mir sagen, was genau passiert ist? Warum hat ... D... Dad dir das gegeben?« Es fiel mir schwer, das Wort über die Lippen zu bringen, doch gegenüber dem Jungen fand ich es angebracht.

Riley blickte mich mit schiefgelegtem Kopf an. Er ging dazu über, mich erneut interessiert in Augenschein zu nehmen.

»Kannst du dich daran erinnern? Weißt du, wer die Frau war?«, hakte ich beunruhigt nach. Ich hegte zwar einen Verdacht, aber ich hätte ihn gerne bestätigt gewusst.

»Ich weiß nicht, wie sie heißt. Sie ist aber oft da. Immer will sie Geld von Dad«, meinte er leise.

»Geld? Weißt du warum? Oder welche Haarfarbe hat sie? Ist sie schon älter und trägt ein widerliches Parfüm an sich?«

Mein kleiner Bruder nickte. »Ja. Sie schreit immer rum. Dad hat gesagt, dass sie einmal seine Frau war. Ich mag sie nicht.«

Verdammt! Es war Rose gewesen. Schon bei der bloßen Vorstellung, dass sie hier ein und aus gegangen war wie es ihr beliebte, stieg Wut in mir hoch. Dass beide lautstark aneinandergeraten waren, war für mich nicht fremd. Das kannte ich aus meiner Jugendzeit. War das der Auslöser von Edwards Zusammenbruch gewesen? Trug sie tatsächlich Schuld an seinem Tod?

Ich wollte nun absolute Gewissheit. »Kannst du mir sagen, wann genau das war?«

Riley dachte nach. »Vor einer Woche.«

Das war die Bestätigung, die ich zwar erwartet, dennoch nicht gewünscht hatte. Ich konnte mir denken, dass Rose wieder knapp bei Kasse gewesen war und meinen Vater um Geld angepumpt hatte. Das war nichts Neues.

»Du bist Sean, mein Bruder«, platzte Riley unerwartet heraus und riss mich aus meinen Überlegungen. Mit der Hand zeigte er auf das Foto vor mir. »Dad hat mir alles von dir erzählt. Du hast eine andere Mum als ich, die schon tot ist. Er hat auch gesagt, dass du auf mich aufpasst, wenn er weg ist. Wo ist Dad? Wann kommt er wieder?«

Bass erstaunt starrte ich ihn an. Ich schloss einen Moment die Augen und holte tief Luft. Als ich sie wieder öffnete, raste mein Puls. Stumm saß ich da und begann nervös die Finger zu kneten. War das der Augenblick, um ihm die Wahrheit zu offenbaren? Würde er verstehen, was die neuen Umstände für ihn bedeuteten? Doch was sollte ich sagen? Wie konnte ich es ihm erklären? Ich hatte ja noch nicht einmal selbst das große Ganze verarbeitet.

»Hör zu! Ich muss dir etwas Wichtiges sagen«, hörte ich mich wie aus weiter Ferne reden. Vorsichtig rückte ich ein weniger näher an Riley heran. Zum Glück ließ er meine Nähe zu. »Dad war schwer krank. Schwerer als du gerade. Er hatte Probleme mit dem Herz. Es war sehr schwach. Verstehst du?«

Riley reagierte nicht, doch er wirkte plötzlich sehr angespannt. Behutsam wanderte meine Hand zu seiner und er erlaubte mir, dass ich sie ergriff und drückte.

»Als er vor ein paar Tagen ins Krankenhaus kam, konnten die Ärzte leider nichts mehr tun«, fuhr ich mit belegter Stimmlage fort. Riley zitterte und seine Augen wurden glasig. Er ahnte wohl bereits, was ich sagen würde. »Unser ... unser ... V... Vater ... er ist tot. Sein Herz ist stehen geblieben und ...«

Ehe ich den Satz beenden konnte, schrie Riley schmerzerfüllt auf und brach wie ein Häuflein Elend zusammen. Er begann bitterlich zu schluchzen. Eilig zog ich ihn in meine Arme. »Ja, weine ruhig. Lass alles heraus«, flüsterte ich tröstend und streichelte ihm sanft über den Rücken. »Ich bin für dich da. Du bist nicht allein. Ich werde mich ab jetzt um dich kümmern. Du bist mein kleiner Bruder und ich passe auf dich auf, wie Dad es gesagt hat. Du brauchst also keine Angst zu haben.«

Schließlich versagte mir die Stimme und ich spürte eine einzelne Träne über meine Wange rollen. Ich weinte nicht um Edward. Ich weinte, weil mein kleiner Bruder den einzigen Menschen verloren hatte, dem er bedingungslos vertraut hatte.