Kapitel Zehn

* * * * *

 

Es war so weit. Der Sarg meines Vaters wurde in die Erde hinabgelassen. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend schaute ich zu und verspürte eine Gänsehaut. Ich empfand keine Trauer, dennoch war ich mir deutlich bewusst, dass dies das unabänderliche Ende eines Lebens war. Von nun an hatte ich nur noch meine Brüder und Thomas. Mehr war von meiner Familie nicht übriggeblieben. Ich war meinem Vater zwar nichts schuldig, trotzdem hatte ich dafür gesorgt, dass er seine letzte Ruhe neben meiner Mutter fand. Es fühlte sich richtig an. Womöglich war das der erste Schritt, um ihm in fernen Zukunft doch noch alles zu verzeihen.

Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Riley, der wie ein Häufchen Elend neben mir stand und leise schluchzte. Tyler hatte seinen Arm um die Schultern unseres Bruders gelegt und gab ihm damit den notwendigen Halt, den er momentan benötigte.

Ich wunderte mich immer noch, wie viele Menschen zu Edward Ashtons Beerdigung gekommen waren. Insbesondere, da ich das Begräbnis nirgendwo bekanntgegeben hatte. Bis auf meine besten Freunde, Jamie und Thomas kannte ich niemanden.

Ich lauschte den Worten des Priesters, die wie aus weiter Ferne zu mir drangen, und tauchte erneut in Gedanken ab. Die vergangene Nacht hatte ich kaum geschlafen, was nicht daran lag, dass ich mich mit Jamie körperlich verausgabt hatte. Während er seelenruhig geschlummert hatte, war ich mit ein paar Gläsern Scotch am Küchentisch über dem Sanierungs- und Umbauplan des Clubs gesessen und hatte ihn eingehend studiert. Tyler und Jamie drängten mich, das Projekt unbedingt in Angriff zu nehmen, doch noch stellte ich mir meine Zukunft anders vor. Geld spielte dabei keine Rolle. Edward hatte mir mehr als genug hinterlassen, um sowohl den Club als auch die Villa sanieren zu können. Das Herrenhaus meiner Mutter umzubauen und dort einzuziehen reizte mich schon eher. Ich schob die Fantasien rasch beiseite. Dafür war hier und jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. An erster Stelle stand Riley.

Ich legte ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Sein dankbarer Blick berührte mich tief und wir lauschten gemeinsam den Worten des Priesters. Bis er mich schließlich als Erster bat, vorzutreten und mich nach Tradition still vom Verstorbenen zu verabschieden. Zusammen mit Riley stand ich am Rand des Grabes und sah hinunter in die Dunkelheit des Erdreiches. Nun war mein Vater wieder mit meiner Mutter vereint. Das sein Körper neben ihr ruhte, beruhigte mich innerlich ein wenig. Ich nahm zwei der bereitgelegten gelben Rosen und reichte meinem Bruder eine davon. Im Vorfeld hatten wir besprochen, was er tun musste. Nacheinander warfen wir sie in die Tiefe. Mit rotgeschwollenen Augen sah er mich an und ich wischte ihm mit dem Daumen sanft die Tränen von der Wange. Ihm fiel dieser Abschied am schwersten.

Schweigend nahm ich ihn an der Hand. Tyler und Thomas traten vor. Mein Onkel schniefte verstohlen. Jamie war der Nächste und selbst er war sichtlich ergriffen. Immer mehr Fremde kamen auf uns zu und sprachen ihr Beileid aus. Ich ließ es über mich ergehen, doch mein Hauptaugenmerk lag auf meinem jüngsten Bruder. Riley verkroch sich schon fast in der neuen schwarzen Steppjacke, die ich ihm gestern gekauft hatte. Tyler und Jamie nahmen ihn unauffällig in die Mitte und er atmete erleichtert auf.

Als die Menschenschlange endlich ein Ende gefunden hatte, blickte ich mich unauffällig um. Ich war froh, dass die Zeremonie ohne Zwischenfälle vonstattengegangen war. Vor allem war ich dankbar, dass Rose nicht darauf bestanden hatte, bei uns in der ersten Reihe zu stehen. Doch plötzlich hielt ich vor Schreck den Atem an und trat einen großen Schritt zurück. Dabei hätte ich Riley beinahe umgestoßen. Er blickte in die gleiche Richtung wie ich und zitterte aus heiterem Himmel am ganzen Leib wie Espenlaub. Rasch versuchte er, sich hinter mir zu verbergen.

Rose stöckelte hochnäsig auf uns zu. Sie trug ein enges schwarzes Kleid mit Hut und stolzierte auf ihren hochhackigen Schuhen und einem Strauß weißer Rosen im Arm langsam in unsere Richtung. Dabei ließ sie die Hüften schwingen, sodass ich mich fragte, ob sie sich überhaupt bewusst war, wo sie sich befand. Sie bedachte mich mit einem Hohnlächeln. Augenblicklich loderte der Hass in mir auf. Mir kam der Gedanke, dass sie das Sinnbild einer Schwarzen Witwe darstellte. Darüber hinaus erinnerte ich mich an Rileys Worte zurück. Von ihm hatte ich erfahren, dass meine Stiefmutter wohl wesentlich dazu beigetragen hatte, dass mein Vater mit einem schweren Herzanfall im Krankenhaus gelandet war. Instinktiv ballte ich die Hände zu Fäusten.

»Heilige Scheiße!«, hörte ich Thomas hinter mir entsetzt flüstern.

»Was ist los? Angst vor Rose?«, erkundigte ich mich leise über die Schulter hinweg und starrte sie unentwegt an.

»Nicht vor ihr, aber vor ihm.«

Erst jetzt fiel mir ein Typ mittleren Alters an ihrer Seite auf. Mit seinem aalglatten, scheinheiligen Lächeln rief er bei mir bereits aus der Entfernung eine unangenehme Vorahnung herauf. Seine grauen Haare hatte er sorgfältig zurückgegelt, was ihm ein verruchtes Aussehen verlieh.

»Wer ist das?«, wollte ich wissen.

»Luther!«, hauchte Thomas mir zu.

Entsetzt sog ich die Luft ein und mein Herz raste, während sich Tyler mit grimmiger Miene neben mir positionierte. Unbewusst schirmten wir damit Riley vor Blicken ab. Das war also der perverse Hurensohn, der meinen kleinen Bruder jahrelang gequält und missbraucht hatte! Meine Abscheu gegen Rose war in diesem Moment nur ein winziger Funke gegen die abgrundtiefe Feindseligkeit, die Luthers unerwartetes Erscheinen in mir auslöste. Vor meinem geistigen Auge fielen mir wieder all die Dinge ein, die mir mein Vater und Thomas in Bezug auf diesen Mistkerl mitgeteilt hatten. Außerdem kannte ich die Narben an Rileys Körper. Obwohl ich gegen Gewalt war, hätte ich ihm am liebsten meine Fäuste schmecken lassen. Doch am Grab meiner Eltern wollte ich keine Szene machen, also versuchte ich mich, so gut es ging zusammenzureißen. Der Friedhof war der falsche Ort und die falsche Zeit dafür. Ihr bloßes Erscheinen war ohnehin schon abscheulich genug.

»Bring Riley in Sicherheit«, zischte ich meinem Onkel zu. Ohne weiter auf die beiden zu achten, blickte ich der Gefahr entgegen. Zugleich ärgerte ich mich, denn ich hatte meine Freunde Christopher und Lian schon vorausgeschickt. Sie warteten auf mich vor der Wohnung. Vor allem Christopher wünschte ich mir jetzt zurück.

»Sean, wir gehen voraus und warten im Auto auf euch«, sagte mein Onkel extra laut.

Ich nickte und wagte nur einen flüchtigen Blick in ihre Richtung. Thomas hatte Riley vorsorglich die Kapuze über den Kopf gezogen und einen Arm um seine Schulter gelegt. Raschen Schrittes gingen sie auf den Parkplatz zu. »Ist gut. Wir kommen gleich nach«, rief ich hinterher.

Rose und Luther blieben vor uns stehen. Mit einem miesen Bauchgefühl bemerkte ich, wie Luther meinem Bruder und Onkel hinterher sah. Ich konnte nur hoffen, dass er Riley nicht erkannt hatte.

»Was willst du hier? Du bist unerwünscht!«, giftete Tyler seine ungeliebte Mutter an und baute sich mit verschränkten Armen vor ihr auf.

Rose ließ sich davon nicht beeindrucken und blickte süffisant lächelnd auf ihn herab. »Mein Mann wurde beerdigt. Dann darf ich ja wohl in würdevoller Trauer Abschied nehmen.«

Schon bei ihrem näselnden Tonfall lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Doch meine Konzentration galt vorrangig Luther Mitchell. Warum um alles in der Welt kam sie in seiner Begleitung? Was hatte sie mit ihm zu schaffen? Und was mich am meisten interessierte, war: Was hatten die beiden vor?

»Ex-Mann. Ihr zwei wurdet vor Jahren geschieden! Du erhoffst dir doch nur, dass für dich etwas vom Kuchen abfällt. Das kannst du vergessen. Sieh’s ein, deine Geldquelle ist versiegt!«, hielt Tyler verärgert dagegen. Ich konnte ihn nur zu gut verstehen.

Beruhigend packte ich meinen Bruder am Arm, wobei ich selbst um meine Fassung rang. »Wenn ihr euch zerfleischen wollt, dann macht das gefälligst woanders. Das ist immer noch ein Friedhof!«

»Wo er recht hat, hat er recht«, erklang Luthers sanft tönende tiefe Stimme und er streckte mir überheblich lächelnd die Hand entgegen. Jede Faser meines Körpers gebot mir, mit äußerster Vorsicht zu agieren. Vor mir stand ein Mann ohne Gewissen. Der Gedanke verstärkte zugleich den unfassbaren Hass, den er in mir ausgelöst hatte.

Reserviert nahm ich die Hand wahr, war jedoch nicht bereit, ihm die meine zu reichen. Stattdessen blickte ich mit ernster Miene in seine hellen Augen. Sie versprühten Arroganz und Überlegenheit. Beides Merkmale, die meine Sinne umso mehr schärften. Ich verschränkte ablehnend die Arme.

Luther schenkte mir ein blasiertes Grinsen und zog seine Hand langsam wieder zurück.

Mit eiskaltem Ton wandte ich mich an Rose. »Was tut er hier? Soweit ich weiß, gehört er nicht zu Edwards engstem Bekanntenkreis.«

»Aber wir waren gute Geschäftspartner«, antwortete Luther an ihrer Stelle.

»Konkurrenz trifft es wohl eher«, verbesserte ich ihn scharfzüngig.

»Oh! Wie ich sehe, bist du bereits im Bilde. Dann können wir ja gleich zum geschäftlichen Teil übergehen.« Er unterstrich seine Worte erneut mit einem selbstgefälligen Gesichtsausdruck.

In diesem Moment platzte mir der Kragen. Ich stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn wütend an. »Was für eine Unverfrorenheit! Mein Vater ist noch nicht einmal richtig unter der Erde.«

»Wer im Business Zeit verstreichen lässt, dem gehen die besten Geschäfte durch die Lappen. Das solltest du als Finanzberater am besten wissen. Daher komme ich sofort zum Punkt. Ich habe großes Interesse am Black Desire. Ich bin bereit dir zwei Millionen Pfund dafür zu zahlen. Cash auf die Hand.«

Fassungslos glaubte ich, mich verhört zu haben. Plötzlich war es mir egal, dass ich mich auf einem Friedhof befand. Das Angebot war dermaßen niedrig, dass ich lauthals zu lachen begann. Pikiert starrte mich Luther an.

»Ganz sicher nicht! Selbst dann nicht, wenn Sie mir den zehnfachen Preis dafür bieten würden.« Ich schüttelte vehement den Kopf und die nächsten Worte platzten aus mir heraus, ohne darüber nachgedacht zu haben. »Das Black Desire steht nicht zum Verkauf! Es wird schon bald wieder neu eröffnet! Da es von meiner Seite aus nichts weiter zu bereden gibt, verabschiede ich mich hiermit.«

Aus den Augenwinkeln registrierte ich Tylers erfreutes Grinsen, dass sich bei dem Blick zu Rose und Luther unverzüglich wieder verdunkelte. »Ihr habt meinen Bruder gehört. Macht gefälligst den Abflug! Am besten direkt zum Mars ohne Rückfahrschein. Das dreckige Geld kann sich der Hurensohn sonst wo hinstecken!«

»Tyler! Wie redest du mit deinem Vater!«, blaffte meine Stiefmutter zurück und hängte sich bei Luther ein.

»M... m... meinem ... was?«, stammelte Tyler völlig überrumpelt und suchte Halt an meiner Schulter.

»Du hast richtig gehört. Dieser wunderbare Mann ist dein leiblicher Vater!« Rose schien bei der Aussage absolut zufrieden mit sich. »Nimm es ihm bitte nicht übel, Darling«, säuselte sie in Luthers Richtung und küsste ihn auch noch auf die Wange. »Ich weiß, ich hatte dir versprochen es ihm viel früher zu sagen, aber mein Sohn redet ja nicht mit mir.«

Luther nickte. »Deinem Blick kann ich entnehmen, dass du uns nicht glaubst. Ich bin ich gerne bereit, einen Vaterschaftstest durchführen zu lassen. Vielleicht können wir uns ein anderes Mal näher kennenlernen. Allein. Unter vier Augen. Und Sean, wir beide werden uns bald wiedersehen.«

Ich war froh, dass ich mich bereits weggedreht hatte, sodass Luther meine entgleisten Gesichtszüge nicht sehen konnte. Die überraschende Neuigkeit und die unterschwellige Drohung seitens dieses Mannes verschlug mir die Sprache. Ich ballte heimlich die Hände zu Fäusten, während ich versuchte, meinen Atem flach zu halten. Mein Herz hämmerte wie wild in der Brust.

Rose trat an meine Seite und warf den Strauß Rosen gleichgültig ins offene Grab. Dann drehte sie sich ohne weitere Worte um und spazierte mit ihrem Begleiter in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren.

»Verdammte Scheiße!«, hörte ich Jamie sagen und zuckte zusammen. Er trat hinter einem mannshohen Grabstein hervor. An ihn hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht.

»Du hast alles mitbekommen?«, fragte ich ihn tonlos.

Jamie nickte und wirkte blass um die Nase. Auch Tyler hatte sämtliche Farbe im Gesicht verloren. Er starrte geschockt in das Erdloch und ich spürte, dass er sich gerade noch so auf den Beinen halten konnte.

Seufzend nahm ich Tyler in den Arm und drückte ihn fest an mich. Mir fielen keine tröstenden Worte ein, die ich ihm hätte sagen können. Ich hatte selbst mit der Neuigkeit zu kämpfen. Daher entschied ich, dass wir erst einmal zum Auto zurückkehren sollten. Gemeinsam mit Jamie flankierte ich meinen immer noch schockierten Bruder und führte ihn schweigend zum Parkplatz, auf dem mein Onkel mit Riley ungeduldig wartete.

 

*

 

»Scheiße! Scheiße! Scheiße!«, fluchte Tyler leise vor sich hin und starrte Löcher in den Couchtisch vor sich. »Wieso? Warum ausgerechnet er? Das darf alles einfach nicht wahr sein!« So verzweifelt kannte ich meinen Bruder nicht.

Riley hatte sich an ihn gekuschelt, um ihn und auch sich Halt zu geben. Doch beide hatten sehr mit der Begegnung mit Luther Mitchell zu kämpfen. Riley, weil er auf seinen früheren Peiniger getroffen war. Tyler, weil er nicht glauben konnte, dass er die Gene dieses Monsters geerbt haben sollte. Beide taten mir schrecklich leid.

»Sean?«, sagte Tyler schließlich und blickte mich zum ersten Mal an, seitdem wir in meiner Wohnung angekommen waren.

Ich saß mit einem Glas Scotch in der Hand auf der Lehne des Sessels, in dem Jamie Platz genommen hatte. »Du musst dich echt beruhigen. Denk nicht so viel darüber nach.«

»Sean?«, kam es ein weiteres Mal. »Könntest du mich nicht einfach adoptieren?«

Beinahe hätte ich mich am Inhalt meines Glases verschluckt und hustete. Kurz darauf krächzte ich: »Ist jetzt nicht dein Ernst?«

»Sean muss dich nicht adoptieren«, sagte mein Onkel in beruhigendem Tonfall. Er saß ihm im zweiten Sessel gegenüber und nippte an einer Tasse Kaffee, die ich für ihn zubereitet hatte. »Du bist volljährig und kannst tun und lassen, was du möchtest. Ob er dein leiblicher Vater ist oder nicht. Du kannst dein Leben leben, wie du es willst. Außerdem trägst du Edwards Nachnamen. Er hat dich als sein Kind anerkannt, obwohl er gewusst hatte, dass du nicht sein leiblicher Sohn bist. So stehen dir alle Rechte eines leiblichen Kindes zu.«

»Das macht das Ganze nicht besser, denn ein Vater war er trotzdem nie für mich«, grollte Tyler trotzig zurück.

»Wo ist denn mein frecher, vorlauter Bruder abgeblieben, den nie etwas erschüttert?«, fragte ich ihn und stand auf. »Vergiss dieses Arschloch einfach. Du bist und bleibst Tyler Ashton. Du bist mein Bruder und wirst es immer sein. Mehr zählt nicht!« Ich ging zu ihm und boxte ihm kameradschaftlich an die Schulter.

»Da hörst du es«, bekräftigte Christopher meine Worte. Er und Lian saßen jeweils auf einem der Stühle, die ich um den Couchtisch herum platziert hatte. Bis jetzt hatten sie sich alles wortlos angehört und ihren Kaffee getrunken. »Er hat die Bombe nur platzen lassen, um dich zu verunsichern. Solche Typen kenne ich zu genüge.«

»Da stimme ich Christopher zu«, kam es von Lian und er fuhr sich nervös mit seinen Händen übers dunkle Gesicht. »Du bist ihm gegenüber zu nichts verpflichtet. Aber es war schon extrem unverfroren, dass er es überhaupt gewagt hat, dort aufzukreuzen.«

Tyler seufzte mitleiderregend, erhob sich und schnappte sich mein halbvolles Glas, das er in einem Zug hinunterkippte. Danach füllte er es sich nach. In der Zwischenzeit tauschte ich mit ihm den Platz neben Riley. Ich nahm seine immer noch leicht zitternde Hand in meine und bettete seinen Kopf an meine Brust. Dankbar schlang er die Arme um mich und kuschelte sich eng an mich. Fürsorglich strich ich ihm mit der anderen Hand über den Kopf. Er hatte am meisten bei dem unerwarteten Treffen gelitten. Hinzu kam, dass sich zu viele Menschen auf einmal im Raum aufhielten.

»Ihr solltet trotzdem vorsichtig sein. Du und Tyler«, bedeutete Christopher und warf mir einen ernsten Blick zu. »Es waren nur Worte, aber was ich von euch erfahren habe, gefällt mir nicht. Mir ist nicht ganz wohl dabei. Morgen werde ich mich auf dem Revier mal schlaumachen. Wenn er aktenkundig ist, finde ich auch etwas heraus und teile es dir mit.«

Thomas nickte ihm anerkennend zu. »Das ist eine gute Idee. Ich kann Ihnen auch gerne die Unterlagen zukommen lassen, die mein privater Ermittler zusammengetragen hat.«

»Warum nicht. Hier ist meine Karte.« Christopher zog aus seiner Geldbörse seine Visitenkarte hervor und reichte sie an meinen Onkel weiter.

Thomas sah zuerst meinen Freund und anschließend mich lächelnd an. »Du hättest mir früher sagen können, dass er beim Scotland Yard arbeitet.«

Ich zuckte lediglich mit den Schultern und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass mein jüngster Bruder die Augen geschlossen hatte. Sein Atem kam ruhig und gleichmäßig. Trotz der Aufregung fühlte er sich in meiner Nähe sicher. Dass er sich auf mich verlassen konnte, bewies ich ihm bei jeder Gelegenheit. Zufrieden lenkte ich mein Augenmerk wieder auf Tyler, den ich besorgt beobachtete. Er hatte sich mit nachgefülltem Glas und der Flasche Scotch an den Küchentisch gehockt und starrte nachdenklich auf den ausgebreiteten Bauplan, der dort noch immer lag.

»Hast du das mit dem Club eigentlich ernst gemeint? Das du nicht verkaufen willst und ihn neu eröffnest?«, erkundigte er sich neugierig und drehte sich in meine Richtung. Sein Gesicht hatte wieder etwas Farbe angenommen. Dafür machte ich jedoch den Alkohol verantwortlich. Doch auch ein flüchtiges Lächeln glaubte ich zu erkennen. So gefiel mir mein Bruder schon besser.

Nach dieser Frage spürte ich fünf wissbegierige Augenpaare auf mir ruhen. In aller Gelassenheit löste ich Rileys Arme, die er immer noch um mich geschlungen hatte, und legte ihn vorsichtig auf die Couch. Er war tatsächlich in der kurzen Zeit eingeschlafen. Als ich zu Tyler hinüberkam, erwiderte ich jeden einzelnen Blick der Reihe nach mit einem feierlichen Ausdruck. Ich gab es nicht gerne zu, aber die kurze Begegnung mit Luther hatte mir eines vor Augen geführt und das sprach ich nun laut aus: »Ich würde meines Lebens nicht mehr froh werden, wenn ich mit der Schließung des Black Desires weitere Jungs in Luthers Arme treiben würde. Das kann und will ich nicht mit meinem guten Gewissen vereinbaren. Das heißt im Klartext ... ich werde diesem aufgeblasenen, widerwärtigen, skrupellosen Hurensohn nicht kampflos das Feld überlassen.«

Für einen Moment herrschte Totenstille. Plötzlich sprang Jamie begeistert auf und wollte auf mich losstürmen. Ich brachte ihn aber mit einer ernsten Miene davon ab. »Sei leise. Nicht dass du Riley aufweckst.«

Betreten ließ er sich zurück auf seinen Hintern plumpsen. »Sorry. Wirst du wirklich den Club übernehmen?«, sagte er mit gedämpfter Stimme und einem breiten Grinsen.

»Ist das auch kein Witz?«, hakte Tyler leise nach und seine deprimierte Miene verwandelte sich binnen eines Sekundenbruchteils in ein vor Freude überschäumendes Gesicht.

Ich nickte und spürte mein heftig schlagendes Herz sehr deutlich. Noch hatte ich nur eine vage Vorstellung davon, was als künftiger Besitzer eines Men’s Clubs auf mich zukommen würde. Doch ich war plötzlich voll und ganz der Überzeugung, dass ich Luther zeigen wollte, dass ich ihm mehr als gewachsen war.

Nun erhoben sich meine besten Freunde, die gemeinsam mit meinem Onkel und Jamie zum Küchentisch kamen. Sie unterhielten sich im Flüsterton, damit niemand Riley störte. Ich war ihnen dafür sehr dankbar.

»Bist du dir aber auch im Klaren, dass du damit in den Fokus von Luther rückst«, stellte Christopher klar. Ich bemerkte, dass er zwiegespalten von meiner Idee war. »Mach dich darauf gefasst, dass er deine Entscheidung nicht kommentarlos hinnehmen wird.«

Ich zündete mir genüsslich eine Zigarette an und lehnte mich gegen die Arbeitsplatte.

»Sag mal, muss das sein? Da ist ein Kind in der Wohnung! Kannst du nicht draußen rauchen?«, belehrte mich Thomas plötzlich und beinahe wäre mir die Zigarette auf den Boden gefallen.

»Hör auf deinen Onkel.« Lian schüttelte missbilligend den Kopf.

Im ersten Moment irritiert, lächelte ich sodann und drückte sie im Aschenbecher aus. Thomas hatte recht und ich wollte schon vor längere Zeit meine lästige Gewohnheit auf den Balkon verlegen. Jetzt hatte ich den passenden Grund dazu gefunden. Nickend gab ich ihm recht und nahm meinen Faden wieder auf.

»Ich bin mir darüber sehr wohl bewusst. Ich bin aber auch in geschäftlichen Dingen kein Neuling. Luther wird noch merken, dass er mich unterschätzt hat. Nur um Riley mache ich mir Sorgen.« Seufzend wanderte mein Blick zu meinem Bruder, der seelenruhig schlief. »Am liebsten würde ich ihm einen Mikrochip einpflanzen, damit ich immer weiß, wo er sich aufhält.«

»Beruhige dich. Ich bin mir zu einhundert Prozent sicher, dass er den Jungen nicht erkannt hat«, versuchte mein Onkel mich zu beschwichtigen und legte mir eine Hand auf die Schulter.

Jamie kam näher, flüsterte aber dennoch. »Da stimme ich Ihnen zu. Er hat zwar mich nicht gesehen, aber ich habe ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen. Er war vielleicht neugierig und hat euch hinterhergeblickt, aber das war’s auch schon. Seine volle Aufmerksamkeit galt euch beiden.«

»Hoffentlich«, antwortete ich skeptisch, denn sicher war ich mir dennoch nicht. Besorgt schaute ich wieder zu Riley hinüber. »Ich hätte es ja nie gedacht, dass ich mal mit meinem Vater einer Meinung sein würde, aber wisst ihr was. Der Kleine ist wirklich ein Engel.« Ich lachte leise auf. »Edwards Engel. Aber nun ist er bereits zu meinem geworden. Es würde mich umbringen, wenn ihm etwas zustößt.«

»Ich könnte vielleicht eine Art Mikrochip für ihn besorgen«, erklärte Christopher aus heiterem Himmel und lächelte breit. »Es gibt ein paar ganz besondere Schmuckstücke, die gerne bei Undercovereinsätzen genutzt werden. Ich bringe dir einfach eines davon vorbei. Mit meinem Chef kriege ich das schon geregelt.«

Interessiert wollte ich mehr darüber erfahren, doch Christopher hielt sich bedeckt. Er und Lian konnten auch nicht länger bleiben und verabschiedeten sich schließlich. Sodann war es mein Onkel, der mir und Tyler die Originalpapiere der Villa und weiteren Papierkram vorlegte.

»Die Vormundschaftsurkunde von Riley behalte ich. Du Sean, bekommst aber von mir die volle Fürsorgepflicht für ihn übertragen«, erklärte er und zückte einen Kugelschreiber aus seiner Aktentasche hervor. »Ich habe bereits alles vorbereitet. Mit euren Unterschriften wird alles legitim und den Rest übernehme ich. Ich gebe euch auf jeden Fall Bescheid, sobald alles fertig ist. Denn das Finanzamt wird sich auch noch melden. Anschließend kann jeder von euch ... Riley eingeschlossen, für den ich jedoch weiterhin unterschreiben muss ... über das verfügen, was Edward euch hinterlassen hat.«

»Danach ist alles fix?«, erkundigte ich mich und schluckte einen heranwachsenden Kloß im Hals herunter. Hier ging es um eine Menge Geld.

»Du hast dir alles durchgelesen, was ich dir gegeben hatte?«

Ich nickte.

»Gut. Das hier sind die Originale. Ihr müsst nur unterschreiben.« Thomas hielt mir den Kugelschreiber entgegen.

»Dann kann die Sanierung des Clubs stattfinden?«, hakte Tyler nach und klaute mir den Stift aus der Hand.

»Wenn dein Bruder es wirklich tun will, dann ja. Ich habe zwar mit der Szene überhaupt nichts am Hut, doch ich könnte mir denken, dass es wirklich eine gute Idee ist. Die leider viel zu kurzen Wochen vor Edwards Tod bekam ich hier und da schon so einiges mit, was er für die Jungs getan hat. Auf alle Fälle die bessere Alternative als der Straßenstrich.« Er blickte flüchtig über die Schulter zu Jamie. In einem längeren Telefonat hatte ich ihm erzählt, was ich von Jamie über meinen Vater und den Club erfahren hatte.

Ohne ein weiteres Wort setzte Tyler seine notwendigen Unterschriften auf die Dokumente, die Thomas ihm gab. Anschließend war ich an der Reihe. Es war ein wohltuendes und zugleich auch beklemmendes Gefühl. Heute hatte ich nicht nur meinen Vater beerdigt, sondern mich gleichzeitig zu Edward Ashtons wahren Nachfolger ernannt. Ich hoffte nur, dass ich meinen Mut nicht schon bald bereuen würde.

Nachdem alles erledigt war, verabschiedeten sich auch Thomas und Tyler. Mein Bruder war wieder ganz der alte, was mich besonders freute. Mit meinem Onkel vereinbarte ich jedoch vor seinem Gehen, dass wir ihn, sobald wie möglich besuchen kommen würden. Zum einen wollte ich seine Frau gerne kennenlernen und zum anderen hatten wir vereinbart, dass wir uns nicht mehr aus den Augen verlieren wollten. Wir waren noch die einzige übriggebliebene Familie.

Kurz darauf war ich mit Jamie und meinem schlafenden Bruder allein. Während mein Mitbewohner das Geschirr wegräumte, nutzte ich die Zeit, um Riley vorsichtig ins Bett zu verfrachten. Stolz überkam mich, als ich ihn betrachtete. Er hatte es innerhalb weniger Tage geschafft, mein Herz für sich zu gewinnen. Er war mein Bruder und er war wahrlich ein Engel. Behutsam strich ich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht und deckte ihn zu. Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, winkte mich Jamie zu sich aufs Sofa. Mit einem Grinsen streckte er mir ein Glas Scotch entgegen.

»Ich war so frei und habe mich bedient. Aber jetzt raus mit der Sprache ... ziehst du es wirklich durch?« Er schielte dabei auf die Unterlagen, die Thomas mir dagelassen hatten und die immer noch auf dem Küchentisch lagen.

Lächelnd nahm ich ihm gegenüber Platz und wir prosteten uns zu. »Und ob! Es hängt von dir ab.«

Jamie riss die Augen auf. »Von mir? Wieso denn das? Ich dachte, du willst nicht, dass ich meinen Arsch hinhalte und jetzt fragst mich?«

»Quatsch! Ich möchte nicht deinen süßen Hintern. Jedenfalls nicht für den Club«, wiegelte ich lachend ab.

»Was denn dann? Spuck es schon aus!« Auf einmal wirkte Jamie neugierig. Er warf einen eindeutigen Blick auf meinen Schritt. »Oder willst du die Unterhaltung vielleicht im Schlafzimmer fortsetzen?«

»Heute ausnahmsweise nicht.« Obwohl sein Angebot sehr verlockend war, musste ich ablehnen. Ich machte es mir auf der Couch bequem und schlug die Beine übereinander. »Ich möchte, dass dein kluges Köpfchen für mich arbeitet, und zwar als künftiger Geschäftsführer des Black Desires.«

»Als w... w... was?« Jamies Stimme überschlug sich.

Ich nahm vergnügt einen weiteren Schluck und räusperte mich. »Du hast richtig gehört. Ich habe vor den Club neu zu eröffnen. Aber ich werde deswegen auch nicht meine eigenen Pläne aufgeben. Ich will mich weiterhin selbstständig machen. Das bedeutet, meine Zeit ist begrenzt. Du dagegen brauchst einen vernünftigen Job und kennst dich in dem Metier aus, also, was sagst du dazu?«

Bass erstaunt wechselte er auf meine Seite des Sofas. »Das ist jetzt kein Scherz oder so?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich meine es todernst. Du hast gesagt, du hast deinen Schulabschluss in der Tasche. Zum Studium kam es nicht, weil du abgehauen bist und dir das Geld gefehlt hatte. Aber jetzt überleg mal. Ich würde dir das Studium in Betriebswirtschaftslehre finanzieren. Als Gegenleistung arbeitest du für mich für ein nicht ganz unerhebliches monatliches Gehalt.«

Jamie begriff allmählich, dass ich ihn nicht auf den Arm nahm. »Hast du mir deswegen die überteuerten Klamotten gekauft?«

Ich lächelte breit von einem Ohr zum anderen. »Das war eher Zufall. Aber dich öfter darin zu sehen, würde mir durchaus zusagen.« Ich hob die Hand und fuhr ihm sanft mit dem Finger über die Lippen. »Wir müssten uns zwar absprechen, doch im Großen und Ganzen fühle ich mich wohl bei dem Gedanken dir die Führung zu überlassen.«

»Apropos Führung«, nuschelte Jamie und hauchte mir einen Kuss auf meine Fingerspitzen. Augenblicklich jagte mir ein wohliger Schauder über den Rücken. »Hast du nicht vielleicht doch Lust darauf, das Gespräch ins Bett zu verlegen? Du könntest wieder ein bisschen Entspannung vertragen.«

Als Antwort beugte ich mich zu ihm herüber und verschloss seinen Mund mit einem leidenschaftlichen Kuss. Das Geschäftliche war plötzlich nicht mehr so wichtig und konnte auch bis morgen warten.