Kapitel Elf

* * * * *

 

Verärgert blickte ich auf meine Armbanduhr. Ich musste mich beeilen. Mir blieb noch knapp eine Viertelstunde, um mich mit Jamie im Black Desire zu treffen. Von meinem neuen Büro aus, brauchte ich zu Fuß gute zwanzig Minuten. Rasch zog ich mir den Mantel über und schnappte mir die Aktentasche. An der Tür blieb ich stehen und suchte verzweifelt die Schlüssel, bis mir einfiel, dass ich sie auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen. Grummelnd eilte ich zurück.

»Ich brauche dringend eine Bürohilfe«, nuschelte ich vor mich hin und schloss ab. Dabei überprüfte ich gleich zweimal, ob ich auch die zusätzliche Alarmanlage eingeschaltet hatte.

Vor drei Monaten hatte ich endlich meinen langgehegten Traum eines eigenen Finanzbüros verwirklicht. Der Stress war deswegen jedoch nicht weniger geworden. Im Gegenteil. Ich musste alles selbst erledigen, was bei meinem früheren Chef die Büroangestellten übernommen hatten. Wenigstens war mir ein Großteil meiner Kundschaft gefolgt. Durch positive Mundpropaganda hatte ich inzwischen auch bereits neue dazu gewonnen. Mehr als ein Mal war ich deshalb mit einem Haufen Arbeit spät zu Riley und Jamie nach Hause gekommen und wies mittlerweile ein großes Schlafdefizit vor.

Mit einem hektischen Blick auf die Uhr stürmte ich zum Fahrstuhl, der zum Glück schon auf mich wartete. Während ich ins Erdgeschoss fuhr, trommelte ich nervös mit den Fingerspitzen gegen die Aufzugtür.

»Jetzt mach endlich!«, schimpfte ich. Ich wollte Jamie nicht schon wieder hängen lassen. Es gab noch so viel zu tun und meine permanente Abwesenheit wirkte sich nicht wirklich positiv auf uns beide aus. Oft endete es mit gereizter Stimmung. Ein wenig Entspannung würde uns allen ganz guttun. Als Ausgleich hatten wir uns die nächsten zwei Tage freigenommen. Der Hauptgrund war jedoch Rileys bevorstehender sechzehnter Geburtstag.

Wie auf Kommando klingelte mein Handy und Jamie meldete sich. »Wann kommst du endlich? Der Fliesenleger hat nicht ewig Zeit. Außerdem gibt es noch ein neues Problem, dass ich dringend mit dir besprechen muss, bevor die Elektriker im Barbereich die Leitungen verlegen können.«

Ich atmete tief durch und schloss einen Moment die Augen. »Beruhige dich. Bin auf dem Weg. Den Rest besprechen wir, sobald ich da bin.«

»Gut. Beeil dich.« Jamie beendete den Anruf und ich steckte das Mobiltelefon in die Manteltasche zurück.

Raschen Schrittes trat ich auf den Bürgersteig und schlug die Richtung des Clubs ein. Ich war äußerst dankbar, dass ich die gewerblichen Räume in dessen Nähe gefunden hatte. Noch dazu zu einem günstigen Mietpreis.

Vor sechs Monaten hatten die umfangreichen Sanierungs- und Umbauarbeiten am Black Desire begonnen. Sie gingen gerade in die Endphase und sollten in den nächsten vier Wochen abgeschlossen sein, daher war meine Anwesenheit vor Ort mehrmals die Woche unabdingbar. Heute ging es außerdem um mein künftiges Loft, das als zusätzlicher Aufbau zwischenzeitlich das riesige Dach ausfüllte. Zweihundertfünfzig Quadratmeter Wohnraum vom Feinsten.

Ich war stolz auf Jamie. Das Meiste hatte er allein regeln können. Schon vor der geplanten Neueröffnung hatte er mir eine Menge Arbeit abgenommen und sie zu meiner vollsten Zufriedenheit erledigt. Er besaß wahrlich ein cleveres Köpfchen und ging mit geschäftlichen Dingen geschickt, kompetent und vor allem sehr vertrauenswürdig um. Es kam nur selten vor, dass ich nicht seiner Meinung war. Meine Entscheidung ihn als künftigen Geschäftsführer auszuwählen, hatte ich bis heute nicht bereut. So wie er seine Zusage als Chance ansah, sein Leben endlich vollständig in den Griff zu bekommen und neu anzufangen.

Aus unserer anfänglichen Bekanntschaft hatte sich innerhalb eines halben Jahres eine enge Verbundenheit entwickelt. Wir hatten zwar immer noch Spaß im Bett, doch unsere Gefühle beruhten ausschließlich auf dem Fundament tiefer Freundschaft. An manchen Tagen hatte ich den Eindruck, ich würde ihn mindestens genau so lange kennen wie meine besten Freunde Christopher und Lian.

In Gedanken marschierte ich auf die nächste Straßenbiegung zu, als ich abrupt gestoppt wurde. Ein Junge raste mit Höchstgeschwindigkeit um die Ecke und knallte frontal in mich hinein. Überrumpelt fiel mir die Aktentasche aus der Hand und ich taumelte gegen die Hauswand. Verwirrt schüttelte ich den Kopf und bemerkte, wie sich der Fremde panisch aufrappelte.

»Sorry. War keine Absicht«, nuschelte er, nahm die Beine in die Hand und sauste davon, als würde ihn eine Meute hungriger Wölfe jagen. Während ich meine Tasche aufhob und mir den Mantel richtete, eilten zwei stämmige junge Männer an mir vorbei.

»Er ist da entlang!«, sagte einer der beiden und schlugen sie die gleiche Route wie der Junge ein.

Das Szenario gefiel mir nicht. Würden sie ihn erwischen, hätte er gegen sie kaum eine Chance. Warum auch immer er die Aufmerksamkeit der Muskelprotze auf sich gezogen hatte, es würde sicherlich kein gutes Ende nehmen.

Zwiegespalten schaute ich in die Richtung des Black Desires. Jamie erwartete mich. Aber ich konnte es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, den Kurzen seinem Schicksal zu überlassen. Falls dem Burschen etwas zustoßen würde, könnte ich mir das nie verzeihen. Daher atmete ich tief durch, nahm meinen ganzen Mut zusammen und holte zu den Verfolgern rasch auf, die wild vor sich hin fluchten. Ihrer Laune nach waren sie bereit, jemanden zu Kleinholz zu verarbeiten. Damit war mein Verdacht bestätigt, der Kleine steckte tief in der Scheiße. Leider verlor ich sie an der nächsten Straßenecke kurz aus den Augen, bis ich sie schließlich am Eingang zu einem Hinterhof entdeckte.

Kaum überrascht fand ich den Teenager im Schwitzkasten vor. Er wehrte sich verbissen mit Händen und Füßen, während der andere wütend seine Taschen durchsuchte und ihn anbrüllte.

»Wo ist die verdammte Kohle? Wo hast du sie versteckt? Rück sie raus, oder ich verpfeife dich an die Bullen!«

Ohne zu überlegen, trat ich vor und rief: »Hey, was macht ihr da? Hört auf den Jungen ...«

»Verpiss dich, Alter!«, schmetterte mir einer der beiden entgegen.

»Hau ab! Das geht dich gar nichts an!«, kam es vom anderen.

Unbeeindruckt ging ich auf sie zu, zückte mein Handy und tat als würde ich die Polizei anrufen. Diese Ablenkung nutzte der Kleine, um sich loszureißen und mit einem Affentempo an mir vorbeizuzischen.

»Na klasse, du Spacko! Wegen dir entwischt er uns!«

Die zwei Kerle wollten ihrem Opfer folgen, aber ich stellte mich ihnen in den Weg. Sie würden es nicht wagen, mich anzugreifen. Solche Idioten kannte ich. Sie besaßen lediglich eine große Klappe und legten sich grundsätzlich nur mit Schwächeren an. Abgesehen davon, wusste ich mich durchaus zu wehren. Ihre drohende Fäuste und ihre bösen Mienen beeindruckten mich kein bisschen.

»Was seid ihr für Feiglinge, dass ihr euch an einem Kind vergreift? Wie viel schuldet er euch denn?«, erkundigte ich mich und überraschte beide mit der unerwarteten Frage. In Gedanken hoffte ich, dass der Junge schlau genug war und längst über alle Berge verschwunden war, oder sich wenigstens ein sicheres Versteck gesucht hatte.

Die jungen Männer sahen erst sich und dann mich irritiert an. Senkten jedoch die Arme. »Achtzig Pfund.«

Ich lachte erheitert auf. Seelenruhig griff ich in meine Gesäßtasche und zog den Geldbeutel hervor. »Wegen achtzig Pfund macht ihr so einen Wind?« Ich drückte dem Näherstehenden eine hundert Pfundnote in die Hand. »Geht auf meine Kosten einen Trinken und lasst den Kleinen in Frieden. Und jetzt verschwindet!«

Wortlos schnappte der Größere seinen Kumpel am Arm und zog ihn auf die Straße. Grinsend sah ich ihnen nach. Die Konfrontation war harmloser über die Bühne gegangen als erwartet. Erleichtert wandte auch ich mich vom Hinterhof ab, schließlich wartete Jamie auf mich. Auf dem Bürgersteig blickte ich ein letztes Mal besorgt in alle Richtungen, konnte jedoch von dem jungen Burschen keine Spur entdecken. Er schien tatsächlich das Weite gesucht zu haben.

Auf dem Weg ins Black Desire dachte ich immer wieder an die zufällige Begegnung zurück. Der fremde Teenager erinnerte mich ein wenig an Riley. Ich schätzte ihn in seinem Alter, vielleicht war er auch etwas jünger. Welche Probleme er sich auch eingehandelt hatte, wusste ich nicht, aber ich hoffte, dass sie sich mit meiner Spende in Luft aufgelöst hatten.

Als ich mit über dreißig Minuten Verspätung endlich den Club durch den neu gestalteten Eingangsbereich betrat, drang mir sofort der Geruch von frischer Farbe in die Nase. Dann sah ich auch schon die heutige Arbeit der Maler. Die Wände waren von der Eingangstür bis zur Garderobe vor dem Treppenhaus, in einem schönen Dreiecksmuster in Schwarz und Weiß gestrichen. Zufrieden nickte ich und ging weiter zur Bar, in der zu meiner Überraschung bereits das Mobiliar aufgebaut war. Die runden Sitzecken aus schwarzem Samt harmonierten wunderbar mit den weißen Marmortischen. Auf den Computerskizzen des Innenausstatters hatten sie lange nicht so gut ausgesehen als in natura.

»Vielen Dank fürs Hängenlassen«, blaffte mich Jamie an.

Schuldbewusst drehte ich mich um und sah ihn vom angrenzenden Discobereich in Richtung Bar kommen. Die bunte Deckenbeleuchtung hinter ihm ließ seinen Auftritt wie den eines Superstars wirken.

»Es tut mir echt leid. Aber mir kam eben ein Notfall dazwischen. Wenn ich nicht eingegriffen hätte, wäre es schlimm ausgegangen. Außerdem war es total unfair. Zwei muskelbepackte Hohlbirnen gegen einen schmächtigen Teenager.« Ich legte den Mantel ab und ging hinter den Tresen. Jamie folgte mir. Dort bereitete ich uns mit der nagelneuen Barista Maschine einen Espresso zu und erzählte ihm währenddessen, was passiert war.

»Warum?«, fragte er mich, als ich ihm die Tasse mit dem fertigen schwarzen Kaffee in die Hand drückte.

»Warum was?«

Jamie bedachte mich mit einem skeptischen Blick. »Warum mischst du dich immer in Sachen ein, die dich nichts angehen? Du hast doch schon genug um die Ohren. Ist dir eigentlich klar, dass du dich damit selbst in Gefahr bringst?«

Ich trank den Espresso aus und stellte die Tasse ab. Sodann trat ich dicht an ihn heran und sah ihm tief in die leuchtenden Augen. Anstatt ihm zu antworten, verstrickte ich Jamie in einen leidenschaftlichen Kuss. Augenblicklich flammten die ersten Anzeichen einer wachsenden Erregung in mir auf. Es dauerte länger, bis wir uns voneinander lösten und sich mein Gegenüber anschließend schmunzelnd über die Lippen leckte.

»Du bist wahrlich ein Meister im Themenwechsel. Sollen wir gleich hier in die Horizontale oder willst du lieber vorher in eine Bar?«, säuselte er mir ins Ohr und legte mir seine Hände in den Nacken. »Nur zur Info ... wir sind allein.«

Grinsend wanderten meine Finger zu seinem Hosenbund und ich strich ihm über die leicht erregte Körpermitte. Was ich fühlte, ließ mein Herz vor Vorfreude schneller schlagen. »Wir können auch beides machen«, flüsterte ich heiser und bedeckte seinen Hals mit feuchten Küssen.

Jamie stöhnte lüstern auf und machte eine Antwort damit überflüssig. Ich verschloss seinen Mund wieder mit dem meinen und verstrickte ihn in ein heißblütiges Zungenspiel. Nebenbei öffnete ich ihm die Hose. Langsam glitt meine Hand in seine Boxershorts und meine Finger begannen ohne störenden Stoff seine stetig anschwellende Begierde zu massieren. Zugleich spürte ich auch ihn an meiner Hose herumfummeln, was mich zu einem begehrlichen Aufkeuchen brachten. Nur zu deutlich nahm die aufwallende Hitze von meinem Körper Besitz.

»Wann war dein letzter Gesundheitscheck?«, nuschelte ich und drehte Jamie mit dem Gesicht in Richtung Tresen. Meine Finger stimulierten ihn weiterhin und ich küsste zugleich mehrmals seinen Nacken.

»Scheiß drauf! Ich schlafe eh nur mit dir«, wisperte er erwartungsvoll und zog sich die Hose selbst herunter.

»Und ich mit dir.« Keuchend entledigte ich mich der restlichen Kleidung. Dabei drückte meine Erregung gegen seinen warmen nackten Hintern. Ich konnte es kaum erwarten, diese aphrodisierende Enge zu fühlen. Wenn wir auch noch so viel Stress hatten, wir fanden immer Zeit für eine flotte Nummer.

Verheißungsvoll beugte er sich nach vorne und stützte sich an der Arbeitsplatte ab, um mich in Empfang nehmen zu können. Jamies unmissverständlich laszives Stöhnen heizte mich an. Ich positionierte mich vor seinem Eingang und drang langsam und vorsichtig in ihn ein. Schon empfing mich die unglaublich heiße Enge. Ich zog mich mit einem tiefen Seufzen ein Stück zurück und glitt erneut wieder tief in ihn hinein, bis wir einen Rhythmus fanden, der uns gemeinsam dem Höhepunkt zutrieb und ich mich am Ende mit einem befriedigenden Aufkeuchen in ihm ergoss.

Mein Puls raste und ich atmete hektisch. Ich schloss für einen Moment die Augen und zog mich vollständig aus ihm zurück. Als ich die Lider wieder öffnete, blickte mich Jamie zufrieden lächelnd an. Wir küssten uns ein letztes Mal leidenschaftlich, wobei mir Jamies Hände durch die Haare fuhren.

»Geht’s dir besser? Falls du jemals den Richtigen findest, dann kommt er bei dir voll und ganz auf seine Kosten«, raunte er mir ins Ohr und ließ schließlich von mir ab.

»Ich bezweifele, dass der noch auftaucht«, sagte ich ausgepowert und richtete meine Kleidung.

Jamie zog sich ebenfalls an und nahm sich ein Glas Wasser, das er in einem Zug leerte. Danach schenkte er mir eines ein und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Arbeitsfläche.

»Der läuft dir schon noch über den Weg. Glaub’s mir«, munterte er mich mit einem Augenzwinkern auf. »Können wir jetzt endlich übers Black Desire reden.«

Lächelnd nickte ich, zündete mir eine Zigarette an und hielt Jamie die Schachtel hin. Gemeinsam setzten wir uns an den Tresen.

»Wegen des Lofts. Der Fliesenleger konnte nicht länger warten, also ich habe jetzt selbst entschieden«, sagte Jamie.

»Solange es keine pinkfarbenen Fliesen sind, ist mir alles recht.«

Jamie grinste breit von einem Ohr zum anderen. »Mist aber auch. Gerade die haben mir so gut gefallen. Es wird White Hybrid ... glänzendes helles Beige. Warte es ab, wird dir gefallen.«

»Ich vertraue dir da voll und ganz. Dein Geschmack ist meinem nicht unähnlich. Was hast du vorhin am Telefon mit Elektriker gemeint?« Ich blickte mich neugierig um, konnte aber nichts erkennen.

Jamie winkte ab. »Hat sich schon erledigt. Es gab ein Problem mit den Löchern für die Deckenstrahler. Dort drüben über dem Eingang in den Privatbereich fehlt eindeutig Licht. Das erledigt die Baufirma gleich am Montag. Habe schon einen Termin vereinbart. Damit verzögert sich der Einbau der kompletten Lichtanlage nur um einen Tag.«

Ich klopfte Jamie anerkennend auf die Schulter. »Du bist der Beste. Dann dürfte der Eröffnung nichts mehr im Wege stehen.«

»Falls nichts mehr Gravierendes anfällt, eigentlich nicht. Die oberen Etagen sind so gut wie fertig. Die Möbel fürs Loft werden in zwei Wochen geliefert. Aber weißt du was ...?«, Jamie erhob sich und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Ich hole mir jetzt meine Jacke und wir machen einen Abstecher in Barneys Steakhouse. Ich könnte gerade eine ganze Kuh verdrücken. Und weil du heute zu spät gekommen bist, geht es auf deine Rechnung.«

»Wann geht es nicht auf meine Rechnung?«, antwortete ich lachend. »Ich warte draußen auf dich. Vergiss nicht, das Licht auszuschalten.« Ich schlüpfte in meinen Mantel und schlenderte ins Freie.

Noch immer konnte ich nicht glauben, dass der Club unter meinem Namen bald neu eröffnen würde. In Gedanken wirkte alles surreal, doch als ich mir das Gebäude von Außen so betrachtete, wurde mir allmählich klar, dass es kein Traum war. In dem Bau steckte ein großer Teil meines Erbes, wobei auch Riley etwas seines Geldes beigesteuert hatte. Bis auf den Grundriss hatte sich alles verändert. Künftig würde das Black Desire nicht nur ein Men’s Club sein, sondern in erster Linie ein exklusiver Escort mit zahlreichen Extras. An manchen Tagen kam es mir vor, als würde mich mein Vater aus der Hölle beobachten und mir mit einem schelmischen Grinsen seinen Segen geben.

»Ich bin bereit«, sagte Jamie und riss mich aus den Gedanken. Er verriegelte hinter sich die Tür und schaltete die neu installierte Alarmanlage an. »Von mir aus, kann es losgehen.«

»Wie wäre es mit einer kleinen Planänderung«, platzte ich spontan heraus. »Ich werde zu Hause noch schnell duschen und mir etwas Bequemeres anziehen. Den Rest können wir ja dann beim Essen besprechen und anschließend bei Pete etwas Trinken. Außerdem sollte ich nach Riley sehen. Er ist zwar gerne allein zu Hause, aber ich habe das Gefühl, dass ich ihn in letzter Zeit zu oft vernachlässige.«

»Du machst dir zu viele Sorgen. Morgen wird er sechzehn. Riley ist nicht mehr der total verängstigte Junge wie noch vor einem halben Jahr. Er versteht, dass wir viel um die Ohren haben. Und falls es dich tröstet, ich habe ihn in der Mittagspause besucht. Er lernt fleißig.«

Das beruhigte mich sofort, denn ich hatte ihm neue Schulbücher für den Heimunterricht besorgt. Dennoch hatte ich ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen. »Trotzdem wird es nicht leicht, morgen mit ihm in den Richmond Park zu gehen. Ohne Begleitung geht er doch noch nicht einmal vor die Tür.«

Jamie legte mir beschwichtigend eine Hand auf den Oberarm. »Deswegen wird Henry morgen die große Überraschung. Apropos Hund.« Er lachte plötzlich laut auf und es dauerte, bis er sich wieder soweit beruhigt hatte, um weiterzureden. »Tyler ist mit den Nerven am Ende. Er hat mich vorhin völlig verzweifelt angerufen. Seiner Meinung nach ist Henry kein Hund, sondern ein Biber, der mit Freude seine Möbel anknabbert. Er hat das Sofa auseinandergenommen und er muss wahrscheinlich das komplette Wohnzimmer renovieren.«

Augenblicklich lachte auch ich. Die Vorstellung, dass ein vierzehn Wochen alter Bolonka Zwetna das schöne schwarze Ledersofa bei Tyler ungehindert als Wetzstein für seine Zähne benutzt hatte, war wieder einmal so typisch von meinen Bruder. Mit Hunden hatte er noch nie viel anfangen können. Das war bereits bei meinem Sheltie Tank so.

»Ich habe ihm doch so tolles Spielzeug gekauft«, kicherte ich immer noch. »Ich werde mich aber jetzt beeilen. Bestell mir schon mal ein schönes kühles Bier und das größte Steak, das es gibt.«

»Wird gemacht! Wir sehen uns gleich!«

Kurz darauf gingen wir in verschiedene Richtungen davon. Ich war froh, dass meine Wohnung gut zu Fuß zu erreichen war und das Lokal, in dem wir uns treffen wollten, ebenfalls sehr zentral lag, so dass ich auf ein Taxi verzichten konnte.

 

*

 

Genüsslich trank ich einen Schluck meines Black Russians und lehnte mich zufrieden auf dem Stuhl zurück. Lächelnd beobachtete ich Jamie, der an seinem Caipirinha nippte und dabei auf einem Eiswürfel herumkaute. Dass wir uns vor sechs Monaten in eben dieser Bar kennengelernt hatten, war für mich immer noch der beste Zufall meines Lebens. Doch seit jenem Abend hatte sich eine Menge verändert. Dank Jamie war es mir gelungen, meine Bisexualität endlich zu akzeptieren und mit ihm zusammen auszuleben. Ich schämte mich nicht mehr dafür und verspürte auch keine Gewissensbisse, einen Club zu betreten, die ausschließlich von homosexuellem Publikum besucht wurde.

Ich zündete mir eine Zigarette an und ließ den Blick durch die Bar schweifen. Jäh wurde meine Aufmerksamkeit auf einen Jungen gelenkt. Er saß mit zwei Männern am Nebentisch und unterhielt sich mit ihnen. Für meinen Geschmack war er viel zu jung, um sich hier aufzuhalten.

»Was ist los?«, erkundigte sich Jamie.

»Was für ein verrückter Zufall. Siehst du den Kleinen mit den verstrubbelten Haaren und der Jeansjacke. Das ist der von heute Nachmittag.«

»Echt? Wo?« Jamie schaute demonstrativ zum Nachbartisch.

»Nicht so auffällig!«, zischte ich. Rasch trank ich einen weiteren Schluck und starrte auf die Tischplatte.

»Das Bürschchen sieht aber verdammt jung aus«, flüsterte Jamie und ließ ihn weiterhin nicht aus den Augen.

»Für die Bar sogar zu jung. Findest du nicht auch?« Heimlich nahm ich ihn wieder in Augenschein. In diesem Moment wanderte sein Blick genau in meine Richtung.

Für einen Sekundenbruchteil musterte er mich forsch, dann schien er mich zu erkennen. Er schenkte mir ein flüchtiges unauffälliges Lächeln, bevor er sich wieder seinen Gesprächspartnern zuwandte.

Unverständlicherweise beschleunigte sich mein Herzschlag und ich hielt reflexartig den Atem an. Irritiert versuchte ich, meine Konzentration auf Jamie zu lenken, aber ständig sah ich flüchtig zu dem Jungen hinüber. Alles an seiner Mimik und Gestik erinnerte mich an Riley. Andauernd fuhr er sich nervös durch die strohblonden Haare und knetete die Finger. Schließlich bekam er von den Männern Geld in die Hand gedrückt und er stand auf. Damit ging er zum Tresen und bestellte Getränke.

»Muss ich dich am Tisch festbinden, damit du ihn nicht auffrisst?«, kam die überraschende Frage von Jamie und ich hätte mich fast an meinem Black Russian verschluckt.

»Bist du verrückt! Der Kleine ist noch grün hinter den Ohren. Wenn ich auch nur einen Finger an ihn lege, stehe ich mit einem Bein im Knast. Mich interessiert nur, was er vorhat.«

»Wenn du das sagst.« Jamie kicherte und drehte sich viel zu auffällig zu ihm um.

Nachdem der Barkeeper die Cocktails zubereitet hatte und ihm das Wechselgeld in die Hand drückte, nahm der Junge es an sich und ließ es klammheimlich in der Hosentasche verschwinden. Hätte ich nicht genau hingesehen, wäre es mir nie aufgefallen. Dann kehrte er zu unseren Tischnachbarn zurück und überreichte die Cocktails, ohne das Geld zurückzugeben. Er setzte sich wieder zu ihnen und hörte einfach nur zu.

»Schlaues Kerlchen«, wisperte Jamie kopfschüttelnd.

»Wenn er das öfter macht, kann er an einem Abend ganz ordentlich verdienen. Aber ich bezweifle ...« Mitten im Satz stockte ich, denn in diesem Moment klingelte mein Handy. Als ich Tylers Namen auf dem Display las, nahm ich den Anruf an.

Sofort hörte ich als Begrüßung Hundegebell. »Nein! Nicht schon wieder den Tisch! Henry aus!«, kam es genervt von Tyler. »Sean, dieses Flohtaxi ist eine Zumutung! Er hat mir alle vier Beine des Couchtisches angekaut und mit seinen Krallen die schöne Ledercouch zerfetzt. Und als Krönung hat er mir gerade mitten in die Bude geschissen. Wann treffen wir uns morgen, damit ich das Monster endlich los bin?«

»Hör auf, zu übertreiben!« Lachend zog ich an meiner Zigarette und formte mit den Lippen das Wort »Tyler.«

Jamie grinste und bedeutete mir, dass er auf der Toilette verschwinden würde.

»Hör auf zu lachen. Das ist nicht witzig!«, beschwerte sich mein Bruder und musste sich Mühe geben, dabei das Kläffen übertönen.

»Das kommt davon, wenn du jede Nacht um die Häuser ziehst, anstatt dich um Henry zu kümmern. Ich habe dich nur zwei Tage gebeten, auf ihn aufzupassen. Wenn du mit ihm vernünftig Gassi gehen würdest, wäre das Missgeschick nicht passiert. Außerdem wäre er dann müde und käme auch nicht so oft auf Dummheiten.«

»Ja, ja. Besserwisser! Was dagegen, wenn ich ihn dir gleich vorbeibringe?«

»Stell dich nicht so an, du wirst es überleben. Wir treffen uns um zehn Uhr am östlichen Eingang. Vergiss Henry nicht die rote Schleife umzubinden. Er ist immerhin die Geburtstagsüberraschung für unseren Bruder.«

»Ja, ja, schon klar«, kam die patzige Antwort, die ich erwartet hatte. »Bist du dir auch sicher, dass Riley mit dem Bluthund zurechtkommt?«

»Ist ja nicht jeder so unfähig wie du.«

Wieder ertönte Hundegebell und Tyler fluchte in den höchsten Tönen.

»Ich lege auf. Ich möchte mit Jamie noch den Abend genießen.«

»Hauptsache einer hat Spaß«, grummelte mein Bruder und beendete das Gespräch.

Ich grinste belustigt in mich hinein. Er würde mir die Nötigung zum Hundesitter sicherlich noch lange zum Vorwurf machen. Nebenbei blickte ich zum Nachbartisch hinüber und bemerkte, dass der junge Bursche dort nicht mehr saß. Überrascht stellte ich fest, dass er sich inzwischen zu einem Dreiergespann in die hinterste Sitzecke verzogen hatte, mich jedoch erneut verstohlen anstarrte.

Seufzend nippte ich an meinem Cocktail und verspürte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Die Männer, die er sich ausgesucht hatte, waren noch älter als die beiden vorherigen und körperlich gut beisammen. Hoffentlich zog er die Nummer mit dem Geld nicht auch bei ihnen ab.

Eigentlich konnte es mir ja egal sein, aber aus irgendeinem Grund ließ mich der Kleine nicht los. Lebhaft erinnerte ich mich an den Vorfall zurück. Obwohl er sich verbissen gegen die Schlägertypen zur Wehr gesetzt hatte, hatte ich Panik in seinem hübschen schmalen Gesicht erkannt. Seine stahlblauen Augen hatten deutlich Angst widergespiegelt.

»Na? Ist Tyler schon tot?«, riss mich Jamie aus meinen Gedanken und nahm lächelnd Platz. »Geht es Henry gut?«

»Fast. Aber mit Tieren konnte er noch nie«, antwortete ich mit einem Schmunzeln und konzentrierte mich auf mein Gegenüber. Doch dieses Mal schien Jamie abgelenkt zu sein. »Was ist los?«

Er nahm sein Glas und leerte es in einem Zug. Er deutete mit dem Kinn in Richtung Tresen. »Pete hat heute interessante Gäste«, sagte er plötzlich geistesabwesend.

Nun war meine Neugier geweckt und ich folgte seinem Blick. Dort stand ein junger Asiate, der mir bisher nicht aufgefallen war. Altersmäßig konnte ich ihn nicht einschätzen, aber in seiner Bluejeans und dem schwarzen T-Shirt wirkte er durchaus attraktiv. Seine Gesichtszüge waren sanft und er strahlte einen gewissen exotischen Charme aus. Ich persönlich bevorzugte jedoch mehr den europäischen Typ.

»Interesse?«, drehte ich den Spieß um.

Jamie schluckte merklich und begann unruhig auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. »Der Kerl ist voll mein Fall. Aber ich will dich hier nicht sitzen lassen«, druckste er herum.

»Sieh mich mal an«, bat ich ihn und wartete, bis er sich mir zuwandte. »Du brauchst mir gegenüber kein schlechtes Gewissen zu haben. Wir zwei sind in keiner Beziehung. Wenn dich das Kerlchen interessiert, dann schnapp ihn dir.«

Jamie biss sich auf die Unterlippe und nickte. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn du allein nach Hause gehst?«

»Natürlich nicht.« Ich unterstrich meine Aussage mit einem aufmunternden Lächeln. »Mach, was du willst, aber bitte sei morgen pünktlich.«

»Na, dann.« Jamie stand auf und schlenderte betont lässig in Richtung des Tresens davon.

»Viel Spaß«, murmelte ich hinterher. Ich verspürte keinerlei negative Gefühle, als er den jungen Mann ansprach und mit ihm zu schäkern begann. Es freute mich sogar für ihn.

Schließlich trank ich mein Glas leer und bezahlte direkt an der Bar unsere Drinks. Jamie unterhielt sich angeregt mit seinem Schwarm und bemerkte mich gar nicht mehr. Ich drückte ihm die Daumen und verließ die Location. Als ich den Bürgersteig entlang spazierte, hatte ich das Gefühl, als würde mir jemand folgen. Heimlich schielte ich über die Schulter und entdeckte zu meiner Überraschung den Jungen, der auffällig unauffällig auf der anderen Straßenseite entlangschlenderte. Er hielt sich im Schatten der Häuser und versuchte, nicht bemerkt zu werden. Gerade deshalb sah ich ihn trotzdem.

Als wäre nichts, ging ich weiter. Hatte er womöglich mich als nächste Geldquelle im Visier? Doch dazu hätte er mich nur in der Bar ansprechen müssen. Seufzend tauchte sein hübsches Gesicht vor meinem inneren Auge auf und mein Herzschlag beschleunigte sich ein weiteres Mal. Der Kerl besaß etwas, das mich faszinierte, ich aber nicht näher bezeichnen konnte.

»Er ist noch ein Kind!«, schimpfte ich mich im Stillen einen Narren.

Kurz darauf ging ich einen Schritt schneller und verdrängte ihn vehement aus meinem Kopf. Ich konzentrierte mich auf Rileys bevorstehenden Geburtstag und konnte es kaum erwarten, sein strahlendes Gesicht zu sehen, wenn er Henry das erste Mal sah. In Gedanken vertieft erreichte ich eine Viertelstunde später den Hauseingang und sah mich ein letztes Mal um. Der Junge war verschwunden. Von ihm fehlte jede Spur.