Kapitel Zwölf

* * * * *

 

Für Mitte April herrschte extrem mildes Wetter. Die Sonne schickte ihre wärmenden Stahlen von einem mit kleinen Quellwolken bedeckten Himmel. Riley saß stocksteif neben mir auf dem Beifahrersitz und weigerte sich auszusteigen.

»Die anderen freuen sich schon auf dich. Sie sind alle wegen dir gekommen. Wir sollten sie nicht warten lassen«, sagte ich aufmunternd.

Mein Bruder knetete nervös die Hände und senkte den Kopf. »Können wir uns nicht einfach in der Wohnung treffen?«

Ich seufzte leiste und stieg aus. Dann ging ich um das Auto herum und öffnete die Beifahrertür. »Nein. Als Tyler und Jamie dir die Idee vor einer Woche vorgeschlagen haben, hast sie noch toll gefunden. Und jetzt willst du sie hängen lassen? Schau! Da kommt auch schon Jamie.«

Riley hob beschämt den Blick. Es machte ihm zu schaffen, dass er nicht den Mut fand, aus dem Auto zu steigen. Doch als er Jamies strahlendes Gesicht entdeckte, gab er sich einen Ruck und setzte den ersten Fuß auf die Straße.

Während er in mir einen väterlichen Ersatz für Edward sah, und unser Verhältnis noch ein wenig distanziert war, vergötterte er Tyler und Jamie regelrecht als wären sie irgendwelche Popidole. Ich empfand jedoch keinerlei Eifersucht. Die ungezwungene und witzige Art der beiden hatte in den vergangenen Monaten dazu beitragen, dass Riley immer mehr wie ein Junge seines Alters agierte. Lediglich seine Angst vor der Welt außerhalb der Wohnung war nach wie vor präsent. Er traute sich nur in Begleitung heraus und nur, wenn man Druck ausübte. Das war einer der Gründe, warum ich Henry besorgt hatte. So war mein kleiner Bruder gezwungen, wenigstens zwei Mal am Tag auf die Straße zu gehen. Dass er sich in Gegenwart des Fellknäuels auch nicht mehr so einsam fühlen würde, war ein netter Nebeneffekt.

»Da ist ja das Geburtstagskind!«, rief Jamie gut gelaunt und eilte auf uns zu. Er machte schnaufend vor Riley Halt und nahm ihn liebevoll in den Arm. »Ich wünsche dir alles, alles Gute zum Geburtstag, mein Kleiner. Und ich habe etwas für dich, das dir gefallen wird.« Er ließ ihn los und zog eine kleine Schachtel aus der Hosentasche.

»Für mich?« Skeptisch betrachtete mein Bruder das verpackte Geschenk und nahm es zögerlich entgegen.

»Hat sonst noch jemand Geburtstag? Mach es gleich auf. Ich will wissen, ob es dir gefällt.«

Nervös biss Riley sich auf die Unterlippe und öffnete den Deckel. Ich wusste bereits, was sich darin befand, denn ich hatte es mit Jamie ausgesucht.

Enttäuscht blickte er auf ein buntes Tuch. »Wofür ist das? Das ist doch viel zu klein, um es als Halstuch zu tragen.«

Jamie nahm es aus der Schachtel und winkelte es ihm um das linke Handgelenk, wo er es anschließend verknotete. »Du kannst es so tragen. Oder vielleicht findest du später noch eine andere Verwendung dafür«, erklärte Jamie geheimnisvoll.

Befremdlich starrte Riley es an, bedankte sich jedoch höflich.

»Dann lasst uns mal zu den anderen gehen«, forderte ich die beiden auf und holte noch rasch den Rucksack aus dem Kofferraum.

Wie im Vorfeld geplant, erwarteten uns alle an dem vereinbarten Ort in der Nähe des Parkplatzes. Auf der Wiese zwischen dem künstlich angelegten See und einer Reihe von hohen Bäumen waren bereits die Picknickdecken ausgelegt. Christophers Frau Kate spielte Ballwerfen mit den dreijährigen Zwillingsschwestern, während Lians Verlobte das Plastikgeschirr verteilte. Onkel Thomas und meine beiden Freunde unterhielten sich angeregt. Seine Frau Jane, die heute zum ersten Mal mitgereist war, befestigte Luftballons mit der Aufschrift »Happy Birthday« und die Zahlen Eins und Sechs an den mitgebrachten Körben.

»Alles Gute zum Geburtstag!«, riefen alle zusammen, als sie uns entdeckten. Riley ging unsicher auf sie zu. Christopher und Lian kannte er bereits, ebenso Thomas. Die restlichen Personen waren für ihn alle fremd. Mittlerweile fühlte er sich aber in meiner und Jamies Gegenwart so sicher, dass er nicht mehr Schutz hinter einem von uns beiden suchte, sondern sogar ein schüchternes Lächeln auf seinem Gesicht erschien.

Tyler war der einzige der Gäste, der noch fehlte. Ich entdeckte ihn hinter einer der stämmigen Eichen ganz in der Nähe. Er trug Henry auf dem Arm. Sein Gesicht verriet mir, dass er ungeduldig auf mein Zeichen wartete.

Der Reihe nach gratulierten alle Riley und drückten ihm Geschenke in die Hand, die er sprachlos entgegennahm und sie an mich weitergab. Mein Bruder war sichtlich überfordert. Aber er machte seine Sache gut und seine anfängliche Scheu war ihm kaum noch anzumerken. Ich entzündete die sechszehn Kerzen auf dem Schokoladenkuchen, den Lian extra für heute bei meiner Lieblingskonditorei für mich abgeholt hatte.

»Du musst sie alle auf einmal ausblasen und dir dabei etwas wünschen. Danach wartet schon ein ganz besonderes Geschenk auf dich«, erklärte ich lächelnd.

»Noch ein Geschenk?« Neugierig blickte mich Riley an. Dann holte er tief Luft und blies alle Kerzen auf einmal aus.

Das Klatschen aller war für Tyler das von ihm ersehnte Signal. Er trat aus seinem Versteck hervor und kam direkt auf uns zu. Als Riley ihn sah, rannte er ihm entgegen, blieb jedoch auf halber Strecke bass erstaunt stehen.

»Hier möchte jemand dem Geburtstagskind ›Hallo‹ sagen«, bedeutete Tyler und übergab mit sichtlich erleichterter Miene den Hundewelpen in Rileys Arme. Wie ich ihm aufgetragen hatte, hatte er dem Fellknäuel eine rote Schleife um den Hals gebunden. »Das ist Henry und er wünscht sich einen tollen Freund.«

Starr vor Begeisterung hielt Riley den aufgeweckten Welpen fest und drückte ihn mit funkelnden Augen an sich. Sofort verteilte Henry freudig feuchte Hundeküsse im Gesicht meines Bruders und fiepte schwanzwedelnd.

»Das ist seine Antwort. Ab sofort seid ihr Freunde. Alles Gute«, bedeutete ich und trat neben Riley. Mit der Hand fuhr ich über Henrys weiches beigefarbenes Fell und ließ mich von ihm abschlecken.

Tyler stöhnte befreit. »Und ich bin froh, den tasmanischen Teufel loszusein.«

Lachend drehte ich mich um und ging zu den anderen Geburtstagsgästen zurück. Tyler folgte mir. Riley hingegen setzte den Rüden auf den Boden und begann, sofort mit ihm zu spielen.

»Das ist Liebe auf den ersten Blick«, meinte Jamie schmunzelnd und nahm auf der Picknickdecke Platz.

»Und? Bist du letzte Nacht zum Zug gekommen?«, erkundigte ich mich im Flüsterton.

Als Antwort lächelte Jamie breit von einem Ohr zum anderen und zog zischend die Luft ein. »Ich bin noch nicht ganz fit. Reicht dir das als Antwort?«

Kichernd nickte ich und verstand ihn nur zu gut.

Bis zum Mittag waren von dem köstlichen Kuchen nur noch Krümel übrig. Doch Rileys Gäste hatten für genug andere Leckereien gesorgt. Kate hatte Sandwiches zubereitet. Jacky selbstgemachten Obstsalat mitgebracht. Meine Tante Jane hatte einen Haufen Muffins gebacken, die für eine ganze Kompanie gereicht hätten. Auch an Getränken mangelte es nicht. Schließlich saß ich pappsatt mit Thomas und meinen beiden besten Freunde zusammen und wir genehmigten uns ein kühles Bier.

»Ist es die Party oder der Hund? Riley ist ja total vernarrt in den kleinen Rabauken und super locker drauf«, sagte Lian und und trank einen großen Schluck.

»Oder umgekehrt. Aber die Lorbeeren gehören nicht mir allein, die Party war Jamies Einfall«, antwortete ich. Ich beobachtete meinen Bruder neugierig. Henry hielt ihn und inzwischen auch die Zwillingsschwestern auf Trab. Riley mochte Christophers Kinder offensichtlich, denn seit einer halben Stunde tollten sie gemeinsam mit dem Welpen herum. So ausgelassen hatte ich ihn noch nie erlebt.

Zufrieden schmunzelte ich in mich hinein. Ob er sich je so unbeschwert gefühlt hatte? Ich wusste es nicht, denn bislang hatte er nur wenig von sich erzählt und das auch nur aus der Zeit mit unserem Vater. Was er davor erlebt hatte, konnte ich nur erahnen. Doch heute sollte er einfach Spaß haben und ich konnte mich endlich ein wenig entspannen. Da die Frauen ein wachsames Auge auf die drei hatten, wandte ich mich wieder meinen Freunden und Thomas zu.

»Apropos Jamie. Was ist denn jetzt mit euch?«, erkundigte sich Christopher mit einem verschmitzten Lächeln.

»Was soll mit uns sein?« Ich tat unschuldig und dennoch wanderte für einen flüchtigen Moment mein Blick zu ihm und Tyler hinüber, die sich an den Sandwiches gütlich taten und ausgelassen lachten.

Christopher genehmigte sich ebenfalls einen Schluck Bier. »Es ist dir vielleicht noch nicht aufgefallen, aber der Typ tut dir wirklich gut. Du bist viel lockerer geworden. Seid ihr fest zusammen?«

Unvermittelt sahen mich drei neugierige Augenpaare an.

»Ähm ... also ... nicht wirklich«, stammelte ich plötzlich aufgewühlt und räusperte mich. »Nein«, antwortete ich schließlich gefestigter. »Wir sind nur gute Freunde. Und er ist mein zukünftiger Geschäftsführer. Mehr ist da nicht.«

Lian hob frech grinsend skeptisch die Augenbrauen. »Und das sollen wir glauben?«

Schmunzelnd zuckte ich mit den Schultern. »Glaubt, was ihr wollt, falls euch das weiter hilft. Ich werde übrigens mit Riley ins neue Loft ziehen und Jamie überlasse ich meine Wohnung.«

Niemand sagte etwas, ihr verhaltenes Lächeln verriet mir jedoch, dass sie eine andere Antwort von mir erwartet hatten.

»Da du es gerade erwähnst. Wie gehen denn die Umbauarbeiten im Club voran?«, erkundigte sich Thomas schließlich. »Als ich vor zwei Monaten in London war, habe ich das Gebäude gar nicht mehr wiedererkannt.«

Erleichtert, dass mein Themenwechsel geklappt hatte, seufzte ich auf und zündete mir eine Zigarette an. »Hervorragend. Wenn du willst, können wir später eine Begehung machen. In vier Wochen soll eröffnet werden. Zum Glück, denn mein Konto schmilzt gerade so dahin. Das Meiste davon regelt Jamie. Mittlerweile steht auch schon das externe Personal für die Bar und Küche fest und ab kommender Woche geht es richtig los. Da haben wir das erste Casting für die künftigen VIP Jungs angesetzt.« Dass ich mich bei dem Gedanken, eine Art Fleischbeschau durchführen zu wollen, unwohl fühlte, ließ ich außen vor. Bis auf Jamie kannte ich keine Callboys, doch genau das würde sich ab kommender Woche ändern. Die Entscheidung würde ich glücklicherweise nicht allein fällen müssen. Jamie und sogar Tyler wollten mir beratend zur Seite stehen. Vor allem Jamies Ratschläge waren mir wichtig.

»Dann steht ja der Wiedereröffnung nichts mehr im Weg. Lasst uns auf das Black Desire anstoßen.« Lian hob die Dose Bier in die Luft. Christopher und Thomas taten es ihm gleich.

»Sollten wir nicht bis zur Eröffnung warten?«, hielt ich dagegen.

»Warum? Bekommst du kalte Füße?«, neckte mich Christopher.

Ich schüttelte lachend den Kopf und prostete den anderen zu. Die Last, die noch vor wenigen Monaten schwer auf meinen Schultern gelegen hatte, war längst verschwunden. Die Reaktion meiner Freunde zeigte mir deutlich, dass jeder Einzelne hinter meiner Entscheidung stand. Auch wenn es bedeutete, dass ich mich künftig in einem geschäftlichen Bereich bewegte, für den ich meinen Vater einst abgrundtief gehasst hatte. Von nun an trat ich in Edward Ashtons Fußstapfen und würde mein Geld mit den Körpern anderer Jungs verdienen. Aber ich schämte mich nicht mehr dafür. Ich stand zu meinen Worten, die ich am Tag von Edwards Beerdigung voller Überzeugung ausgesprochen hatte. Hätte das Black Desire für immer geschlossen, hätte ich die Callboys unweigerlich in Luther Mitchells Arme getrieben. Ich hingegen wollte ihnen eine bessere Alternative bieten, die sich auch mit meinem Gewissen vereinbaren ließ. Was genau ich mir vorstellte, wusste bisher nur ich. Nicht einmal Jamie und Tyler hatte ich bis dato in mein Konzept eingeweiht. Mir schwebte nicht nur ein exklusiver Escort vor, bei dem am Ende alle einen Gewinn erzielen sollten. Ich hatte weitaus Größeres im Sinn.

»Wie läuft es inzwischen mit Riley? Bewirkt die Therapie etwas oder hat er immer noch Angst, die Wohnung zu verlassen?«, erkundigte sich Thomas, der sein Mündel neugierig beobachtete.

»Schwieriges Thema.« Unwirsch fuhr ich mir mit der Hand durchs Gesicht und sah ebenfalls kurz zu meinem Bruder hinüber. Riley saß inzwischen bei Tyler und Jamie und sie fütterten den Hund abwechselnd mit Leckerlis, die ich extra mitgebracht hatte. Den Kleinen so glücklich und ausgelassen zu sehen, ließ mein Herz vor Freude springen.

»Also keine Veränderung?«, kommentierte mein Onkel schwermütig.

»Ich wünschte, es gäbe eine, aber ich muss ihn jedes Mal regelrecht dazu zwingen. Ihn allein zu lassen ist kein Problem, aber das Haus verlassen... Keine Chance. Die Therapeutin kommt auch nicht wirklich weiter, aber sie meinte, dass würde eben Zeit brauchen.« Geknickt dachte ich an heute Morgen zurück. Ich hatte mit Engelszungen auf Riley einreden müssen, bis er endlich ins Auto gestiegen war.

»Der Vorschlag mit dem Vierbeiner kam von ihr, oder?«, wollte Lian wissen.

»Eigentlich war es meine Idee, aber sie meinte, es würde sicherlich nicht schaden, wenn er Verantwortung für das Tier übernehmen muss. Ich hoffe, der Hund kann tatsächlich etwas bewirken.«

»Leider weiß niemand, was er alles durchgemacht hat«, bedeutete mein Onkel nachdenklich. »Mein Bruder und ich haben ihn zwar befreit, aber was wirklich hinter den Kulissen von Luthers Pädophilenring geschieht, kann nicht einmal ich erahnen.«

»Scotland Yard tappt ebenfalls im Dunkeln«, bestätigte Christopher. »Bislang ist die Beweislast gegen Luther Mitchell mehr als dürftig. Es wurden schon mehrere Versuche unternommen, V-Männer als potentielle Kundschaft einzuschleusen. Doch der Mistkerl ist ganz besonders vorsichtig. Man kann ihm persönlich nichts nachweisen. Er ist wie ein Geist, der von ganz oben die Fäden in den Händen hält. Alles wird über verschiedene Kontakte geregelt. Um überhaupt bis zu einem der kleinen Rädchen vorzudringen, muss man mehrere Schritte durchlaufen. Dazu darf ich aber nicht näher eingehen. Doch ich kann euch so viel sagen, Luther und seine Leute überlassen nichts dem Zufall. Alles wird auf Herz und Nieren geprüft. Gibt es nur eine winzige Ungereimtheit, wird der Kontakt auf der Stelle abgebrochen. Das Perfide daran ist, dass seine Leute ein ausgeklügeltes internes Netzwerk benutzen. Er gibt wahrscheinlich eine Menge Kohle dafür aus. Von Außen ist er damit hermetisch abgeschirmt. Unsere besten IT-Spezialisten haben es versucht und meinen, da wäre es einfacher die Sicherheitskameras des königlichen Schlafzimmers zu knacken.«

»Warte es ab, Sean. Ich denke, irgendwann wird er sich dir öffnen und reden«, kam es leise von Lian, der Riley mittlerweile schon zwei Mal nach der Lebensmittelvergiftung untersucht hatte. Er klopfte mir trostspenden mit der Hand auf den Rücken. »Körperlich ist er fit, aber seine Seele hat sehr gelitten. Es ist, wie die Therapeutin gesagt hat, es braucht seine Zeit. Außerdem ist es besser, wenn er von allein aus sich herauskommt. Ich glaube fest daran, dass es nicht mehr lange dauern wird. Er hat dich, Tyler und auch Jamie, die sich um ihn kümmern. Und er hat jetzt auch den Hund, mit dem er gezwungen ist, nach draußen zu gehen.«

»Na hoffentlich tut er das auch«, warf Christopher skeptisch ein.

»Das wird er. Es ist ja nicht zu übersehen, wie vernarrt er in Henry ist.« Lian nickte zuversichtlich.

»Das ist auch gut so, denn wenn er Henry behalten will, muss er bei jedem Gassigang dabei sein«, antworte ich.

Christopher lachte leise auf. »Okay, ihr habt mich überzeugt. Trägt er eigentlich immer den Peilsender?«

Ich nickte. »Er liebt das Kreuz mit den bunten Steinen und nimmt es nicht einmal zum Duschen ab. Er weiß allerdings nicht, dass ich ihn damit übers Handy orten kann.«

»Das ist vielleicht auch besser so«, bestätigte Christopher meine Entscheidung und die anderen stimmten ihm zu.

»Was macht er den ganzen Tag, wenn niemand von euch da ist?«, fragte Thomas interessiert. »Hat es mit dem Homeschooling Verein geklappt?«

Augenblicklich erhellten sich meine Gesichtszüge. Das waren die beiden Dinge, über die ich positiv berichten konnte. »Riley hat alle Tests bestanden und wurde gleich zwei Klassen hochgestuft. Und wenn alles klappt, kann er in zwei Jahren einen guten Abschluss machen. Er saugt jede noch so kleine Information in sich auf. Man kann fast sagen ... Lernen ist sein Hobby. Lesen auch. Zurzeit hat er Onlinegaming für sich entdeckt. Tyler bringt ihm jeden Mist bei. Wenigstens nicht auf Kosten seiner Noten. Wenn es nur in allen Dingen so laufen würde.« Ich seufzte laut.

»Er wohnt erst sechs Monate bei dir. Das wird sich ändern ... du wirst sehen«, sagte Christopher und stand auf, um sich zu strecken.

»Das wird auch noch alles auf dich zukommen«, antwortete ich ihm grinsend und erhob mich ebenfalls. Ich deutete mit dem Kinn hinüber zu den Zwillingen.

»Erinnere mich nicht daran. Sie sind jetzt schon ziemlich anstrengend.« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, rannten die beiden Mädchen lachend auf ihn zu und forderten ihn auf, mit ihnen Fangen zu spielen.

Thomas lächelte mich belustigt an. »Sei froh, dass Riley schon so gut wie erwachsen ist. Stell dir vor, du hättest so einen süßen Racker, der dir das Leben schwer macht.«

»Christopher bekommt noch so einige graue Haare, bis seine Kinder endlich das Teenageralter erreichen«, fügte Lian vergnüglich hinzu.

»Und dann geht es erst richtig zur Sache«, ergänzte Thomas.

»Wieso? Sprichst du aus Erfahrung?«, wollte Lian wissen.

»Ich habe mich bewusst dagegen entschieden. Meine Neffen reichen mir.«

Lachend winkte ich ab und schloss die Augen, um mir die Aprilsonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Als ich sie wieder öffnete, wanderte mein Blick über die ausgelassene Runde. Nicht nur für Riley war es neu, dass wir uns alle hier versammelt hatten und einen gemütlichen Tag im Park verbrachten. Auch für Tyler und mich war es ungewohnt. Wir kannten keine Feiern oder Ausflüge im familiären Kreis. Edward wäre niemals auf die Idee gekommen mit uns Jungs einen Nachmittag im Freien zu bringen.

Plötzlich schrie Riley panisch auf und rannte wie vom Teufel besessen hinter dem Welpen her. »Henry! Henry, bleib hier! Henry!«

»Was ist los?«, fragte ich Tyler, der sogleich nur laut lachte.

»Henry hat dort drüben die Frisbeescheibe entdeckt«, antwortete mir stattdessen Jamie und zeigte mit der Hand auf eine Gruppe Jugendlicher, die sich ganz in unserer Nähe einen Plastikdiskus zuwarfen.

Abwartend beobachtete ich die Situation. Mein Bruder war mittlerweile regungslos vor den fünf Jungs stehengeblieben und blickte mit geballten Fäusten auf Henry, traute sich augenscheinlich aber nicht, den letzten Schritt auf den Hund zuzugehen. Der Welpe hatte sich die gelbe Wurfscheibe geschnappt und schüttelte sie, als wollte er sie töten. Die Jungs lachten und einer trat nach vorne und nahm Henry behutsam auf den Arm. Er streichelte ihm über den Kopf und wurde im Gegenzug von ihm abgeleckt. Der Junge redete währenddessen auf meinen Bruder ein.

In diesem Moment hämmerte mein Herz wie wild in der Brust und ich stand auf. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, doch ich irrte mich nicht. Den jungen Burschen kannte ich. Die faszinierenden stahlblauen Augen, in die ich für einen kurzen Moment bei unserer ersten Begegnung auf der Straße geblickt hatte, waren mir deutlich im Gedächtnis geblieben. Auch jetzt sah er mich über die Schulter meines Bruders hinweg an und schenkte mir wie gestern in der Bar ein verstohlenes Lächeln, das mir für einige Sekundenbruchteile die Sinne raubte. Dann wandte er sich wieder an Riley und hielt ihm mit ausgestreckten Armen den Hund entgegen. Ich konnte nicht verstehen, was er sagte, doch als er schließlich zu seinen Freunden zurückkehrte, blieb Riley mit hängenden Kopf stehen.

Eilig ging ich meinem Bruder entgegen und er drehte sich mit tränenverschleierten Augen zu mir um. Ich legte ihm tröstend eine Hand auf den Oberarm. »Was hat er denn gesagt?«, erkundigte ich mich neugierig.

Es dauerte eine Weile, bis sich Riley beruhigt hatte und mir eine Antwort geben konnte. »Er meinte, ich muss besser auf Henry aufpassen. Beim nächsten Mal würde er ihn behalten, weil er so niedlich ist.«

Sanft fuhr ich Riley mit der Hand über den Kopf und warf zeitgleich einen verärgerten Blick in Richtung des Jungen, der seelenruhig das Frisbeespiel mit seinen Freunden wieder aufgenommen hatte.

»Er hat es bestimmt nicht so gemeint. Er hat dich nur darauf aufmerksam machen wollen, dass du Henry immer gut im Auge behältst. Alles halb so schlimm.«

»Wirklich?«

Ich nickte. »Wirklich. Henry ist jung und erforscht seine Welt durchs Spielen. Welpen sind immer kleine Entdecker, das musst du dir merken.« Nebenbei schaute ich ein weiteres Mal zu den Teenagern, doch zu meiner großen Enttäuschung konnte ich den Jungen nirgendwo ausmachen. Lediglich seine vier Freunde waren noch da.

»Können wir jetzt nach Hause gehen?«, fragte mein Bruder, als wir langsam zu den anderen zurück spazierten.

»Jetzt schon? Heute ist so schönes Wetter und Henry kann sich hier austoben, bevor er sein neues Zuhause unsicher macht«, versuchte ich Riley zum Bleiben zu überreden. Aber ich spürte, dass ihm nach dieser Begegnung die Courage verlassen hatte. Ihn jetzt noch auf andere Gedanken zu bringen war vermutlich unmöglich. Das würden nicht einmal Tyler und Jamie schaffen.

Jäh kam mir eine Idee, die aus dem Nichts vor mir aufflackerte. Riley brauchte dringend Kontakt zu gleichaltrigen Jungs und Mädchen. Ein Freund in seinem Alter könnte vielleicht schon helfen, dass er sich künftig in solchen Situationen sicherer fühlen würde und er wäre bestimmt auch eher in der Lage die Wohnung zu verlassen und ein normales Leben zu beginnen. Schließlich konnte ich nicht immer für ihn da sein. Doch wie sollte ich das nur bewerkstelligen?