Erschöpft klopfte ich an Jamies Bürotür und trat ein. »Ich verschwinde jetzt nach oben. Für heute bin ich total k.o. ... Wenn etwas ist, ruf an!«
Jamie blickte kurz vom Laptop auf und schenkte mir ein zufriedenes Lächeln. »Geht klar. Aber bevor du gehst, sieh dir das noch kurz an. Wir haben bereits in der ersten Woche mehr eingenommen als gedacht.«
»Echt?« Interessiert umrundete ich den Schreibtisch, setzte ich mich auf die Tischkante und las staunend die Zahlen vom Monitor ab.
»Echt!«, bestätigte Jamie. »Die Kunden lecken sich nach Tylers Cocktails die Finger ab. Das Restaurant wird ständig gebucht und ich komme kaum mit den Anfragen für die Jungs nach. Die Zimmer sind für die nächsten vier Wochen komplett reserviert. Warte es ab ... in einem halben Jahr ist das Black Desire ein Goldesel. Allein schon die Website wird ständig aufgerufen und es kommen inzwischen sogar Nachrichten über Social-Media herein.« Jamie war sichtlich überwältigt von dem, was sich innerhalb der letzten vier Tage getan hatte.
»Ich hoffe, es wird auch so bleiben«, sagte ich weniger euphorisch und dachte an den Tag der Eröffnung zurück. Noch immer verspürte ich eine leichte Anspannung, die jedoch allmählich mehr und mehr nachließ. Jeden Abend war die Bar gefüllt mit Gästen. Der neue Discobereich kam verdammt gut an. Insbesondere die Jungs versprühten bei der Kundschaft einen frischen Elan, der mir gefiel und bei den Männern und Frauen einen guten Eindruck hinterließ. Hinter den Kulissen war es zwar zu ein paar kleinen Streitereien gekommen, doch ich konnte sehen, dass sich alle Mühe gaben. Und das spiegelte sich auch bei den Trinkgeldern wider. Noch vor meinem Einzug ins Loft hätte ich nicht geglaubt, dass der Start ein voller Erfolg werden würde.
»Wenn der Hype so anhält, brauchst du dir keine Sorgen mehr machen, ob sich der ganze Aufwand gelohnt hat. Im Gegenteil, dann solltest du über weitere Standorte nachdenken.« Jamie griff nach meiner Hand und fuhr mir zärtlich mit den Fingern über den Handrücken. »Der Club war schon unter Eddi beliebt und bei dem, was jetzt geboten wird, rennen sie dir die Bude ein.«
Betont langsam beugte ich mich zu meinem Geschäftsführer hinunter und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen, der sich sofort ein heißblütiges Zungenspiel verwandelte. Begierig ließ ich mich voll und ganz auf ihn ein, denn unser letztes Schäferstündchen lag bereits etliche Tage zurück. Fast schon wehmütig löste ich mich von Jamie und sah ihm anschließend in seine glänzenden Augen.
»Bei nächster Gelegenheit könnte ich wieder etwas Entspannung gebrauchen«, wisperte ich ihm zu und schenkte ihm einen letzten Kuss auf die Wange, bevor ich aufstand. »Nur heute brauche ich dringend Schlaf.«
Jamie zwinkerte. »Ich nehme dich beim Wort.«
»Mal sehen, ob Riley noch wach ist.« Nebenbei sah ich auf die Armbanduhr, die schon kurz vor Mitternacht anzeigte. »Ach ja ... damit du Bescheid weißt, ab neun bin ich morgen den ganzen Vormittag außer Haus.«
»Oh ... dann hat Mia sturmfreie Bude und kann ihrem liebsten Hobby nachgehen«, kommentierte Jamie augenrollend.
»Ob du’s glaubst oder nicht ... deine Schwester ist eine tolle Sekretärin. Meine Kunden lieben sie jetzt schon.« Kichernd drehte ich mich um und ging zur Tür. Dort sah ich über meine Schulter ein letztes Mal zu Jamie zurück. »Fujoshi-Tick hin oder her, ich bin inzwischen ihr Lieblingsmodel.«
»Pass auf, dass die Mädels nicht bald dein Büro stürmen und dich auffressen. Und lass dich bloß nicht zu einem Fantreffen überreden. Ich habe gehört, dass so mancher nicht mehr zurückgekommen ist«, rief er mir nach und ich schloss lachend die Tür.
Ich ließ Mia gerne ihren Freiraum, denn bei der Arbeit war sie fachkundig und fleißig. An erster Stelle stand ihr Job und zwischendrin verwöhnte sie mich mit guten Kaffee und köstlichem Gebäck. Da ich derzeit ihr Lieblingsmodel war, ließ sie auch gerne bei ihren Fotobeiträgen dezent Werbung für den Club miteinfließen. Inzwischen betrieb sie mit Tyler neben ihrem eigenen Blog auch einen Facebookaccount. Der einzige Nachteil war, dass sie vorübergehend bei ihrem Bruder in meine alte Wohnung eingezogen war und ihn in seiner Freizeit gerne in Beschlag nahm, wodurch uns kaum Gelegenheiten blieben, uns heimlich ein wenig körperliche Entspannung zu gönnen.
Gähnend hielt ich mein Armband an den Sensor des Aufzuges. Bis auf Riley trugen wir alle so eines. Bei meinem Bruder hatte ich bewusst darauf verzichtet, er besaß dafür eine Plakette an seinem Schlüsselbund. Als sich die Aufzugtür im Loft öffnete, drang nur Stille an mein Ohr. Der Fernseher im Wohnzimmer war ausgeschaltet und nur die dezente Deckenbeleuchtung spendete Licht. Nachdem mich auch kein Hundegebell begrüßte, wusste ich, dass Riley sich mit Henry in sein Zimmer zurückgezogen hatte. Bevor ich im Bad verschwand, spähte ich vorsichtig in sein Schlafzimmer. Wie immer brannte die kleine Nachttischlampe und der Hund schlief eingerollt in seinem himmelblauen Körbchen aus Samt. Er hatte die Schnauze tief ins eigene Fell vergraben, sodass ich nur aufgrund des bunten Halstuches ausmachen konnte, wo sich sein Kopf befand. Riley wälzte sich unruhig hin und her. Ein Anblick, den ich gewohnt war. Es dauerte sicherlich nicht mehr lange und er würde laut schreiend aufwachen.
Albträume hatte Riley fast jede Nacht und es tat mir in der Seele weh, dass er bis heute nicht mit mir darüber sprach. Das Einzige, das ich tun konnte, war ihn tröstend in den Arm zu nehmen. Doch in letzter Zeit war es mehr und mehr Henry, an dem sich Riley nach einem Angsttraum festklammerte und mit ihm im Arm wieder einschlief. Zumindest beruhigte es mich, dass mein Bruder regelmäßig in psychologischer Behandlung war.
Seufzend verschwand ich im Badezimmer und genoss das warme Wasser auf der Haut. Nachdem ich mich wieder frisch und entspannt fühlte, trocknete ich mich ab und zog mir eine neue Boxershort und ein T-Shirt über. Gerade als ich in der Küche stand und mir ein Glas Wasser einschenkte, hörte ich Rileys Schrei, der mir durch Mark und Bein fuhr. Sofort ertönte lautes Kläffen. Ich ließ alles stehen und liegen und eilte zu ihm ins Zimmer.
Mitfühlend sah ich meinen Bruder völlig verschreckt im Bett sitzen. Er zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub und in seinem Gesicht glitzerten Schweißperlen. Henry stand auf der Bettdecke und leckte ihm beruhigend die Finger.
»Hast du wieder schlecht geträumt?«, fragte ich bedrückt und setzte mich zu ihm aufs Bett. Behutsam nahm ich seine Hand und streichelte ihm mit dem Daumen über den Handrücken. An die andere kuschelte sich mittlerweile Henry.
Riley nickte und ich entdeckte Tränen in seinen Augenwinkeln. Am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob er bei mir schlafen wollte. Doch er würde ablehnen, so wie er es immer tat. Im nächsten Moment überraschte er mich jedoch mit den Worten: »Kannst du heute bei mir bleiben?«
»Na klar. Rück ein Stück rüber«, antwortete ich leise und scheuchte den Hund vom Bett. »Und du schläfst in deinem Körbchen. Hast du mich verstanden?«
Henry legte den Kopf schief und blickte mich mit großen Augen an. Da ich nicht nachgab, drehte er sich mit einem mürrischen Seufzen um und schlich langsam zurück auf seinen Schlafplatz.
Ich schlüpfte unter Rileys Decke und bettete seinen Kopf auf meine Brust. Sofort kuschelte er sich an mich. Fürsorglich strich ich ihm über die feuchten Haare, bis sein Zittern allmählich nachließ. Ich hoffte, dass er bald wieder einschlafen und nicht von einem weiteren Albtraum geplagt werden würde. Riley wusste es zwar nicht, aber auch ich hatte damit zu kämpfen. Wieder einmal schwirrten mir die Worte von unserem ersten gemeinsamen Besuch bei seiner Psychologin im Geist herum. Ihm war Schlimmes schon in jungen Jahren widerfahren und es benötigte Zeit und Geduld, damit er es ihm gelang, allmählich das Trauma verarbeiten zu können.
»Sean ... ich vermisse Dad ganz schrecklich«, flüsterte er.
»Das kann ich verstehen«, bedeutete ich, da ich Rileys Beziehung zu unserem Vater durchaus nachvollziehen konnte. »Vielleicht können wir ihn am Wochenende besuchen. Möchtest du das?«
Ich spürte Rileys zustimmendes Nicken. »Mum vermisse ich auch«, fügte er leise schluchzend hinzu.
»Mum?«, hakte ich nach und blickte überrascht zur Zimmerdecke. Bislang hatte er seine Mutter mir gegenüber nie erwähnt. Mir fiel der Brief meines Vaters wieder ein. Ich konnte mich flüchtig daran erinnern, dass sie alkohol- und drogenabhängig gewesen war.
»Ja Mum«, bestätigte er. »Sie mochte mich nicht, aber ich vermisse sie trotzdem. Abends hat sie ständig fremde Männer mit nach Hause gebracht und mich ins Zimmer gesperrt. Ich habe sie immer lachen gehört, wenn sie getrunken haben. Ich musste ganz ruhig sein, damit niemand wusste, dass ich da war. Aber manchmal habe ich doch geweint, weil ich solchen Hunger hatte. Mum hat mich dann angeschrien und mich so lange mit ihrem langen Lineal geschlagen, bis ich still war.«
Fassungslos zog ich die Luft ein und spürte eine Gänsehaut, die mir über den Rücken jagte. Die Art und Weise, wie er es erzählte, war beinahe erschreckender als der Inhalt. Ich war versucht, etwas zu sagen, doch eine innere Stimme riet mir zu schweigen. Riley sprach das erste Mal von sich aus über das, was er erlebt hatte. Ich legte ihm einen Arm um die Schulter und bettete mein Kinn an seine Stirn. Er sollte wissen, dass ich jederzeit für ihn da war und ihn keineswegs für irgendetwas verurteilte.
Mein Bruder seufzte herzzerreißend und ich spürte seine Tränen, die mein T-Shirt befeuchteten. »Vielleicht ist sie ja mit Dad zusammen im Himmel«, hörte ich Rileys wispernde Stimme. »Mum hat ständig von ihm geredet. Sie hat immer gesagt, dass es ungerecht ist, dass er so viel Geld hat, wo sie so dringend welches braucht.«
Sofort war mir klar, dass sie es für ihre Sucht benötigt hatte und sie aus diesem Grund ihren eigenen Sohn nicht nur vernachlässigt, sondern auch misshandelt hatte. Ich schluckte einen heranwachsenden Kloß im Hals herunter und fuhr Riley liebevoll über den Kopf.
»Weißt du, Sean«, vernahm ich Rileys Worte und er kuschelte sich enger an mich. »Der Hunger war gar nicht so schlimm. Schlimm war, dass sie mich jeden Tag zu diesem ekelhaften Mann mit der Narbe auf der Wange geschickt hat. Er war ihr Dealer ... aber das habe ich erst viel später kapiert. Doch einmal ...«, plötzlich stockte er und schniefte.
Behutsam strich ich ihm die Tränen aus dem Gesicht, nur um für weitere Platz zu machen.
Riley holte tief Luft und setzte von Neuem an. »Einmal habe ich mir von Mums Geld Hamburger gekauft und sie so schnell verschlungen, dass ich danach Bauchweh hatte. Als Mum es herausfand, war sie richtig sauer auf mich. Sie verprügelte mich wie noch nie. Mein Rücken hat sogar geblutet. Ich konnte nur noch auf dem Bauch schlafen. Danach hat sie mich tagelang ins Zimmer eingesperrt.«
Nur zu deutlich hatte ich Rileys Narben auf dem Rücken vor Augen. Nun ihre wahre Ursache zu kennen schockierte mich zutiefst. Ich verspürte einen schmerzhaften Stich in der Magengegend, während mein Herz vor Wut raste. Einfühlsam hauchte ich ihm einen Kuss auf die Stirn.
»Ich ... ich weiß nicht mehr, wann es war, aber irgendwann ist sie in mein Zimmer gekommen und hat wie vom Teufel besessen rumgeschrien. Sie hat gemeint, ich bringe ihr nur Unglück und wäre ein Klotz an ihrem Bein. Dann hat Mum mich einfach geschnappt und mich in ein wartendes Auto geschubst. Auf der ganzen Fahrt hat sie sich gefreut, dass sie mich endlich los ist und bald ganz viel Geld hätte. Ich habe die ganze Zeit geweint, weil ich Angst hatte, aber das hat sie nicht interessiert und ... und als das Auto angehalten hat, sind wir ausstiegen und sie hat mich zu Luther gebracht ...«
Ein kalter Schauder erfasste meinen Körper. Riley begann plötzlich so detailgetreu zu erzählen, dass ich die gesamte Situation vor meinem inneren Auge bildlich erfassen konnte.
Ich sah den Mann mit seinen graumelierten Haaren auf den wesentlich kleineren und verängstigen Jungen zugehen. Mit einem blasierten Grinsen im Gesicht umrundete er ihn und nahm ihn dabei sorgfältig in Augenschein. Nickend segnete er sein neues Spielzeug ab und drückte der blassen und abgemergelten Frau mehrere große Scheine in die Hand. Ihre Augen funkelten vor Freude, während sie mit einem breiten Grinsen das Geld in der Hosentasche verschwinden ließ. Sodann drehte sie sich um und ging, ohne einen letzten Blick auf ihren Sohn zu werfen, den sie gerade für ein paar tausend Pfund an Luther Mitchell verkauft hatte.
»Sila«, sagte Luther mit einem euphorischen Unterton in der Stimme und wandte sich an einen weiteren Mann, der wie aus dem Nichts in der großen Lobby der Villa auftauchte. »Ich bin im Moment für niemanden zu sprechen. Falls sich Daniil meldet, sag ihm, dass ich neue Ware austeste.«
»Ja, Boss«, bestätigte der stämmige Mann im schwarzen Anzug und Krawatte mit unüberhörbarem russischen Akzent. Anschließend übermittelte er in seiner eigenen Sprache ein paar Befehle über ein Mikrophon, das sich an seinem Handgelenk befand und nickte. »Das Zimmer ist schon vorbereitet, Boss.«
Zufrieden griff Luther nach Rileys Hand und zerrte ihn eine Treppe hoch. Er stieß ihn in eines der zahlreichen Zimmer und verschloss sorgfältig die Tür hinter sich.
Mit einem unheimlichen Grinsen beugte er sich zu Riley hinunter und flüsterte ihm heiser ins Ohr: »Mal sehen, ob du dein Geld auch wert bist. Falls deine Mom mich angelogen hat und du keine Jungfrau mehr bist, wird sie es bereuen. Ich mag keine gebrauchte Ware.«
Zitternd wie Espenlaub stand der kleine Junge da und Tränen der Angst verschleierten ihm den Blick. Er wusste weder, was die Worte bedeuteten, noch ahnte er, was auf ihn zukommen würde. Er wollte zurück zu seiner Mutter und rannte zur Tür, doch sie ließ sich nicht öffnen. Der Weg in die Freiheit war ihm versperrt.
Luther verpasste Riley einen Schlag auf den Hinterkopf und kommentierte: »Reiß dich zusammen! Ich kann störrische Jungs nicht leiden.«
Weinend fiel er zu Boden, winkelte die Beine an und versuchte sich so klein wie möglich zu machen. So als könne ihn dann niemand sehen. Zu Hause hatte er es auch immer getan in der Hoffnung, dass seine Mutter von ihm abließ. Geholfen hatte es nie.
»Du brauchst dringend eine Lektion in Sachen Demut!«, spie Luther ihm entgegen und zog Riley an den Haaren auf die Beine. Er schleppte den kleinen, hilflosen Jungen hinüber zu einem großen Bett. Den verzweifelten Protest ignorierend warf er ihn auf die Matratze und beugte sich unheilverkündend zu Riley herab. Sein infames Grinsen glich dem Bild des Teufels persönlich, der ihn mit seinen Klauen in den Höllenschlund ziehen wollte, um ihn von nun an Stück für Stück zu verschlingen.
»Ich will nach Hause«, schluchzte Riley völlig verzweifelt und kämpfte sich auf die Beine. Ohne die geringste Aussicht auf Hoffnung war er kaum in der Lage, sich zu beruhigen. Er atmete hektisch und man sah ihm deutlich an, dass die Furcht vor dem Unbekannten ihn förmlich von innen heraus zerfraß. Das Beben seines kleinen Körpers nahm zu und er konnte nur noch undeutliche Schatten erkennen, so sehr raubten ihm die Tränen die Sicht.
Plötzlich ertönte ein lauter Knall und seine Wange glühte heiß von der Ohrfeige. »Reiß dich gefälligst zusammen! Weißt du, was ich mache, wenn ein Junge wie du nicht spuren will?«
Die Stimme des Mannes hallte wie das Brüllen eines schrecklichen Monsters in Rileys Ohren und er konnte sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten. Mit gesenktem Kopf stand er da und fühlte einen weiteren heißen Schmerz auf der anderen Wange.
Unvermittelt zerriss der Mann Rileys T-Shirt und was anschließend geschah, war das Grauenvollste und Schmerzhaftste, was ein Mensch einem unschuldigen Kind antun konnte, das nicht einmal in der Lage war sich dagegen zu wehren.
Mein Herz hämmerte vor ungezügeltem Zorn und unsäglichem Mitgefühl in der Brust. Doch vor Riley musste ich mich zusammenreißen. Ich hielt kurz den Atem an und schloss dabei die Augen. Sie brannten, denn mein Gesicht war feucht von den Tränen, die mir ungehemmt über die Wangen rollten. Wie ein Ertrinkender drückte ich meinen Bruder voller Liebe an mich. Nebenbei wischte ich ihm die Tränen fort und streichelte ihm beruhigend über den Kopf. Was er mir eben mit seinen Worten mitgeteilt hatte, war für mich kaum zu ertragen. Ich kämpfte mit der aufsteigenden Übelkeit und wünschte mir, all das wäre nur ein Albtraum gewesen.
Wie hilflos musste er sich damals gefühlt haben? Ein kleiner Junge, den die eigene Mutter für Drogen und Alkohol an einen der widerlichsten und skrupellosesten Männer verkauft hatte, den ich kannte. Ein kleiner Junge, der von einem wahren Dämon in Menschengestalt zu Dingen gezwungen wurde, die man nicht einmal einem erwachsenen Menschen antun sollte. Ein kleiner Junge, der niemals eine normale Kindheit hatte erleben dürfen. Riley würde sich bis zu seinem Lebensende schmerzlich daran erinnern und ich war verdammt dazu, ihm lediglich trostspendend zur Seite zu stehen. Gegen Luther Mitchell war selbst die Polizei bislang machtlos.
»Ich liebe dich, kleiner Bruder«, raunte ich ihm beinahe tonlos zu, denn ich war kaum in der Lage überhaupt etwas zu sagen. Meine Gefühlswelt war ein riesiges Durcheinander. Ich verspürte maßlosen Hass, der mit dem Gedanken nach Rache wetteiferte. Zugleich empfand ich Stolz, dass Riley den Mut gefunden hatte, sich mir gegenüber zu öffnen. Wieder einmal hatte er mich überrascht. Mein Bruder war zwar introvertiert und liebte es, allein zu sein. Doch für mich war er in diesem Moment der couragierteste und stärkste Mensch, den ich kannte.
»Danke ... dass du bei mir bist«, flüsterte er und sein Schluchzen wurde leiser.
Immer noch aufgewühlt lauschte ich Rileys Atem, der der kontinuierlich ruhiger wurde und innerhalb von wenigen Minuten war er in meinen Armen eingeschlafen. Vorsichtig löste ich mich von ihm und deckte ihn zu, bevor ich mich umdrehte und sein Zimmer verließ. Ich brauchte dringend Abstand.
Mit geballten Fäusten stand ich im Wohnzimmer und wurde von den Bildern malträtiert, die Rileys Worte in meinem Kopf erzeugten. Nur zu genau erinnerte ich mich an die Begegnung mit Luther Mitchel auf der Beerdigung unseres Vaters zurück. Sein anmaßendes Grinsen und sein insolentes Erscheinungsbild blitzten ständig vor mir auf. Am liebsten hätte ich ihm auf der Stelle die Hände um den Hals gelegt und zugedrückt. Für mich hatte diese Bestie, die sich selbst als Mensch bezeichnete, kein Recht, auch nur einen weiteren Atemzug auf dieser Erde zu tun.
In blinder Wut stürmte ich hinaus auf die Terrasse. Der eisige Wind im Gesicht half mir, endlich wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Zugleich war ich in Versuchung die neuen Gartenmöbel zu Kleinholz zu zertrümmern. Ich griff nach dem erstbesten Stuhl, den ich zu fassen bekam, und schleuderte ihn quer über die Dachterrasse. Schließlich starrte ich bebend am ganzen Körper in die dunkle Nacht hinaus.
Irgendwo dort draußen war Luther. Irgendwo tat dieses Monster anderen unschuldigen Kindern das an, was er meinem Bruder angetan hatte. Ich durfte nicht zulassen, dass er weiterhin unbehelligt sein Unwesen trieb. Doch wie? Wie konnte ich das verhindern? Was konnte ich schon tun?
Mit aller Gewalt schleuderte ich auch den zweiten Stuhl von mir und sah zu, wie das Möbelstück verbogen an der Balustrade liegen blieb. Ich musste hier raus, bevor Riley etwas mitbekam und ich ihn womöglich in meinem Zorn aus Versehen noch verletzte.
Rastlos zog ich irgendwelche Klamotten aus dem Schrank und zog mich an. Danach stürzte ich die Feuertreppe nach unten. Ich nahm bewusst den Hinterausgang, sodass mich niemand sah. Vor allem Jamie nicht, denn im Augenblick wollte ich allein sein. Mit einer brennenden Zigarette in der Hand wanderte ich die Straße entlang. Wohin war mir egal, Hauptsache weit weg. Fortwährend begleitete mich die Frage, wie ich Luther das Handwerk legen konnte, ohne dass mein Bruder etwas davon mitbekam. Vor allem ohne, dass er gezwungen wäre, seine jahrelange körperliche und geistige Folter bei einer möglichen Aussage nochmals durchleben zu müssen.
Plötzlich blieb ich stehen und blickte über meine Schulter zurück. Mein Weg hatte mich unbewusst zu Petes Bar geführt. Also drehte ich um, ging hinein und setzte mich an den Tresen.
Mit schwerem Atem lauschte ich der leisen Musik aus den Lautsprechern und kippte ein Glas Scotch nach dem anderen hinunter, ohne den Geschmack wirklich wahrzunehmen. Heute ging es mir nicht um den Genuss. Ich wollte mir bewusst die Lichter ausknipsen. Nebenbei hielt ich das Handy in der Hand und überlegte fieberhaft, ob ich Christopher anrufen sollte. Ich musste mit ihm reden und ihm berichten, was mein Bruder mir gesagt hatte. Luther musste endlich dingfest gemacht werden ... egal was es kostete.
»Geht’s dir gut?«, vernahm ich jäh eine Stimme, die mich aus meinen Gedanken riss.
Ich drehte den Kopf zur Seite und erkannte überrascht den jungen Burschen, dem ich vor einigen Wochen geholfen hatte. Der gleiche Junge, dem ich in dieser Bar und auch im Park begegnet war. Er sah mich neugierig mit seinen faszinierenden stahlblauen Augen an. Doch momentan verspürte ich keinerlei Lust, mit ihm zu reden.
»Ich bin okay«, gab ich ruppig zurück, drehte mich von ihm weg und blickte in mein halbvolles Glas vor mir.
»Aber dein Gesicht sieht absolut nicht okay aus«, kam die prompte Antwort. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass er neben mir Platz nehmen wollte.
»Was geht es dich an? Steck deine Nase nicht in fremde Angelegenheiten.« Ich unterstrich meine Worte mit einer ernsten Miene und genehmigte mir einen weiteren tiefen Schluck.
Der Junge starrte mich an. »Oh. Du gehst wohl zum Lachen auch in den Keller.«
»Und wenn, dann kann dir das am Arsch vorbeigehen.« Ich drehte ihm demonstrativ den Rücken zu, denn ich wollte meinen Frust eigentlich nicht bei ihm abladen.
»Du hast die Freundlichkeit auch mit Löffeln gefressen.«
Seufzend knirschte ich mit den Zähnen. »Such dir ein anderes Opfer und lass mich in Ruhe.«
Verärgert schnaubte er und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn du schlechte Laune hast, bleib gefälligst zu Hause und maul die Klobürste an!«
Mein Blick wanderte erneut in seine Richtung und ich erkannte Verletztheit hinter den wunderschönen Augen. Sein süßes Lächeln, dass mir so sehr an ihm gefiel, war verschwunden. Im Moment gingen mir jedoch ganz andere Dinge durch den Kopf.
»Nur zur Info ... du hast mich angesprochen. Merkst du nicht, dass ich keinen Bock habe zu quatschen.«
Der Junge seufzte, drehte sich endlich um und ging davon. Doch seine nächsten Worte sprach er laut genug aus, damit ich sie hören konnte. »Jo, du Arschloch, sauf ruhig weiter und fall vom Hocker. Erwarte aber nicht, dass ich dir dann aufhelfe.« Wütend kickte er gegen den nächstbesten Stuhl.
Obwohl ich meinen seelischen Tiefpunkt fast erreicht hatte, stahl sich ein Lächeln in mein Gesicht. Der Kleine hatte irgendetwas an sich, das mich versöhnlich stimmte. Schließlich wählte ich doch Christophers Nummer. Ich benötigte dringend seinen Rat. Dass es mitten in der Nacht war, interessierte mich nicht.
Ich zählte mit und nach dem siebten Pfeifton hörte ich Christophers verschlafene Stimme. »Was ist passiert, Sean?«
»Sorry Kumpel. Riley hat endlich geredet. Er ... er hat mir gesagt ... was Luther mit ihm getan hat«, stammelte ich und umklammerte das Glas so fest mit der Hand, dass die Knöchel weißlich hervorstachen. »Ihr müsst ihn so schnell wie möglich kriegen. Er ... er darf nicht weitermachen.«
Ich vernahm leises Rascheln und dann sprach mein Freund wieder. »Schlaf weiter, Schatz. Ich muss zur Arbeit. Ich rufe dich nachher an.« Nach einer kurzen Pause wandte er sich wieder an mich: »Beruhige dich Sean. Wo bist du? Ich komme vorbei.«
Rasch gab ich ihm die Adresse von der Bar und sagte: »Beeil dich, sonst werde ich heute noch etwas tun, was ich eigentlich nicht tun sollte.« Im gleichen Atemzug bestellte ich mir ein weiteres Glas Scotch.