In Europa machten Max Linder durch seine Realisationen, Canudo durch seine ästhetischen Schlußfolgerungen, Cabiria durch seine Technik an das Kino glauben.
(Lo Duca)
Von der Bühne her an Situationskomik und Sprachliches gewohnt, bemühte sich Linder, weg vom Wort, hin zum Visuellen zu kommen. Raymond Bernard stellt fest, daß Linder gerade dadurch in seiner Ästhetik die zeitgemäße Elégance im Kino realisierte: »Er war immer auf der Lauer nach visuellen Einfällen, inwieweit sie die komische Situation illustrieren konnten oder nicht. Und das Resultat war, daß seine Gags oft von großer Qualität und Elégance waren.« Max Linders Stil kann man mit aller Vorsicht als eine Weiterentwicklung der beiden Ansätze von Lumière und Méliès betrachten. Komisches und Groteskes sind mit den kinematografischen Mitteln auf die einfachste Formel gebracht: »Er ist es und allein er ist es, der sich vor allen anderen an die notwendige Einfachheit des Kinos herangemacht hat« (Louis Delluc). So kann man bei Linder bereits einen ebenso grotesken wie filmischen Effekt finden, den später Buñuel in UN CHIEN ANDALOU als image-choc variieren sollte: eine Kuh im Schlafzimmer (MAX ET JUNE VEULENT FAIRE DU THEATRE/1912). In der Tat liegt für den heutigen Betrachter Linders Bedeutung vor allem in den verblüffend modern wirkenden Szenen des Grotesk-Vulgären und Grotesk-Surrealen. Einmal hat sich in Max Linders Ehebett ein Floh verirrt. Im Kampf mit dem Ungeziefer schlägt er seine ahnungslos schlummernde Frau erst auf den Hintern, dann gießt er über ihr das Nachtgeschirr aus und schießt schließlich mit der Pistole ins gar nicht mehr traute Ehebett. Ein andermal versucht er sich als grünes Bürschchen an zwei mondäne Damen ranzumachen. Diese treiben mit ihm ein übles Spiel, schleppen ihn durch Konditoreien und Bars, und nach dem Konsum zahlreicher Liebesknochen, Likörs etc. verpassen sie ihm schließlich noch eine Zigarre. Max, nun hin- und hergerissen zwischen Übelkeit und Geilheit, kotzt einer der Damen ins Dekolleté (LE PREMIER CIGAR D’UN COLLEGIEN/1906).
Wenn Linders Gegenstand auch der Belle Epoque verhaftet ist, so weist sein Filmstil weit darüber hinaus. Angesichts des Veraltens der Figur und der Sujets von Max Linder treten diese formalen Qualitäten schärfer hervor, und der Blick ist schärfer auf das Wie – und auf das Originelle konzentriert. Auf das Originelle insofern, als hier vieles aus dem Repertoire des Slapstick und der Filmkomödie überhaupt erstmals in kinematografische Formen gebracht ist. Jack Spears hat in Films in Review (5/1965) einige Beispiele dafür zusammengetragen, wie Linder alte Bühnengags und neue Filmgags erstmalig ins Kino bringt und wie diese sich vielfach imitiert und variiert durch die ganze Filmgeschichte verfolgen lassen; Beispiele, die sich – wie auch dieser Text zeigt – fast beliebig fortsetzen lassen. Auch in diesem Sinne ist Linder einer der Gründerväter des Kinos. Toreroszenen in MAX TOREADOR (1913), der unfreiwillige Torero mit dem Tischtuch in MAX ET LE QUINQUINA (1911), als Boxer in MAX BOXEUR PAR AMOUR (1912), das Fotoatelier und Filmatelier als Schauplatz der Komödie in MAX FAIT DE LA PHOTO (1913) und LES DEBUTS DE MAX AU CINEMA (1910), das widerspenstige Piano in MAX VIRTUOSE (1913) (eine Szene, die sich u.a. bei Sennett, Langdon, Laurel/Hardy, Abbott / Costello und sogar Grock wiederholt!) und weitere widerborstige Dinge wie ein Flugzeug und ein Telefon (MAX AERONAUTE / 1909, MAX ET LE TELEPHONE), Spiegelfechtereien hinter einem Vorhang und der zerschlagene Spiegel, dessen Funktionen ein feixender Domestike ersetzt in BE MY WIFE / 1920 (u.a. von den Marx Brothers, Laurel und Hardy, Harold Lloyd und Moser/Lingen später variiert; Chaplins verrückte homosexuelle Spiegelszene im FLOORWALKER geht allerdings schon auf das Jahr 1916 zurück).
Max Linder in SEVEN YEARS BAD LUCK/1921. Der Komiker und sein falsches Doppelbild: die Fortsetzung von Music-Hall-Techniken mit den Mitteln des Kinos.
Schließlich in AU SECOURS! das vereinigte Inventar des Grand Guignol. »Wenn Sie Angst haben, dann denken Sie eben daran, daß Sie bald herzlich lachen werden. Diese Massage des Geistes, dies Wechselbad der Einbildungskraft hat irgend etwas Hygienisches. Der ruppige Massagehandschuh der düsteren, blutigen und rohen Farce versetzt Sie (welcher Kontrast!) in den Zustand der Aufgeräumtheit. Und das liebliche Flair der Aufregung, das auf die erfrischende Dusche der Heiterkeit folgt, macht Sie wieder vollends munter. Man verläßt das Grand Guignol weit weniger ›gerädert‹, als man von homogeneren Schauspielen zurückkehrt« (Gérard d’Houville). Bei Linder spottet der (und das) Grand Guignol seiner selbst: Ein kleiner fetter Puck läuft in einem unheimlichen Schloß überall hinterher und läßt zu seinem Amüsement das Genre aus den Fugen geraten; in einer Szene stemmt sich Max mit letzter Kraft gegen ein Tor, und als das Tor endlich aufgeht, steht dort kein Monster, das es zugedrückt hätte, sondern ein Entlein watschelt zwischen seinen Beinen hindurch.