Leider konnte man nicht so schnell feiern, wie der Franc fiel und sich der Himmel verdüsterte. Die französischen Truppen kehrten vom Rhein zurück, doch der deutsche Nachbar blieb unheimlicher denn je, und in Marokko begann schon ein neuer Krieg. Die Clowns wurden tragisch. Chaplin mit den durchlaufenen Schuhen bot echtes soziales Ressentiment. Sein französischer Bruder, Max Linder, öffnete sich die Pulsadern, nachdem er in seinem letzten Film als König des Spiels brilliert hatte. Eine Zeitung schrieb: ›Seine Wunden waren häßlich. Das Blut ergoß sich über den Fußboden.‹ Die Dadaisten hatten eines ihrer Spiele ›der köstliche Leichnam‹ genannt.
(Wolfgang Koeppen)
Wenn man die Wirkungsgeschichte Max Linders verfolgt, stößt man immer wieder auf Chaplin. »Max im Elend« hat Sadoul den von Chaplin verkörperten Tramp genannt. Ein von Jacques Feyder 1916 geschaffenes Serial, das die Figur Charlies psychologisch beleuchtet, heißt LE PIED QUI ETREINT, in deutlicher Anspielung auf Max Linders von 1912 bis 1915 entstandene Folge MAX ET LA MAIN QUI ETREINT. Chaplins Flirttechnik, seine Trunkenbolde und seine Gesichtskomik stimmen mit Linder weitestgehend überein. Chaplin selbst hat Linder einmal eine Widmung geschrieben: »Dem einen und einzigen Max, dem ›Professor‹, von seinem Schüler.« Frühe Filmrollen Chaplins sind auch im Kostüm noch Linder-Imitationen (z.B. sein erster Film MAKING A LIVING oder MABEL AT THE WHEEL/beide 1914), ja es ist aufgrund der vorhandenen Dokumente sogar zu vermuten, daß Chaplin zu Karnos Zeiten ein Linder-Imitator war. Mack Sennett engagierte Chaplin aufgrund seiner Rolle als betrunkener Dandy in »Eine Nacht in einer englischen Music Hall«. In seinem Film A NIGHT IN THE SHOW (1915) greift Chaplin auf diese Varietérolle zurück und spielt einen eleganten Linderschen Trunkenbold. Auch in ONE A.M. (1916) kommt Chaplin Linder sehr nahe. Später kreuzen sich Linder und Chaplin noch wiederholt. THE CIRCUS (1927) ist offenbar von Linders letztem Film, LE ROI DU CIRQUE (1925), beeinflußt; die Verfolgungsjagd im Luna-Park findet man schon in den ersten Burlesken Linders. Der Anfang von CITY LIGHTS scheint von MAX AND HIS TAXI/1917 adaptiert, wo der betrunkene Max zwischen taumelnden Telegrafenmasten umherirrt. Chaplins reifster Film, M. VERDOUX, endlich kehrt wieder stark zu Linder zurück.
Max Linder seinerseits mußte bei zwei Amerikaaufenthalten nach 1917 feststellen, daß Chaplin seine Figur nicht nur adaptiert, sondern erfolgreich und genial weiterentwickelt hatte. Während Linder mit dem Ende der Belle Epoque im Verlauf des Ersten Weltkriegs und der alle Schichten drastisch erfassenden Konkurrenz – zumal in den USA – veraltete, wuchs Chaplin zu geradezu mythischer Größe. Das Verhältnis Linder – Chaplin kehrte sich nun um, der Lehrer wurde zum Schüler. Linders Filme enttäuschten jetzt im Vergleich zu Chaplin. In SEVEN YEARS BAD LUCK (1921) spielt Linder als blinder Eisenbahnpassagier eine an Chaplins Tramp angelehnte Rolle. Aber die Verwandlung glückte nicht und wurde – verbunden mit einigen Ungeschicktheiten in der Publicity – als Nachäffung Chaplins schlecht aufgenommen; Linder war einfach zu sehr identisch mit der Belle Epoque.
Beim ROI DU CIRQUE (1925), knapp ein Jahr vor Linders verzweifeltem Selbstmord, fällt es vollends schwer, festzustellen, wer hier von wem profitiert. Da entwickelt sich z.B. folgende Szene: Max wird betrunken aus einem Restaurant hinausbefördert, klammert sich an einen schwankenden Oleanderbaum, gerät in die Drehtür seines Hotels, wird wieder auf die Straße hinauskatapultiert, sieht ein Schaufenster mit einem Schlafzimmer, wird durch die Fensterscheibe am Betreten gehindert und findet schließlich doch noch ins falsche Bett. Oder sein effeminierter Umgang mit Männern, wenn Gefahr in Verzug ist: Vor seinem wütenden Onkel tänzelt er auf und ab, und den hünenhaften Emilio behandelt er einfach, als wäre er Kunde eines Fotoateliers. Kracauer, der Zeitgenosse, meint, es wären chaplineske Szenen, die Linder von jeher zu gestalten wußte. Jedenfalls enthüllen die nach 1917 entstandenen Filme die ganze Tragödie eines Künstlers, der plötzlich feststellen muß, die lebendige Vorgeschichte einer anderen, zeitlosen Künstleridentität zu sein. Vielleicht sollte man wahrheitsgemäß sagen: Der frühe Chaplin beginnt 1905 bei Max Linder.