B eth wachte wieder einmal mitten in der Nacht mit tränennassen Wangen auf. Wie so oft hatte sie von der schrecklichen Zeit geträumt, in der sie ihre Mutter angefleht hatte, Mark heiraten zu dürfen, und Mrs. Grey sich geweigert hatte, ihr auch nur zuzuhören. Beth schlug die Bettdecke zurück, schlich über den Flur ins Bad und schloss die Tür ab, bevor sie sich das Gesicht wusch. Sie wollte nicht von Tante Helen gefragt werden, warum sie geweint hatte.
Außerdem war es lächerlich zu weinen. Ihr Leben war besser als seit Langem, und sie freute sich schon sehr darauf, in der kommenden Woche bei Harpers mit der Arbeit zu beginnen. Sie fand es spannend, all die neuen Dinge zu entdecken, und der Umgang mit der ihr zugeteilten Ware gefiel ihr. Noch war ihre Theke nur halb gefüllt, aber die weichen Lederhandschuhe und feinen Seidenschals, die sie bereits gesehen hatte, waren qualitativ so gut, dass sie sich jetzt schon freute, sie ihren Kundinnen zu zeigen.
Auch der Gedanke an die neuen Freundinnen, die sie bei Harpers gewonnen hatte, heiterte sie ein wenig auf. Sally war einsam, das hatte sie ihr angemerkt. Sie schien zwar voller Selbstvertrauen zu sein, doch das war nur die Fassade, hinter der Beth das verletzliche junge Mädchen gesehen hatte, das sie wirklich war. Beth wünschte nur, sie könnte ihr helfen. Selbst das Haus ihrer Tante musste sehr viel komfortabler sein als das Wohnheim, in dem Sally leben musste.
Beths Gedanken glitten von Sally zu dem jüngeren Mädchen namens Maggie. Sie schien ein sanftes, umgängliches Wesen zu haben, auch wenn sie vielleicht ein bisschen schüchtern war. Beth mochte sie und Sally und freute sich schon darauf, den beiden Mädchen von nun an täglich bei der Arbeit zu begegnen. Sie war mehr als dankbar für die Chance, bei Harpers arbeiten zu können, und sogar Tante Helen hatte heute Abend entspannter gewirkt, sodass sie sich einigermaßen gut verstanden hatten. Vielleicht würde es jetzt aufwärtsgehen in ihrem Leben. Auf jeden Fall aber würde es für sie beide besser sein, wenn Beth tagsüber aus dem Haus war und ein bisschen Geld verdiente.
Der einzige dunkle Fleck am Horizont war ihre unerwartete Begegnung mit Mark und dass er reagiert hatte, als ob sie ihn damals mit voller Absicht fallengelassen hätte. Beth schüttelte den Kopf. Von dieser zufälligen Begegnung mit ihm würde sie sich jedenfalls nicht die Freude an ihrem neuen Job verderben lassen.
Während Beth leise zu ihrem Zimmer zurückging, weil es gerade erst vier Uhr morgens war, dachte sie über ihre Abteilungsleiterin nach. Bisher wusste sie kaum etwas über Mrs. Craven, nur dass sie verwitwet war, was sie ihnen ja selbst erzählt hatte. Aber sie schien recht nett zu sein – streng, aber gerecht –, und das war es schließlich, was man sich von einer Vorgesetzten wünschte.
Beth legte sich wieder ins Bett. Aus Tante Helens Zimmer hatte sie keinen Laut gehört, was auch besser war, da ihre Tante sehr hart arbeitete und ihre Ruhe brauchte. Das Glas Sherry, das sie zur Feier von Beths Einstellung getrunken hatten, musste ihr beim Einschlafen geholfen haben. Beth lächelte, als sie sich an das gerötete Gesicht ihrer Tante nach dem ungewohnten Getränk erinnerte, das sie sich beide nur zu besonderen Gelegenheiten gönnten.
Beth drehte sich ruhelos im Bett von einer Seite auf die andere. Es waren die Gedanken an Mark, die sie wachhielten, aber sie bemühte sich, sich zu beruhigen und die zufällige Begegnung mit ihm zu vergessen. Es war absurd, sich über etwas den Kopf zu zerbrechen, das unmöglich noch von Bedeutung sein konnte. Sie wusste schließlich, dass dies alles lange vergangen war … oder etwa nicht?
Sie wollte noch ein paar Stunden schlafen, also verdrängte Beth die Begegnung entschieden aus ihren Gedanken. Sie hatte einiges zu erledigen an diesem Wochenende, denn wenn sie erst einmal richtig zu arbeiten begann, würde sie keine Zeit mehr dazu haben …
***
Rachel Craven zündete den kleinen Gaskocher in ihrem Zimmer an, setzte den Wasserkessel auf und kochte sich eine Kanne Tee. Sie lag schon seit einer halben Stunde wach, und es musste schon kurz vor sechs sein. In Zukunft würde sie sowieso um sechs Uhr aufstehen müssen, wenn sie früh genug zur Arbeit kommen und den Mädchen ein gutes Beispiel geben wollte. Außerdem brauchte sie inzwischen ohnehin nicht mehr viel Schlaf. Sie hatte kaum eine ganze Nacht lang durchschlafen können, als Paul im Sterben lag.
Für einen Moment setzte der Schmerz über den Tod ihres Mannes ihr wieder heftig zu. War es wirklich erst zwei Jahre her, seit man ihr mitgeteilt hatte, dass seine Krankheit unheilbar war und sie sein langsames Abgleiten in furchtbare Schmerzen und einen qualvollen Tod miterleben musste, was sie innerlich blutige Tränen weinen ließ? Niemals würde sie jene letzten Wochen und Tage vergessen, in denen ihr bereits bewusst gewesen war, dass sie ihn verloren hatte. Denn ihr Mann war schon von ihr gegangen, bevor der Tod ihn holte, weil seine Schmerzen ihn wütend und verbittert gemacht hatten – wütend auf die Frau, die ihn bis zum Schluss geliebt und hingebungsvoll umsorgt hatte, und verbittert, weil er starb und sie weiterleben würde. Erst ganz zum Schluss hatte er ihr gesagt, dass er sie immer geliebt habe und dass sie ihm verzeihen möge – was sie getan hatte, aber der Schmerz war unendlich tief gewesen.
Danach war sie ausgelaugt und leer zurückgeblieben, zu müde und erschöpft, um richtig zu trauern. Sechs Monate hatte sie gebraucht, um aus dieser Hölle zurückzukehren, und das auch nur, weil es schlicht und ergreifend lebensnotwendig gewesen war. Es hatte sie fassungslos gemacht festzustellen, dass Pauls Ersparnisse fast völlig aufgebraucht waren. Die Arzthonorare und anderen Ausgaben in den Monaten seiner Krankheit hatten einen Großteil des Geldes verschlungen. Paul hatte als Büroleiter gearbeitet, aber nie besonders viel verdient, und er war ein großzügiger Mann gewesen, der stets für wohltätige Zwecke gespendet und auch Freunden in Not geholfen hatte, ohne jemals zu bedenken, dass einmal der Tag kommen konnte, an dem er nicht mehr in der Lage sein würde zu arbeiten. Es war genug zum Leben da, wenn Rachel sehr umsichtig war, aber nach Pauls Tod hatte sie ihr hübsches kleines Haus aufgeben und sich ein Zimmer mieten müssen. Sie hatte das Glück gehabt, Mrs. Malone zu treffen, eine irische Witwe, die eine kleine Pension für seriöse Damen führte. Drei weitere Frauen lebten unter demselben Dach wie Rachel: eine Witwe mit bescheidenen Mitteln und zwei ledige Schwestern, die sich mit Näharbeiten über Wasser hielten.
Paul hatte Rachel nie erlaubt, eine Arbeitsstelle anzunehmen. Sie war seine Frau und er ihr Versorger, der darauf bestand, dass sie zu Hause blieb, sich um seine Bedürfnisse kümmerte und ansonsten ihr Leben führte, wie es ihr gefiel. Rachel hätte weiterhin als Assistentin ihres Vaters in seiner Anwaltskanzlei arbeiten können, wenn er nicht kurz nach ihrer Heirat gestorben wäre, aber Paul war strikt dagegen gewesen und ihr hatte es nichts ausgemacht. Beide hatten sich Kinder gewünscht, aber nach seiner Erkrankung hatte er ihr gestanden, dass er sogar froh darüber war, keine Kinder zu haben, da seine Krankheit erblich war.
Seine Worte hatten Rachel das Herz gebrochen. Sie hatte ihre beiden Eltern durch Typhus verloren, als sie gerade einmal zwanzig Jahre alt gewesen war. Die einzige Blutsverwandte, die sie noch hatte, war eine Schwester, die in Hastings-on-Sea lebte und mit ihrem Mann eine Pension betrieb. Sie hatten drei Kinder, aber Hazel schickte ihr höchstens einmal eine Karte zu Weihnachten und war viel zu sehr mit ihrer eigenen Familie beschäftigt, um Rachel zu schreiben. Selbst nach Pauls Tod hatte sie ihr nur eine dieser Beileidskarten mit schwarzem Rand geschickt, die Rachel wegwarf, weil sie ihren Anblick nicht ertragen konnte.
Nach Pauls Tod hatte sie beschlossen, sich Arbeit zu suchen, weil sie nicht die Art von vornehmer Armut riskieren wollte, die die beiden unverheirateten Schwestern ertrugen. Zunächst hatte sie sechs Monate lang eine kleine Kurzwarenhandlung für ein jüdisches Ehepaar geführt. Mr. Samuels war krank gewesen, als er sie einstellte, doch inzwischen war er wieder gesund, und obwohl er nichts dergleichen sagte, hatte Rachel gewusst, dass er sein Geschäft gern wieder selbst übernehmen wollte. Er hatte ihr ein glänzendes Zeugnis für Harpers mitgegeben, und sie war bei ihm vorbeigegangen, um sich zu bedanken, nachdem sie ihre neue Arbeitsstelle erhalten hatte.
Er hatte sich für sie gefreut, aber sie hatte gespürt, dass er auch erleichtert war. Rachel trank einen Schluck von ihrem Tee und dachte über die Stelle nach, die sie bei Harpers angenommen hatte. Es war ein guter Posten und mehr als doppelt so gut bezahlt, wie Mr. Samuels es für angebracht gehalten hatte. Vielleicht verdiente sie sogar genug, um sich eines Tages wieder eine eigene Wohnung zu suchen, obwohl sie dazu zunächst einmal einen ordentlichen Notgroschen ansparen müsste, um sich keine Sorgen darüber machen zu müssen, wie sie die Rechnungen bezahlen sollte. Im Moment fühlte sie sich hier jedenfalls noch ganz wohl. Mrs. Malone war zwar ein bisschen neugierig, aber auch humorvoll, aufrichtig und freundlich. Rachel vermutete, dass sie die Sachen ihrer Mieterinnen durchstöberte, wenn diese nicht im Haus waren. Es fehlte nie etwas, aber manchmal waren Kleinigkeiten verrückt oder umgestellt. Vielleicht will sie ja nur sichergehen, dass ihre Mieterinnen das sind, was sie zu sein behaupten, dachte Rachel schmunzelnd.
Mrs. Malone versorgte sie morgens zum Frühstück mit Toast, Marmelade und Grapefruit aus der Dose, und auf Wunsch bereitete sie auch ein Abendessen zu. Die schon ein Jahrhundert zuvor erfundenen Konserven waren ein wahrer Segen für Leute wie ihre Vermieterin, die bei jeder Gelegenheit darauf zurückgriff, anstatt frisch zu kochen. Rachel aß für gewöhnlich mittags nur eine Suppe und kaufte später Schinken oder dergleichen, um sich abends in ihrem Zimmer einen Salat oder ein Sandwich zu machen, weil sie die schweren Eintöpfe und Pasteten, die die beiden ältlichen Schwestern jeden Abend hungrig verschlangen, nicht mochte. Zusammen mit Rachels einst so friedvollem Schlaf schien auch ihr Appetit verschwunden zu sein.
Das Leben ohne Paul war ihr trostlos erschienen, trotz der Qual und Trauer über seine Krankheit, als er noch lebte. Aber mit etwas Glück würde sie bei Harpers hoffentlich eine interessante neue Aufgabe und sogar ein paar neue Freunde finden.
Sie musste selber über ihre törichten Gedanken lächeln, während sie ihren Tee austrank. Schließlich spülte sie ihre Tasse in dem kleinen Waschbecken aus und ging dann über den Flur zum Badezimmer. Sie würde gewaschen, angezogen und aufbruchsbereit sein, lange bevor sich die altjüngferlichen Schwestern rührten. Sie waren sehr höflich, die beiden, und fragten immer zuerst Rachel, ob sie das Bad brauchte, weil sie, wie sie zu sagen pflegten, »arbeiten musste«. Die exquisiten Stickereien, die sie anfertigten, aber kaum genug einbrachten, um ihre Miete zu bezahlen, waren dagegen keine »Arbeit« – weil die für Papas Mädchen inakzeptabel gewesen wäre. Rachel hatte schon viel von dem strengen Vater der beiden Schwestern gehört, der sie zu Hause behalten hatte, um sich von ihnen bedienen zu lassen, eine Heirat der beiden strikt abgelehnt und sie dann arm wie Kirchenmäuse zurückgelassen hatte, als er starb. Sein Besitz hatte verkauft werden müssen, um seine Schulden zu begleichen, und die Schwestern wären mit ihrem winzigen Einkommen verhungert, wenn Mrs. Malone nicht ein paar Kundinnen aus ihrem Freundeskreis für sie gefunden hätte.
In Gedanken versunken zog Rachel ihr adrettes graues Kleid mit dem weißen Spitzenkragen an, den sie mit einer goldenen Kamee-Brosche am Hals befestigte – bis ihr plötzlich wieder einfiel, dass sie bei der Arbeit ja keinen Schmuck tragen sollten, und sie die Brosche also wieder abnahm. Minnie und Mildred stellten wunderschöne Stickarbeiten her, für die sie vielleicht viel mehr hätten verlangen können, wenn sie wüssten, wo sie sie verkaufen könnten, dachte Rachel. Aber die beiden schämten sich, überhaupt etwas dafür zu nehmen, und akzeptierten selbst die kleinen Entgelte nur widerwillig, die Mrs. Malones Freundinnen zu zahlen bereit waren.
Bei Harpers war Platz für eine ganze Reihe von stilvollen Abendkleidern mit schönen Stickereien. Rachel hatte sich die Kleiderstangen angeschaut und fand das Wenige, was bisher an Ware eingetroffen war, längst nicht so exklusiv, wie es sein könnte – aber vielleicht lag Harpers ja am falschen Ende der Oxford Street, um exklusive Kleider mit solch fabelhaften Details anbieten zu können, wie Minnie und Mildred sie herstellen konnten. Harpers war mehr ein Geschäft für Konfektionsware als für Maßanfertigungen. Außerdem war es nicht ihre Abteilung, und die Schwestern waren wahrscheinlich zu schüchtern, um ihre Arbeit dort anzubieten, selbst wenn sie es ihnen vorschlagen würde …
Rachels Gedanken wandten sich einem anderen Thema zu. Sie hatte sich ein Bild von den drei Mädchen gemacht, die unter ihrer Leitung bei Harpers arbeiteten. Sally schien sich als leitende Verkäuferin gut mit der Materie auszukennen, auch wenn sie dazu neigte, manchmal ein bisschen unbesonnen oder sogar ziemlich unverblümt zu sein. Ich werde sie eine Zeitlang im Auge behalten müssen, dachte Rachel. Maggie dagegen war ein reizendes Mädchen, ein bisschen schüchtern, aber sehr bereitwillig – und Beth … Ein anerkennendes Lächeln erschien auf Rachels Lippen. Beth war fleißig und intelligent, ganz so, wie sie es in ihrem Alter gewesen war. Rachel mochte sie und dachte, dass sie sie gerne besser kennenlernen würde, denn obwohl sie ihrer Position als Vorgesetzte gerecht werden musste, erhoffte sie sich doch ein gutes Verhältnis zu allen drei Mädchen.
Rachel hatte das Wochenende frei und beschloss, eine Busfahrt zu machen und Pauls Mutter zu besuchen, die in einem grünen Vorort am Stadtrand lebte. Rachels Schwiegermutter hatte in fortgeschrittenem Alter noch einmal geheiratet und verfügte, obwohl sie inzwischen wieder Witwe war, über genügend Geld für ein angenehmes Leben. Sie hatte Rachel angeboten, sie bei sich aufzunehmen, als sie erfuhr, dass Pauls Ersparnisse fast verbraucht waren. Rachel hatte sich bei ihr bedankt, ihr Angebot aber abgelehnt, weil sie und ihre pedantische Schwiegermutter sich nie besonders gut verstanden hatten. Paul war ihr einziges Kind gewesen, und sie neigte dazu, zu besitzergreifend zu werden, auch wenn sie auf ihre Art ganz nett war. Rachel besuchte sie weiterhin gelegentlich, da ihre Schwiegermutter nur wenige Freunde hatte und Paul gewollt hätte, dass sie in Verbindung mit ihr blieb.
Sie würde noch schnell bei der kleinen örtlichen Bäckerei vorbeischauen, die von einem französischen Koch geführt wurde, und ein paar ausgefallene Stücke Kuchen mitnehmen. Edna war stets sehr angetan von einer Bakewell-Torte oder ein paar Sahnehörnchen …