M aggie machte an jenem Tag um die gleiche Zeit wie immer Feierabend und nahm den Bus nach Hause. Von der Haltestelle ging sie zum Ende der Straße und bog in das Sträßchen ein, in dem das Reihenhaus ihres Vaters lag. Die Eingangsstufe sah ungepflegt aus und war offensichtlich schon seit Tagen nicht mehr gereinigt worden. Während Maggie sich vornahm, sie am nächsten Morgen noch vor der Arbeit gründlich abzuschrubben, ging sie um das Haus herum und betrat es durch die Küchentür. Sofort sah sie, dass ihre Mutter nicht daheim war, denn das Feuer im Herd war sich selbst überlassen worden und schon fast vollständig erloschen.
Maggie holte schnell einen Eimer Koks aus dem Schuppen im Hof und schaffte es, das Feuer wieder anzufachen. Erleichtert füllte sie einen Wasserkessel und stellte ihn auf den Herd. Es würde eine Weile dauern, bis es kochte, denn das Feuer musste erst wieder in Gang kommen, um den Herd ausreichend zu erhitzen.
Wo war ihre Mutter hingegangen? Als Maggie sich umsah, dachte sie, dass sie fast den ganzen Tag außer Haus gewesen sein musste, denn nichts war aufgeräumt oder geputzt, und die Bügelwäsche türmte sich im Korb. Ihre Mutter musste schon kurz nach ihr das Haus verlassen haben, denn sogar das Frühstücksgeschirr ihres Vaters stand noch in der Spüle.
»Mama? Wo bist du? Mama?«, rief sie, obwohl sie wusste, dass ihre Mutter nicht zu Hause war. »Papa? Geht’s dir gut, Papa?«
Ein Frösteln ergriff sie, als sie die Treppe hinauflief. Wie konnte ihre Mutter einfach weggehen und ihn so lange allein lassen? Es war zwar nicht kalt im Haus, weil Frühling war, aber er brauchte mehr Wärme, wenn er den ganzen Tag nur im Bett lag. Normalerweise hielt die Hitze des Küchenherds sein Zimmer warm, aber der Herd war kalt gewesen …
Als Maggie in sein Zimmer stürmte, sah sie ihren Vater ausgestreckt am Bettrand liegen, der Kopf in einer unnatürlichen Haltung. Seine Beine baumelten kraftlos vom Bettrand herab, und als sie nähertrat, nahm sie den scharfen Geruch von menschlichen Exkrementen wahr und wusste, dass er sich besudelt hatte. Wahrscheinlich war das der Grund gewesen, warum er versucht hatte aufzustehen.
»Schon gut, Papa … das macht nichts, ich werde dich im Nu wieder sauberhaben«, sagte Maggie beruhigend und ging zu ihm – doch kaum berührte sie seine Hand, erschrak sie über deren Kälte. »Oh nein, Papa! Nein, nein – bitte nicht!« Ihr Angstschrei ging in ein verzweifeltes Schluchzen über, als sie sein Gesicht genauer betrachtete und sah, wie bleich es war. »Oh bitte, bitte, Papa … lass mich nicht allein …«
Doch Maggie wusste, dass es zu spät war. Ihr Vater war gestorben, ganz allein und unter Qualen. Er musste versucht haben, die Toilette zu erreichen, und war dabei über der Bettkante zusammengesackt. Dann sah sie die leere Laudanum-Flasche auf dem Boden liegen und stöhnte auf. Sie war noch voll gewesen, als sie morgens gegangen war … Tränen strömten ihr über die Wangen. Minutenlang konnte sie nur bittere Tränen weinen und ihren Vater anflehen aufzuwachen, obwohl sie wusste, dass er das nie wieder tun würde. Sie musste Hilfe holen. Für ihn war es zu spät, das wusste sie, aber sie musste einen Arzt kommen lassen, einen Arzt und den Bestatter. Und so wischte sie sich die Augen am Ärmel ihres Kleids ab und ging die Treppe wieder hinunter und zu ihrem nächsten Nachbarn.
Mr. Jones öffnete die Tür, warf einen Blick auf ihr Gesicht und sagte: »Ich komme auf der Stelle, Kind. Es geht um deinen Vater, nicht?«
»Ich glaube, er ist tot«, sagte Maggie mit zittriger Stimme nach einem unsicheren Atemzug. »Ich muss den Doktor benachrichtigen und …« Ihre Stimme versagte, aber sie riss sich zusammen. »Und die Polizei sollte wohl auch herkommen, glaube ich.«
Ihr Nachbar machte ein grimmiges Gesicht. »Ja, Kind, das denke ich auch. Ist deine Mutter wieder mal nicht da? Sie war ganz schön viel unterwegs in letzter Zeit …«
Maggie nickte und schluckte mühsam. »Der Herd war aus, als ich nach Hause kam«, sagte sie und sah, wie Mr. Jones die Stirn runzelte. »Mein Vater hatte sich beschmutzt, als er versuchte, allein aus dem Bett herauszukommen, um zur Toilette zu gehen …«
»Du gehst jetzt zu meiner Mabel in die Küche«, sagte Mr. Jones freundlich. »Ich werde selbst einmal nachschauen und dann den Arzt holen. Er wird entscheiden, was du als Nächstes tun solltest, Maggie.«
»Ich gehe besser wieder hinüber und warte dort«, antwortete Maggie mit gedämpfter Stimme. »Sagen Sie Mabel, dass ich später vorbeikommen werde, weil ich Papa jetzt nicht allein lassen will.
»Wenn es dir lieber ist«, stimmte ihr Nachbar zu und lächelte betrübt. »Aber es ist nicht deine Schuld, mein Kind. Ich habe Rob vergangene Woche noch gesehen, und er hat mir erzählt, was für eine gute Tochter du ihm immer warst. Es tut mir nur leid, dass ich heute nicht hier war, aber ich habe die ganze Woche Überstunden gemacht.«
»Danke für alles«, sagte Maggie.
Bevor ihr wieder die Tränen kamen, drehte sie sich um und ging zu ihrem Haus zurück. Der Kessel hatte mittlerweile zu kochen begonnen, und so nahm sie ihn vom Herd und ging wieder hinauf zum Zimmer ihres Vaters, wo sie das Fenster einen Spalt öffnete, um den Raum ein bisschen durchzulüften. Für einen Moment überlegte sie, ob sie ihn nicht säubern sollte, bevor irgendjemand kam, entschied sich dann aber dafür, alles so zu belassen, wie es war, einschließlich der leeren Laudanum-Flasche auf dem Boden.
Maggie versuchte, die schrecklichen Verdächtigungen, die sich ihr aufdrängten, auszublenden. Sie durfte sich auf gar keinen Fall erlauben, so etwas Furchtbares zu denken. Mrs. Craven hatte recht gehabt, als sie sagte, das Laudanum habe bei ihrem Vater Halluzinationen ausgelöst. Ihre Mutter hätte ihm doch wohl niemals absichtlich eine Überdosis der Droge verabreicht und wäre dann ausgegangen, um ihn allein sterben zu lassen – oder vielleicht doch?
Wohl wissend, dass sie gegen solche Verdächtigungen ankämpfen musste, setzte Maggie sich auf einen Stuhl neben ihren Vater und streichelte ihm den Kopf. »Es tut mir so leid, mein liebster Papa«, flüsterte sie, während ihr die Tränen über die Wangen rannen. »Du weißt, wie sehr ich dich geliebt habe, und ich bereue es von ganzem Herzen, dass ich dich den ganzen Tag allein gelassen habe. Ich hätte hier bei dir bleiben sollen …«
Maggie hätte nicht sagen können, wie lange sie dort bei ihrem Vater saß, aber es war längst nicht lange genug. Denn mit einem Mal waren der Arzt und ihr Nachbar da, und dann hatte der Doktor Mr. Jones zur Polizei geschickt, um sie zu informieren. Die Beamten kamen und machten sich Notizen, während sie Maggie endlose Fragen danach stellten, wann sie heimgekommen und wo ihre Mutter sei.
»Ich weiß nicht, wo sie ist«, antwortete Maggie ehrlich. »Ich habe den gleichen Bus wie immer um zehn vor sechs genommen, und es muss schon fast halb sieben gewesen sein, als ich heimkam. Als ich in die Küche kam, war der Herd aus, also habe ich Kohle nachgefüllt, das Feuer wieder angefacht und den Wasserkessel aufgesetzt … und dann bin ich zu meinem Vater hinaufgegangen …« Ihre Stimme schlug in ein Schluchzen um.
»Ich denke, Sie sollten Miss Gibbs zu Ihnen nach nebenan mitnehmen«, sagte der Polizist zu ihrer Nachbarin. »Machen Sie ihr einen heißen, süßen Tee und geben Sie ihr etwas zu essen. Wir beenden unsere Arbeit hier und bringen Ihnen den Schlüssel dann vorbei.«
Maggie protestierte, aber sie wurde überstimmt und in die warme Küche im Nachbarhaus geführt, wo Mabel Jones ihr ein dickes Stück Brot und einen Becher heißen Tee mit drei Stück Zucker darin reichte. Das Brot konnte Maggie kaum hinunterzwingen, aber der heiße Tee tat ihr gut, und so nahm sie dankbar noch einen zweiten an.
»Es ist der Schock, Liebes«, sagte Mabel bekümmert. »Er war so ein reizender Mann, dein Vater, Maggie. Jeden Tag, wenn er zur Arbeit ging, hatte er ein Lächeln und ein Winken für uns – und wenn es etwas gab, wobei er helfen konnte, war er da.«
»Ja, das weiß ich.« Maggie wischte sich die nassen Wangen ab. »Er war wunderbar, und ich habe ihn sehr geliebt.«
»Ja, das weiß ich«, sagte ihre Nachbarin. »Ich habe deiner Mutter immer angeboten, auf ihn aufzupassen, wenn sie irgendwo hinging, aber sie ist zu stolz, deine Mutter.«
»Ich verstehe nicht, wie sie ihn allein lassen konnte«, sagte Maggie schluchzend. »Es ist meine Schuld. Ich hätte zu Hause bleiben und ihn pflegen sollen, anstatt mir Arbeit außerhalb zu suchen.«
»Oh nein, es ist natürlich nicht deine Schuld, Liebes …«
»Ist es doch! Mama war zu erschöpft, weil sie sich immer allein um ihn kümmern musste …«
»Mit dem Geld, das die Firma ihm zuerkannt hat, hätte sie sich eine Krankenschwester leisten können«, sagte Mabel und schüttelte den Kopf. »Tausend Pfund sind eine Menge Geld, Maggie. Deine Ma musste nicht alles selbst machen, und das habe ich ihr auch gesagt – worauf ich die Antwort bekam, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern.«
Maggie starrte sie fassungslos an. »Die Firma hat meiner Mutter tausend Pfund gezahlt? Ich wusste nicht einmal, dass überhaupt irgendeine Entschädigung gezahlt worden war!« Ihre Mutter hatte sie mit keinem Wort erwähnt und ihr Vater auch nicht, was aber nur bedeuten konnte, dass auch er es nicht gewusst hatte!
»Dein Vater hat bei seiner Firma in eine Versicherung einbezahlt, und die gleiche Summe, die er selbst einzahlte, zahlte auch die Firma für ihn ein. Das Geld aus dieser Versicherung hat deine Mutter vor einem Monat erhalten.«
Maggie spürte, wie eine jähe Wut in ihr aufstieg. Ihr Vater hätte gar nicht allein bleiben müssen, wenn ihre Mutter das Haus verließ! Für ein paar Schilling in der Woche hätte jede der Frauen in ihrer Straße sich zu ihm gesetzt und geholfen, ihn zu pflegen und ihn sauber zu halten! Oder was sogar noch besser gewesen wäre, sie selbst hätte zu Hause bleiben können, um ihrer Mutter zu helfen. Aber sie hatte die Nachricht von der Entschädigung für sich behalten! Warum hatte sie das getan, wo sie doch ihrer aller Leben so viel leichter hätte machen können? Und weshalb war sie heute überhaupt weggegangen und hatte ihren Vater den ganzen Tag allein gelassen?