A ls Sally nach einem Rundgang durch die verschiedenen Abteilungen – bei dem ihr die ungewöhnliche Geschäftigkeit im Erdgeschoss aufgefallen war – in ihr Büro zurückkehrte und nach Kaffee klingeln wollte, kam Mr. Harper herein. An diesem Morgen trug er ein Hemd mit offenem Kragen, einen dunkelblauen Blazer und eine graue Flanellhose und sah so gut darin aus, dass ihr buchstäblich der Atem stockte. Normalerweise trug er Anzüge, wenn er in das Kaufhaus kam, weswegen Sally annahm, dass dies nur eine Stippvisite war.

»Ich bin nur kurz vorbeigekommen, um Ihnen das zu geben«, sagte er und reichte ihr etwas, das wie ein Brief aussah. Als ihre Hände sich berührten, spürte Sally etwas in sich aufflackern und wusste, dass sie vermeiden musste, ihn anzusehen, weil sie sich sonst verraten würde. »Es ist ein Brief von einem unserer Lieferanten, der Sie für die Effizienz lobt, mit der Sie ein kürzlich aufgetretenes Problem gelöst haben.«

Sally sah den Brief an und lächelte. »Das Problem war ein Streik ihrer jüdischen Beschäftigten in der Firma, aber ich habe den Lieferengpass hingenommen und bei einem auswärtigen Anbieter beschafft, was ich benötigte – und unserem eigentlichen Lieferanten zugesagt, dass ich wieder bei ihm bestellen werde, sobald bei ihnen wieder alles in Ordnung ist.«

»Tja, und dann schrieben sie mir, um sich für meine Geduld zu bedanken – aber die Geduldige waren Sie, nicht ich, Miss Ross.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Jetzt muss ich aber gehen. Ich habe einer Freundin von mir versprochen, sie zu einem Termin zu fahren.«

»Dann noch viel Spaß, Sir …«

Er drehte sich noch einmal um und grinste sie an. »Es ist rein geschäftlich, Miss Ross. Ich muss die Damen bei Laune halten …«

Sally sah ihm nach und runzelte die Stirn. Was hatte das denn zu bedeuten? Er war mit diversen jungen, schönen Frauen gesehen worden, und die Klatschbasen hielten ihn für einen Playboy, aber Sally wusste, wie hart er arbeitete. War es möglich, dass es auch zur Arbeit gehörte, alle bei Laune zu halten, und dass er seine Freundinnen deshalb überall hinbegleitete, wohin auch immer sie gerade wollten?

Sally zuckte mit den Schultern und klingelte nach ihrem Kaffee. Mr. Harper war ein sehr charismatischer und gutaussehender Mann. Sie wäre verrückt, wenn sie sich erlauben würde zu denken, er wäre mehr als ihr charmanter Chef …

***

Sally blickte auf, als Jenni später an jenem Tag zu ihr ins Büro kam. Sie war sehr blass und hatte dunkle Schatten unter den Augen. Sally konnte ihr ansehen, dass sie keine guten Nachrichten mitbrachte, und stand sofort auf, um ihr Trost zu spenden oder Hilfe anzubieten. »Ihre Freundin?«, fragte sie.

Jenni sah sehr angespannt aus, als sie sagte: »Meine Freundin ist ertrunken, aber ihr Junge wurde von einem der Stewards aus dem Wasser gezogen und in eines der Boote gehoben.« Ein kleiner Schluchzer entrang sich ihrer Kehle. »Tommy hatte irgendwo unten mit den irischen Kindern gespielt, und Marie hatte ihn nicht finden können, als das Schiff den Eisberg rammte. Bis sie ihn endlich an Deck hatte, waren alle Boote schon zu Wasser gelassen worden. Einer der Besatzungsmitglieder gab einem Boot ein Zeichen zurückzukommen. Dann versuchte er, ihnen dabei zu helfen, eine Leiter an der Seite des Schiffs hinabzuklettern, aber es hatte schon zu starke Schlagseite. Sie fielen beide ins Wasser – und dann sprang dieser Steward ihnen nach. Er bekam den Jungen und eine andere Frau zu fassen, aber Marie war schon verschwunden. Er suchte eine Weile nach ihr, aber er konnte sie nicht finden – es heißt, sie wäre vom Sog des untergehenden Schiffes mitgerissen worden …«

»Oh Gott, wie schrecklich!«, sagte Sally entsetzt und legte tröstend einen Arm um Jennis Schultern. Sie konnte sehen, wie erschüttert ihre Arbeitgeberin war.

Jenni schüttelte jedoch den Kopf und wich zurück, als ob sie es unerträglich fände, berührt zu werden. »Es geht schon wieder, Sally – aber es bedeutet, dass ich unverzüglich abreisen muss. Ich habe eine Passage auf demselben Schiff gebucht, mit dem ich hergekommen bin, und ich fahre morgen schon – sodass Sie also auf sich allein gestellt sein werden, Sally.«

Jenni sah sie ganz eigenartig an. »Ich hatte daran gedacht, länger zu bleiben, aber dieser Junge braucht einen Freund, und sein Vater ist General bei der Armee und ein vielbeschäftigter Mann. Er hat nicht viel Zeit für den kleinen Tommy, und ich glaube, dass Henry vielleicht zu sehr in seinen eigenen Kummer vertieft ist, um zu sehen, was sein Sohn braucht.« Jenni blinzelte heftig. »Es ist meine Schuld, dass Marie auf diesem Schiff war, und ich bin es ihnen schuldig, für sie da zu sein …«

»Ja, ich kann verstehen, dass Sie so empfinden, Jenni, aber es ist natürlich trotzdem nicht Ihre Schuld«, sagte Sally. »Und machen Sie sich bitte keine Sorgen, Jenni. Ich verspreche Ihnen, Sie nicht zu enttäuschen. Mr. Harper ist ja auch hier, und ich kann ihn fragen, wenn ich mir bei irgendwas nicht sicher bin.«

»Das weiß ich«, sagte Jenni und seufzte dann. »Ben ist durchaus fähig, diesen Laden hier allein zu führen, aber er kann auch zu ungestüm sein – deshalb sollte ich eigentlich der Fels sein, an den er sich klammern kann. Mir ist, als würde ich Sie ins kalte Wasser werfen, Sally, aber ich muss leider sofort abreisen.«

»Das verstehe ich«, sagte Sally. »Und ich werde Ihren Bruder bei allem Neuen um Rat fragen, bis ich mir absolut sicher bin …«

»Seien Sie vorsichtig, Sally«, sagte Jenni plötzlich und runzelte die Stirn. »Ich liebe Ben über alles und würde alles für ihn tun – aber ich weiß, dass er schon ziemlich viele Freundinnen hatte. Diese Beziehungen halten nie sehr lange, und er zieht dann einfach zur nächsten weiter. Aber Sie sind nicht wie die anderen, und ich würde es unerträglich finden, wenn Sie verletzt würden …«

Warum glaubte Jenni, sie warnen zu müssen? fragte Sally sich erschrocken. Hatte sie sich anmerken lassen, dass sie ihren Chef ein bisschen zu sehr mochte? Sie holte tief Luft. »Ich mag Ihren Bruder, Jenni, aber ich werde nicht so dumm sein, mein Herz zu verschenken«, sagte sie, obwohl sie sich fast sicher war, es in Wahrheit schon getan zu haben. »Ich weiß, dass er ein Mädchen wie mich nicht heiraten würde – oder könnte …«

»Ich würde mich freuen, wenn er mit jemandem wie Ihnen endlich sesshaft würde«, widersprach Jenni, »aber er hat sich noch nie festlegen wollen, und ich möchte nicht, dass er Ihnen wehtut – also seien Sie bitte vorsichtig bei ihm.« Besorgt, wie sie war, klang sie noch amerikanischer als sonst.

»Danke für die Warnung«, sagte Sally und zwang sich, unbesorgt zu wirken. »Es tut mir leid, dass Sie uns verlassen, und ich hoffe, Sie können Ihren Freunden helfen …«

»Ich werde mein Bestes tun«, erwiderte Jenni und lächelte ganz eigenartig. »Und rechnen Sie mit langen Telegrammen von mir. Sie werden ein Vermögen kosten, aber Ben kann sie bezahlen.« Dann stürzte sie auf Sally zu und küsste sie auf die Wange. »Passen Sie gut auf sich auf, meine liebe Freundin. Ich werde zurück sein, bevor Sie mich vermissen, und dann werden wir uns richtig kennenlernen …«

Sally saß da und starrte ein bisschen verwirrt die Tür an, als sie sich hinter Jenni schloss. Manchmal hatte sie das Gefühl, als träumte sie nur, weil alles so schnell gegangen war. Gerade eben war sie noch eine kleine Verkäuferin gewesen, und nun kaufte sie plötzlich die Ware für den gesamten ersten Stock ein. Wenn ihr jemand gesagt hätte, dass sie diese Stelle bekommen würde, hätte sie ihn ausgelacht, und ihr war immer noch nicht wirklich klar, warum gerade sie dafür ausgewählt worden war. Sie hatte sich zu Wort gemeldet, als ihr Arbeitgeber jemanden brauchte, der ihm einen Lichtblick bot und an seine Fähigkeiten glaubte. Das war der einzige Grund, der ihr einfiel.

Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er an ihr als Frau nicht interessiert war. Hatte er vielleicht an ihrem Verhalten bemerkt, dass sie mehr für ihren Chef empfand, als eine Angestellte es tun sollte? Vielleicht waren ihre Gefühle ja doch sichtbar geworden, obwohl sie sich solche Mühe gegeben hatte, sie zu verbergen?

Der Gedanke ließ sie vor Verlegenheit erschaudern. In Zukunft musste sie vernünftig sein und lernen, ihre Gefühle besser unter Kontrolle zu halten. Sally wünschte, Jenni Harper könnte noch ein paar Monate in London bleiben, um ihr zu helfen. Sie hatte gehofft, noch eine Weile länger ihre Unterstützung zu haben, weil es eine große Verantwortung war, Ware für ein Geschäft wie dieses einzukaufen, und nun würde sie Mr. Harper öfter um Rat fragen müssen, als ihr lieb war. Sie bewunderte ihn, aber sie musste sich von ihm fernhalten, weil es das einzig Vernünftige war.

Seufzend wandte Sally sich wieder ihrer Liste zu und strich zwei Namen durch. Keiner dieser beiden Lieferanten war bereit, ihr Vertreter zu schicken, und die Person, mit der sie am Telefon gesprochen hatte, war alles andere als zuversichtlich gewesen, was das betraf. Wegen einiger der anderen Lieferanten würde sie sich mit Mr. Harper beraten, aber jetzt war es erst einmal an der Zeit, dass sie zu einem Termin bei einem weiteren Juwelier in Hatton Garden ging. Silberschmuck war einer der ersten Erfolge des Geschäfts gewesen, weit mehr, als Jenni Harper vorausgesehen hatte, als sie sich entschloss, ein paar Artikel auszuprobieren, und es war nur vernünftig, auf dem aufzubauen, was gut lief.