H ast du schon gehört, dass Miss Ross und Mrs. Craven heute Abend ihre neue Wohnung beziehen werden?«, fragte Maggie, als sie und Beth an diesem Maimorgen einen Augenblick Zeit zum Plaudern hatten. »Sie sprachen gerade eben darüber, als Miss Ross herunterkam, um sich den neuen Silberschmuck anzusehen. Einiges davon ist sehr hübsch – hast du ihn schon gesehen?«
»Ich habe nur gehört, dass sie den Mietvertrag für eine Wohnung unterschrieben haben und bald einziehen werden.« Beth lächelte über den Eifer der jüngeren Maggie. »Und ja, den emaillierten Schmuck habe ich schon gesehen und finde ihn auch sehr schön. Ich würde zu gern auch ein Stück davon besitzen, aber ich werde wohl ewig sparen müssen, bevor ich mir so etwas leisten kann.« Sie runzelte die Stirn. »Ich glaube, Miss Ross hatte Schwierigkeiten mit dem Nachschub von Kleidungsstücken, weil die jüdischen Arbeiter in der Bekleidungsindustrie etwa drei Wochen streikten. Einige Lieferanten konnten ihre Zusagen nicht einhalten.«
»Ich habe darüber etwas im Daily Herald gelesen«, sagte Maggie. »Ralf kauft diese Zeitung immer, und manchmal gibt er sie mir, wenn er sie gelesen hat.«
»Ja, ich habe die Schlagzeilen auch gesehen«, sagte Beth. »Sally war clever. Sie hat einen kleinen Hersteller draußen auf dem Land ausfindig gemacht und dort neue Ware eingekauft – sie treibt immer wieder etwas Neues und Interessantes auf.«
»Deshalb haben wir ja auch so viel zu tun«, sagte Maggie. »Am besten gefällt mir übrigens dieser Jugendstilanhänger mit der rosa Emaillierung und den Perlen. Er kostet drei Pfund und fünfzehn Shilling, leider kann ich ihn mir nicht einmal mit meinen zehn Shilling Gehaltserhöhung leisten.«
Beth seufzte verständnisvoll, aber mit derlei Dingen musste man sich eben abfinden, wenn man in einem Geschäft wie diesem arbeitete. Es gab dort immer schöne Dinge, deren Preise weit über den eigenen Möglichkeiten lagen.
»Aber zumindest sind wir hier immer mit hübschen Sachen umgeben, die wir anschauen und sogar anfassen können.« Maggie nickte Beth zu und ging, als eine Kundin die Abteilung betrat und auf ihren Verkaufstisch zusteuerte.
Beth dachte, dass Maggie von Tag zu Tag hübscher aussah. Sie trug ihr Haar jetzt weiblicher und weicher, ihre Augen strahlten, und viel öfter als früher lag ein Lächeln auf ihren Lippen. Es war jetzt Ende Mai, und sie waren an zwei Sonntagen mit Ralf zum Tee gegangen, hatten Spaziergänge durch den Park gemacht und das dortige Eiscafé besucht, und die charmanten Aufmerksamkeiten des jungen Manns hatten ihre Freundin zu einer selbstbewussteren und sehr hübschen jungen Frau erblühen lassen. Und selbst wenn sie manchmal vor dem Regen fliehen und sich irgendwo unterstellen mussten, verdarb ihnen das nie den Nachmittag.
Ralf hatte Beth erzählt, dass er nicht damit rechne, heiraten zu können, bevor seine ältere Schwester unter der Haube war. Er musste diese Hochzeit bezahlen und seine Mutter gut versorgt wissen, bevor er beginnen konnte, für sein eigenes Leben Pläne zu schmieden, aber er sah dennoch keinen Grund, warum Maggie und er sich deshalb die Freude an der Gesellschaft des anderen versagen sollten. Er hatte Maggie erzählt, dass er gerne zur Luftwaffe gehen würde, was jedoch nicht möglich war, weil er es sich nicht leisten konnte, die besser bezahlte Stelle bei seinem Onkel aufzugeben.
Beth hatte große Freude an ihren wöchentlichen Ausflügen, und da nun auch Tante Helen jeden Sonntag ausging, sah sie keinen Grund daheimzubleiben. Außerdem war es schön, Maggie und ihren Freund auf eine noch sehr unschuldige Art so glücklich miteinander zu sehen.
Ein Spaziergang im Park oder eine kleine Bootsfahrt auf dem dortigen See machte ihnen allen große Freude, und Beth hatte nie das Gefühl, das fünfte Rad am Wagen zu sein, da Maggie ohne sie nicht hätte ausgehen können. Außerdem war sie ihr sehr dankbar dafür, dass sie ihr Haar zu der duftigeren, moderneren Frisur geschnitten hatte, die ihr so gut gefiel. Und so zog auch Beth das Interesse einiger junger Herren auf sich, wenn sie mit dem jungen Paar durch den Park spazierte. Aber ganz bewusst ignorierte sie die allzu freimütigen Blicke, die einige von ihnen ihr zuwarfen.
Ein Teil von ihr beneidete Sally und Mrs. Craven um ihren Umzug in eine geräumige eigene Wohnung, obwohl auch ihr eigenes Leben daheim sich neuerdings sehr verbessert hatte. Beth war sich nicht sicher, inwieweit sie das Maggies Anwesenheit zu verdanken hatte, aber eins stand fest: Das junge Mädchen hatte Tante Helen mit seinem Charme verzaubert. Sie lächelte mehr, und manchmal hörte Beth die beiden in der Küche oder im Wohnzimmer zusammen lachen. Und auch die sonntäglichen Nachmittagstees schienen Tante Helen sehr glücklich zu machen. Auf jeden Fall war sie viel freundlicher geworden.
Und so war sie auch sehr mitfühlend und besorgt gewesen, als sie Maggie mitteilte, dass die Polizei da gewesen sei, um sie darüber zu informieren, dass Mr. Gibbs sterbliche Überreste zur Beerdigung freigegeben worden seien. Da die Behörden zu dem Schluss gelangt waren, dass Maggies Vater an einer Überdosis Laudanum gestorben war, ob nun aus Versehen oder Vorsatz, war das Verfahren als solches noch anhängig, die Beerdigung aber gestattet worden. Maggie hatte sich dafür einen Tag freigenommen und alle Angebote, sie zu begleiten, abgelehnt. Am Abend war sie blass und erschöpft heimgekommen, aber als Tante Helen ihr ihren Lieblingsmohnkuchen vorgesetzt und sich erstaunlich liebevoll um sie gekümmert hatte, begann sie schon bald wieder zu lächeln.
Von Maggies Mutter gab es nach wie vor noch keine Spur, und die Polizei war noch immer auf der Suche nach ihr und dem Mann, der am selben Tag verschwunden war wie sie. Das Geld, das ihre Mutter gestohlen hatte, war für Maggie offenbar verloren, aber sie hatte zu Beth gesagt, dass sie ohnehin keinen Penny davon wollte.
»Es ist Blutgeld«, sagte sie grimmig. »Ich würde es selbst dann nicht wollen, wenn sie es mir freiwillig geben würde – und ich will auch sie nie wiedersehen.«
»Sie ist immer noch deine Mutter«, erinnerte Beth sie, aber Maggie schüttelte den Kopf. »Du und Tante Helen und Ralf seid jetzt meine Familie, und ich will und brauche niemand anderen.« Sie wollte nicht über den Tag der Beerdigung sprechen, aber ihren seltenen Bemerkungen entnahm Beth, dass ihr Onkel sie bei sich und seiner Familie hatte aufnehmen wollen, sie sich aber strikt geweigert hatte. Und da ihre Tante wohl auch nicht ganz glücklich mit dem Gedanken gewesen war, hatte er Maggie am Ende ihren Willen gelassen und ihr gesagt, sie könne zu ihm kommen, falls sie Hilfe brauchte.
»Eher würde ich in einem Wohnheim leben wie Sally Ross früher«, hatte Maggie zu Beth gesagt. »Du ahnst gar nicht, wie froh ich bin, dass ich hier bei dir und Tante Helen lebe.«
Auch Beth war froh darüber, weil es ihr das Leben sehr erleichtert hatte. Sie teilten sich die Hausarbeit, sodass sie mehr Zeit hatten auszugehen, und Tante Helen erlaubte ihnen sogar eines Abends, zu einem Kirchenfest zu gehen. Es gab verschiedene Stände, Leute, die Karten spielten, eine Tombola, und jede Menge Essen, Tee und Orangensaft. Beth war nicht im Geringsten überrascht, als Ralf eine halbe Stunde nach Beginn auftauchte und ihnen beiden einen Lebkuchenmann kaufte und dann beim Ringwerfen eine kleine Porzellanfigur für Maggie gewann.
Später hatte er sie nach Hause begleitete, und Maggie hatte ihn hereingebeten, damit er Tante Helen kennenlernen konnte. Sie hatte ihr erzählt, er sei ein Freund, den sie schon eine Weile kannte, und sie gefragt, ob sie ihn vielleicht einmal sonntags zum Mittagessen einladen könnte.
Beth hatte es kaum glauben können, als ihre Tante geantwortet hatte, dass es sie sehr freuen würde, wenn Maggies Freund zu ihnen zum Mittagessen käme. Er hatte sich sogar eine Stunde lang mit ihr über seine Mutter und seine Schwester unterhalten, bevor er wieder gegangen war.
»Was für ein netter junger Mann!«, hatte Tante Helen gesagt. Dann hatte sie Beth zugenickt. »Es ist schade, dass du nicht auch so einen netten jungen Mann hast, den du nach Hause einladen könntest, Beth. Ganz ehrlich, meine Liebe, es wird langsam Zeit, dass du dir jemanden suchst, wenn du nicht als alte Jungfer enden willst wie ich!«, sagte sie – und brach in schallendes Gelächter aus, als hätte sie einen großartigen Witz gemacht.
Beth war mehr als nur verblüfft. Sie war schrecklich nervös gewesen, als Maggie einfach so mit Ralf hereinmarschiert war, aber irgendwie schien sie nichts falsch machen zu können – vor nicht allzu langer Zeit noch hatte Beth schon Ärger bekommen, wenn sie zu spät nach Hause kam. Die Veränderung ihrer Tante war ihr ein Rätsel.
Über all dies musste sie nachdenken, als sie am nächsten Morgen zu ihrer Pause in den Keller ging. Fred hatte schon den Kessel aufgesetzt, und Beth fragte ihn, ob er am kommenden Sonntag zum Tee in den Park gehen wolle. Er wirkte sehr erfreut darüber.
»In zwei Wochen wird mein Jack wieder zu Hause sein«, sagte er. »Er hat eine gute Stelle bei der Hamburg-America-Line gefunden. Sie haben ihn sogar zum Chefsteward befördert, in Anerkennung seiner Tapferkeit und seines Einsatzes für die Menschen, die er gerettet hat, und er bekommt auch mehr Geld als bei der White Star. Er meint, die Eigner hätten ihre Lektion gelernt und würden nie wieder ein Schiff mit zu wenigen Rettungsbooten hinausschicken. Jack musste eine schriftliche Aussage in der Untersuchung machen, sodass er nicht früher zurück sein konnte – aber Mitte Juni wird er hier sein …«
»Oh, wie schön für dich, Fred!« Beth freute sich für ihn. »Du musst ihn zu einem unserer Picknicks mitbringen, wenn er wieder da ist.«
»Ja, das wäre schön«, antwortete er strahlend. »Ich danke Gott noch immer jeden Morgen beim Erwachen, dass mein Jack verschont wurde – und ich bedanke mich auch für dich, Beth, weil du mein Leben verändert hast!«
»Es macht mir einfach so viel Freude, mit dir zu plaudern, Fred«, sagte Beth. Sie vermisste ihren Vater so sehr, und nun hatte sie in dem Hausmeister einen Mann gefunden, auf den sie sich verlassen konnte. »Ich bin auch sehr froh, dass du hier arbeitest.«
Beth war sich durchaus darüber im Klaren, wie sehr sich ihr Leben in den letzten drei Monaten verbessert hatte. Sie hatte jetzt Freunde, ihre Arbeit und ein bisschen Geld in der Tasche. Und über Sally wusste sie, dass das Kaufhaus gut lief und Mr. Harper mit den Verkaufszahlen zufrieden war. Wie andere Mitarbeiter hatte sie sich schon gefragt, ob der Laden verkauft werden würde, weil er nicht mehr Teil einer größeren Kette war, aber jetzt sah es so aus, als ob alles bestens lief. Sie hoffte es zumindest, denn sie führte jetzt solch ein gutes Leben und wollte nicht, dass sich daran etwas änderte.