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N ach einer kurzen Nacht stand Wilhelm vor dem ausgebrannten Lagerhaus am Niedernhafen und starrte auf die verkohlten Trümmer. Im grauen Licht des neuen Tages zeigte sich das ganze Ausmaß der Zerstörung. Sie hatten nichts retten können. Alles war verbrannt. Er beobachtete die Männer der Feuerwehr dabei, wie sie zwischen den Überresten seiner Existenz hin und her liefen, auf der Suche nach dem Mann, auf den er all seine Hoffnungen gesetzt hatte. Thomas Jacobsen, der, wie vermutet wurde, in dem Feuer umgekommen war.
Joachim Mertens stellte sich schweigend neben ihn und zündete sich eine Zigarette an. Es begann zu regnen, ja, regelrecht zu schütten. Die beiden Männer regten sich nicht. Wie begossene Pudel standen sie da, sich wohl bewusst, dass sie die Trümmer jahrelanger Arbeit vor sich hatten. Irgendwann wurde die verkohlte Leiche von Jacobsen gefunden und abtransportiert. Die beiden Männer verharrten trotzdem im Regen. Wohin sollten sie auch gehen? Nach Hause? Keinem von beiden stand der Sinn danach.
»Ich hätte ihn nicht allein lassen dürfen«, begann Mertens irgendwann zu sprechen. »Er hatte bereits zu viel getrunken und war ziemlich verzweifelt.«
»Verzweifelt?« Wilhelm sah Mertens überrascht an.
»Gestern kam, kurz bevor ich gehen wollte, noch ein Anruf rein. Der Handel mit dem Kakao aus Afrika ist geplatzt. Jacobsen war vollkommen außer sich. Ich konnte ihn nur mit Mühe beruhigen. Dann hat er zu saufen begonnen und irgendwas von der Kaffeemisere erzählt und dass er jetzt pleite wäre. Ich hab gefragt, was er damit meine, doch er wollte nichts dazu sagen. Würde doch alles nichts bringen, hat er erklärt und mich nach Hause geschickt. Und ich Tölpel bin gegangen. Bleiben hätte ich sollen und ihn nach Hause zu seiner Frau bringen. Die arme Petronella. Das werden jetzt schwere Zeiten, die auf sie zukommen.«
»Du denkst doch nicht etwa, er hat das Feuer selbst gelegt?« Ohne große Umschweife war Wilhelm zum vertraulichen Du übergegangen. Vorgesetzter und Angestellter waren sie jetzt sowieso nicht mehr.
»Was ich denke, spielt keine Rolle.« Mertens zuckte mit den Schultern. »Das Lagerhaus ist abgebrannt, der Chef ist tot, und sein treuloser Erbe wird gewiss dankend die ihm zustehende Versicherungssumme einstreichen. Falls überhaupt bezahlt wird. Wenn er die Hütte selbst angezündet hat, vermutlich nicht.«
»Therese hatte recht.« Wilhelm schüttelte den Kopf. »Ich hätte mich niemals darauf einlassen sollen. Schön dumm bin ich gewesen.«
»Auf was einlassen?«, fragte Mertens. »Und welche Therese?«
»Ach, nicht so wichtig.« Wilhelm winkte ab. »Ich geh besser nach Hause. Bin ja klatschnass. Marta wird mich zu Recht ausschimpfen.« Er begann zu husten.
»Ich begleite Sie ein Stück, Chef. Haben ja fast den gleichen Weg.«
»Ach, Mertens, nicht mehr Chef. Sag doch einfach Wilhelm zu mir.«
»Wenn Sie meinen, Chef, äh, Wilhelm. Ich werd’s mir merken, Chef.« Die beiden Männer setzten sich in Bewegung und liefen im strömenden Regen durch Hamburgs belebte Straßen und Gassen. Ein waschechter Hamburger ließ sich vom Wetter nicht abschrecken und von Schietwetter gleich zweimal nicht. Kurz bevor sie die Binnenalster erreichten, verabschiedete sich Joachim Mertens.
»Ich muss dann mal in die andere Richtung, Chef.« Er deutete nach links.
»Schon in Ordnung, Mertens. Wir sehen uns.«
»Aber sicher, Chef, ich meine, Wilhelm. Bis denne.« Mertens klag unsicher. Wie begossene Pudel standen sie einander für einen Moment gegenüber, dann ging jeder seiner Wege. Wilhelm erreichte kurz darauf den Alsterdamm. Das Badehaus Alsterlust lag verlassen da, als er daran vorüberlief. Ein aufkommender Wind zerrte an seinem durchnässten Mantel. Wilhelm begann zu frieren. Schietwetter, dachte er. Heute passte es hervorragend zu seiner Stimmung und fühlte sich sonderbarerweise gut an. Heller Sonnenschein und funkelnde Wellen wären unpassend gewesen. Wie sollte es jetzt nur weitergehen? Er hatte Kontakte, Freunde. Gewiss würde es einen Neuanfang geben. Bald schon, irgendwo, irgendwie. Doch sein Traum von dem hübschen Haus auf der Uhlenhorst für sich und seine Familie war vorerst ausgeträumt. Oder war er das nicht schon längst? Wann hatte er zuletzt daran gedacht? Existenzängste und Alltäglichkeiten hatten ihm dieses Vorhaben entrissen. Und jetzt war der Großteil seines Erbes fort, weil er ein Hornochse gewesen war. Vor Kälte zitternd, erreichte er den Holzdamm genau in dem Moment, als der Trompeter auf der nahen St.-Georg-Kirche den neuen Tag mit seinem Spiel begrüßte. Etwas Vertrautes, das ihn innehalten und zuhören ließ. Gewiss würde Marta wieder am Fenster in ihrem Lehnstuhl sitzen und ebenfalls seinem Spiel lauschen. Wie sollte er ihr nur beibringen, was geschehen war? Ihre hart erarbeitete, sichere Existenz und der Aufstieg in die bessere Gesellschaft Hamburgs – alles schien unvermittelt ins Wanken geraten zu sein. Eine Droschke fuhr an ihm vorüber und hielt vor ihrem Haus. Die Tür öffnete sich, und Rieke entstieg dem Gefährt. Ihr folgte Georg Paulsen. Ungläubig beobachtete Wilhelm die Szene, die sich vor seinen Augen abspielte. Georg küsste seine Tochter sogar zum Abschied. Und das nicht nur auf die Wange. Es dauerte eine schiere Ewigkeit, bis die beiden voneinander abließen und Rieke im Haus verschwand. Wilhelm hätte jetzt losstürmen und sich diesen Georg schnappen, ihn ein für alle Mal in seine Schranken verweisen müssen, doch er tat es nicht. Wie angewurzelt blieb er an Ort und Stelle stehen und sah dabei zu, wie Georg Paulsen zurück in die Droschke stieg und diese davonfuhr. Was sollte er jetzt tun? War es zum Äußersten gekommen? Hatte sie etwa die Nacht bei diesem Schürzenjäger verbracht? Er begann, zu husten und nach Luft zu japsen. Ein Gefühl der Beklemmung breitete sich in seiner Brust aus. Keuchend griff er sich an den Hals. Nicht jetzt, kein Anfall, bloß nicht die Kontrolle verlieren. Atmen, ruhig ein- und ausatmen. Es gelang ihm nicht. Er zerrte hektisch an seiner Krawatte und versuchte vergeblich, seinen Kragen aufzuknöpfen. Plötzlich drang eine vertraute Stimme an sein Ohr, und Hände legten sich auf seine Schultern. Es war Merle, ihr Kindermädchen, die ihn stützte und ihm zum Haus half. Irgendwie schaffte er mit ihrer Hilfe die Treppen nach oben und in die Wohnung, wo ihn Marta in Empfang nahm, die beruhigend auf ihn einzureden begann und Auguste anwies, sofort den Arzt zu verständigen.