15
W
ilhelm kletterte hinter Jasper vom Wagen und ließ seinen Blick über den spärlich beleuchteten Hafen schweifen. Es war drei Uhr morgens. Die beste Zeit also, um Seehunde zu jagen. Das behauptete jedenfalls Philipp Schau aus Nebel, einer der Seehundjäger, mit dem sie heute zu den Seehundbänken hinausfahren würden, um ihr Glück zu versuchen. Wilhelm hatte in den letzten Tagen häufiger von diesem besonderen Erlebnis gehört, weshalb er Jasper vor einigen Tagen darauf angesprochen hatte. Dieser war begeistert über Wilhelms Interesse für die Seehundjagd gewesen und bot ihm an, ihn auf eine der nächsten Touren mitzunehmen. Der Ausflug in die Welt der Seehundjäger würde Wilhelm drei Mark kosten, was es ihm wert war. Ob er am Ende jedoch wirklich den Schneid hätte, auf eines der Tiere zu schießen, wusste er nicht. Auch Marta hatte er seine Pläne für den heutigen Tag verschwiegen. Sie hätte sich am Ende Sorgen gemacht, und das wollte er nicht. Also hatte er ihr etwas von einer Kaninchenjagd in den Dünen erzählt, was sich bedeutend weniger gefährlich anhörte. Vom ersten Tag an hatte er sich auf der Insel wohlgefühlt, und auch die Luft bekam ihm hervorragend. Der quälende Husten der letzten Monate schien wie weggefegt zu sein, und seine Asthmazigaretten hatte er seit ihrer Ankunft nicht mehr angefasst. Er liebte es, gemeinsam mit Marta am Strand spazieren zu gehen, aber auch das Landesinnere der Insel hatte seine Reize. Der verschlafene Ort Nebel mit seinen behäbigen Friesenhäuschen, die stets von kleinen Gärten umgeben waren, die Marta jedes Mal bewunderte. An einem Tag hatte es urplötzlich heftig zu stürmen begonnen, und sie hatten vor dem einsetzenden Regen in Steenodde im Gasthaus Zum Lustigen Seehund
Schutz gesucht. Der aus Hannover stammende Wirt Ludolf Schulze berichtete ihnen, dass er als erstes Gästehaus überhaupt Feriengäste auf Amrum beherbergte, noch bevor in Wittdün ein Gästehaus gebaut worden war. Mittlerweile schossen die Hotels, Gäste- und Logierhäuser nur so aus dem Boden, und dieser neue seelenlose Ort lockte immer mehr Feriengäste auf die Insel. Bereits im nächsten Jahr sollte das Flaggschiff von Wittdün, das an der Südspitze entstehende Kurhaus,
fertiggestellt sein. Die neu gegründete Aktiengesellschaft Wittdün-Amrum, die Heinrich Andresen ins Leben gerufen hatte, steckte dahinter. Zum Ausverkauf stand eine weiße Düne, die bis vor wenigen Jahren keinen Pfifferling wert gewesen war. Aber es hatte ja so kommen müssen, denn längst waren Seebäder auf Sylt oder Föhr gegründet worden, und Amrum hinkte bisher hinterher. Und wenn die Insel nicht aussterben wollte, denn viele junge Leute wanderten nach Amerika aus, musste man für eine Zukunftsperspektive sorgen und durfte sich nicht abhängen lassen. Obwohl es meistens die Fremden waren, die sich engagierten, weshalb sich viele der Alteingesessenen vor dem Verfall der guten Sitten fürchteten. Ludolf Schulze hatte sich sogar zu Marta und Wilhelm an den Tisch gesetzt, denn sie waren an diesem unwirtlichen Tag seine einzigen Gäste in der gemütlichen Gaststube gewesen, die der von Sine und Kaline ähnelte. Auch hier gab es einen schmiedeeisernen Ofen, der für Wärme sorgte, und die für Amrum typischen blau-weißen Kacheln an den Wänden. Stehlampen am Fenster sorgten für warmes Licht, der Wind pfiff ums Haus, und der heiße Grog wärmte den Magen. Wilhelm hätte ewig sitzen bleiben und den Geschichten von Schulze lauschen können, der ihnen die eine oder andere Anekdote vom Inselleben erzählte und niemals wieder nach Hannover zurückkehren wollte. »Wer einmal sein Herz an diese Insel verloren hat, geht nicht mehr fort«, hatte er gesagt und Marta zugezwinkert.
Als Wilhelm und Jasper das Boot von Philipp Schau erreichten, begrüßte Philipp sie mit Handschlag und den Worten: »Früh zu Bett und früh aufstehn macht gesund, reich und klug.« Der bullig wirkende Seemann, der sie an Bord winkte, gefiel Wilhelm auf Anhieb. Er trug eine braune Hose, einen dicken Mantel darüber und eine dunkelblaue Wollmütze. Eine Pfeife klemmte zwischen seinen Zähnen. Der Geruch von Tabak wehte Wilhelm entgegen.
Jasper stellte Wilhelm vor, und Philipp Schau fragte ihn: »Schon mal Seehunde gejagt?«
Wilhelm verneinte und fügte hinzu: »Ich jage eigentlich gar nicht. Aber ich fand die Idee spannend.«
»Also noch total grün hinter den Ohren.« Philipp Schau schüttelte den Kopf und warf Jasper einen strafenden Blick zu. »Was hast du mir da angeschleppt, mein Freund? Ich dachte, er hätte wenigstens mit Rotwild oder sonst irgendwelchem Viehzeug Erfahrung.«
»Und ich nahm an, du nimmst Besucher gern mit, um ihnen unsere Gepflogenheiten näherzubringen«, entgegnete Jasper seelenruhig.
»Hast ja auch wieder recht«, lenkte der Seehundjäger ein und wandte sich erneut Wilhelm zu: »Nichts für ungut. Mir hängt noch der gestrige Tag nach, wo mir ein Mitfahrer aus Wittdün die ganze Entenjagd vermasselt hat, weil ihm während der Fahrt schlecht geworden ist. Gekotzt hat der, ich kann’s Ihnen sagen. So was habe ich schon lang nicht mehr erlebt. Zwischendrin behauptete er steif und fest, seetauglich zu sein. Er wäre sogar bei der Marine gewesen. Wenn Sie mich fragen, hat der arme Kerl was Schlechtes gegessen. So kotzt keiner, der mal ’n büschen Wellengang unterm Hintern hat. Nach einer Stunde sind wir zurückgefahren, mit drei mageren Enten als Ausbeute.« Er seufzte und erkundigte sich vorsichtshalber nach Wilhelms Befinden.
»Mir geht es hervorragend. Und Wellengang macht mir nichts aus«, erklärte Wilhelm, um Philipp Schau zu beruhigen.
»Das hört man gern. Dann wollen wir mal los. Wird ein Weilchen dauern, bis wir die Seehundbänke erreichen. Wenn ihr zwei wollt, könnt ihr unter Deck ein Nickerchen halten. Später gibt es Frühstück. Meine Anne hat uns einen gut gefüllten Korb mitgegeben, und selbstverständlich ist auch Kaffee da.«
Plötzlich tauchte ein junger Bursche auf, der bis dahin unter Deck gewesen war, und murmelte etwas auf Friesisch, das Wilhelm nicht verstand. Schau stellte ihn als seinen Schiffsjungen Jannes vor und wies ihn sogleich an, die Segel zu hissen, während er sich ans Steuerrad setzte. Lautlos glitt ihr Boot wenig später in die Nacht, und sie ließen den Hafen schnell hinter sich. Nach einer Weile bedeutete Jasper Wilhelm, ihm unter Deck in eine kleine, von einer einzelnen an der Decke hängenden Öllampe erhellte Kammer zu folgen, die mit einer Sitzgruppe und zwei Kojenbetten ausgestattet war, in die sie sich legten. Wilhelm stellte Jasper, der über ihm lag, noch einige Fragen über Philipp Schau, dann schlief er ein.
Es war der Schiffsjunge, der ihn bald darauf wieder wach rüttelte und verkündete, dass der Kaffee fertig sei.
Als Wilhelm an Deck kam, brach im Osten bereits der Morgen an, die Segel waren eingeholt und der Baum herabgelassen. Das Boot schaukelte auf den Wellen, der Himmel war wolkenverhangen. Schau reichte Wilhelm einen mit Kaffee gefüllten Becher und ein Fischbrötchen und deutete auf das kleine Ruderboot.
»Gleich geht es los. Vielleicht haben wir ja Glück, und einer der Seehunde schläft so fest, dass er sich überrumpeln lässt.«
»Das sagst du jedes Mal, kurz bevor wir zur Seehundbank hinüberfahren«, erwiderte Jasper. »Und jedes Mal hauen die Tiere alle ab. Hast du eigentlich jemals einen schlafenden Seehund überrumpelt?«
»Schon mehrfach«, erwiderte Schau mit leicht beleidigter Miene. »Allerdings gelingt so ein Kunststück meist nur, wenn man keine unerfahrenen Jäger dabeihat, die keine Ahnung davon haben, wie man sich anständig an eine Gruppe Seehunde heranschleicht.«
Wilhelm wusste diese Bemerkung zu deuten, sagte jedoch nichts, denn der Mann hatte ja nicht unrecht. Er war ein unerfahrener Jäger, der, wenn er es genau nahm, sogar ein wenig Angst empfand. Oder sollte er es Respekt nennen? Vielleicht hätte er doch erst einmal mit der Enten- oder Kaninchenjagd beginnen sollen. Aber jetzt saß er in diesem Boot, und es würde kein Zurück mehr geben. Und vielleicht würde es sich ja am Ende ganz toll anfühlen, einen mächtigen Bullen zu erlegen.
Sie verspeisten ihr Frühstück und kletterten dann, mit Gewehren bewaffnet, in das Ruderboot. Schau ruderte sie zu der Seehundbank hinüber, wo sie vor Anker gingen. Er hatte sich für die bevorstehende Jagd sogar extra in Schale geworfen und trug jetzt einen feinen Seehundjäger-Anzug, was auf Wilhelm eher befremdlich wirkte. Wieso man ausgerechnet zur Seehundjagd einen feinen Anzug anlegen musste, erschloss sich ihm nicht. Er behielt seine Meinung jedoch lieber für sich, denn er wollte Schau nicht gegen sich aufbringen. Er würde später Jasper fragen, was es mit dem ominösen Anzug auf sich hatte.
Sie schlichen nebeneinander über die Sandbank. Jeder von ihnen hatte ein Gewehr im Arm, und Schau zog den drei Meter langen Seehundhaken hinter sich her, mit dem das erlegte Tier später abtransportiert werden sollte.
Es dauerte nicht lang, bis sie von dem Wache haltenden Seehund entdeckt wurden, der sofort Alarm schlug, sodass alle Tiere hektisch das Weite suchten. Die drei Männer erreichten den Lagerplatz der Seehunde.
»Niederlegen und ruhig«, befahl Schau. Wilhelms Herz begann, schneller zu schlagen. In einiger Entfernung war der Kopf eines Seehundes zu erkennen, der sich langsam wieder dem Strand näherte. Flüsternd erklärte Schau, dass nun die eigentliche Arbeit, das Anlocken, beginnen würde. Schau streckte sich aus, hob den Kopf in die Höhe, hielt die Füße geschlossen und nach oben gekrümmt, damit er wie ein Seehund aussah. Wilhelm bemühte sich, ebenso wie Jasper, ebenfalls diese Körperhaltung einzunehmen, was ihm nur leidlich gelang. Es war gar nicht so einfach, die Füße nach oben zu halten, und schnell tat ihm der Rücken weh. Es dauerte nicht lang, bis zwei Seehunde damit begannen, sie argwöhnisch zu betrachten. Nach einer Weile kam einer von ihnen aus der Brandung heraus und schwamm auf sie zu. Wilhelms Hände begannen zu zittern. Der Seehund war nur wenige Meter von ihm entfernt.
Schau mahnte zur Ruhe und sagte: »Der kommt zu uns, das ist ein Dummer.«
Jasper macht sich schussbereit. Wilhelm griff nicht nach seinem Gewehr. Fasziniert beobachtete er das Tier, wie es wenige Meter vor ihm das Meer verließ und über den Sand robbte. So nahe war er einem Seehund noch nie gekommen. Was für ein großartiges und besonderes Geschöpf dieses Tier war. Beunruhigt blickt Wilhelm zu Schau, der sein Gewehr bereits angelegt hatte und auf den Kopf des Seehundes zielte. Auch Jasper hatte den Finger am Abzug. Wilhelm sah zu dem Tier, zu Schau, zu Jasper, seine Hände zitterten. Der Seehund war so einzigartig, so besonders. Sie durften ihn nicht erschießen. Nicht hier vor seinen Augen. Er könnte es nicht ertragen.
»So geht das nicht«, sagte er plötzlich laut und verscheuchte damit das Tier.
Schau und Jasper ließen ihre Gewehre sinken, und Schau schimpfte sofort los.
»Was sollte das denn jetzt? Wir hatten ihn, verdammt noch eins.« Er schlug mit der Faust in den Sand.
Wilhelm stand auf, ging zum Rand der Seehundbank und blickte auf die Stelle in der Brandung, wo das Tier verschwunden war.
»Er war zu schön«, murmelte er.
»Der eine kotzt, der Nächste wird sentimental«, schimpfte Schau hinter ihm her. »In Zukunft bleiben die Landratten wieder dort, wo sie hingehören.«
»Also mir ist sentimental allemal lieber als kotzen«, kommentierte Jasper Schaus Bemerkung, trat neben Wilhelm und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Ist der Bursche dieses Mal eben davongekommen. Vielleicht merkt er es sich ja und wird niemals im Leben mehr dumm sein.«
»Aber hoffentlich ein anderer«, meinte Schau, der neben sie getreten war. »Das kostet Sie aber extra, mein Freund. Mit drei Mark lass ich Sie nicht wegkommen.«
»Jetzt hab dich nicht so, Philipp«, sagte Jasper. »Du wusstest um das Risiko. Wilhelm ist nicht der erste Tourist, der dir die Suppe versalzt.«
»Meinetwegen«, grummelte Schau. »Aber einen ausgeben muss er schon. Können Sie wenigstens Karten spielen? Skat?«, fragte er Wilhelm.
»Ja, das kann ich.«
»Na, das ist doch schon mal ein Anfang. Heute Abend im Lustigen Seehund?
«
»Aber gern«, erwiderte Wilhelm, sichtlich erleichtert darüber, dass ihm der Seehundjäger nicht länger grollte.
»Dann lasst uns zurückfahren.« Schau deutete in Richtung des Ruderbootes, und sie verließen die Sandbank. Als sie wenig später die Segel hissten und auf Amrum zusteuerten, ging die Sonne auf. Es war fast windstill, das Meer lag wie ein Spiegel vor ihnen.
Von dem Anblick ergriffen, stand Wilhelm an Deck. »Es ist so wunderschön. Am liebsten würde ich für immer hierbleiben«, sagte er mehr zu sich selbst, doch Jasper hatte seine Worte gehört.
»Dann mach es doch einfach, mein Freund«, antwortete er. »Wärst nicht der Erste, den unsere Insel bezaubert und nicht mehr fortlässt.«
»Wenn das so einfach wäre«, erwiderte Wilhelm mit einem tiefen Seufzer und beobachtete, wie sich ein Schwarm Möwen kreischend um einen unweit von ihnen liegenden Krabbenkutter scharte, der gerade seine Netze ins Wasser ließ.
Noch wenige Wochen, und Hamburg würde ihn mit seinem Trubel und seiner Düsternis und schlechten Luft in einen neuen Alltag zwingen, von dem er noch keine Ahnung hatte, wie er aussehen würde. Oder war er jetzt ungerecht? Hamburg, mit all seinen Facetten, war nie schlecht zu ihm gewesen. Er hatte dieser Stadt die Liebe seines Lebens und seinen gesellschaftlichen Aufstieg zu verdanken. Aber vielleicht würde ein Neuanfang gerade jetzt guttun. Joachim Mertens hatte ihm geschrieben. Die Handelsagentur Kohlsen und Graber suchte einen fähigen Prokuristen. Er habe ihn vorgeschlagen, und man war nicht abgeneigt gewesen. Hamburg, die Stadt voller Möglichkeiten, ihr Zuhause. Und doch schien es im Augenblick, als wäre ihr dortiges Leben ein Teil einer Vergangenheit, mit der er abgeschlossen hatte.
»Da vorn ist schon der Hafen«, sagte Jasper und riss ihn aus seinen Gedanken. »Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gern noch bei Gustav Petersen im Laden vorbeischauen, denn mein Tabak ist aus.«
»Ich müsste auch noch ins Papeteriegeschäft von der Witwe Schamvogel, da meiner Rieke das Briefpapier ausgegangen ist und sie mich darum gebeten hat, ihr neues mitzubringen«, erwiderte Wilhelm.
»Schreibt sie dem Bengel also immer noch«, antwortete Jasper.
Erstaunt sah Wilhelm ihn an. Jasper zuckte mit den Schultern.
»Ich bringe jeden Tag ihre Briefe zur Post. Ich mag ein einfacher Insulaner sein, doch auf den Kopf bin ich nicht gefallen. Es ist nur ein Jammer, dass ihr der Bursche niemals antwortet.«
»Oder ein Segen«, erwiderte Wilhelm augenzwinkernd, was Jasper zum Grinsen brachte.
Bald darauf fuhren sie in den Hafen ein und verabschiedeten sich von Philipp Schau, jedoch nicht, ohne die Verabredung zum Kartenspiel am Abend noch einmal zu bekräftigen. Beschwingt folgte Wilhelm Jasper zum Wagen, den dieser unweit des Hafens bei einem Bekannten untergestellt hatte. Er mochte keinen Seehund erlegt haben, aber dieses Erlebnis hätte er auf keinen Fall verpassen wollen. Und vielleicht ließe sich ja Philipp Schau dazu überreden, ihn zur Entenjagd mitzunehmen.