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K reischend rutschten Ida und Marta die Düne hinunter, während Rieke mit säuerlicher Miene oben stehen blieb. Keine zehn Pferde würden sie dazu bringen, diese Albernheit mitzumachen. So etwas gehörte sich nicht, und außerdem wäre dann ihr Rock vollkommen ruiniert. Wenn sie gewusst hätte, wie peinlich sich ihre Mutter benehmen würde, wäre sie zu Hause geblieben. Ihr Blick wanderte zu einer Gruppe älterer Herren, die unweit von ihnen stehen geblieben waren und sich angeregt unterhielten. Einer von ihnen nickte ihr freundlich lächelnd zu. Rieke wollte lieber nicht darüber nachdenken, was in dem Kopf des Mannes vorging, der, nach seiner Kleidung zu urteilen, vermutlich von höherem Stand war, am Ende sogar adelig. Sie erwiderte sein Lächeln und blickte zurück auf die Düne. Ida und Marta waren unten angekommen und kullerten kichernd über den Sand. Dem Herrn im Himmel sei Dank, waren sie nicht die einzigen Verrückten, die sich diesem unsäglichen Vergnügen hingaben. Drei weitere Damen, ein junger Mann und ein kleines Mädchen rutschten ebenfalls mit größter Freude die Düne hinab. Marta erhob sich, klopfte sich den Sand vom Rock ab und winkte Rieke zu. Sie rief etwas, doch Rieke konnte die Worte nicht verstehen. Gewiss forderte ihre Mutter sie dazu auf, es ebenfalls auszuprobieren, was niemals geschehen würde. Rieke öffnete stattdessen lieber ihren Sonnenschirm und setzte sich auf einer Bank neben eine ältere Dame, die ihre Nase in ein Buch steckte und keine Notiz von ihr nahm. Hätte sie sich doch bloß nicht zu diesem dämlichen Spaziergang überreden lassen, dachte sie missmutig und ließ ihren Blick über die Dünen und aufs Watt schweifen. Langsam lief das Wasser wieder auf. Priele und Wasserrinnsale funkelten im hellen Licht der Nachmittagssonne. Eine Gruppe Touristen, darunter auch Frauen, kehrte gerade von einer Wattwanderung zurück. Zu Riekes Entsetzen trugen die Damen weder Schuhe noch Strümpfe und rafften ihre Röcke, sodass man die nackten Füße und sogar die Waden sehen konnte. Was für eine Ungeheuerlichkeit! Auf dieser Insel schienen selbst Besucher aus besseren Häusern jede Form von Anstand zu verlieren. Neben Rieke landete eine Möwe auf dem sandigen Weg, hopste Richtung Düne und erhob sich wieder in die Lüfte zu ihren unzähligen Kameraden, die durchdringend kreischten. Selbstverständlich gab es auch in Hamburg Möwen, doch hier schien ihre Zahl um einiges höher zu sein, was Rieke genauso missfiel wie die vielen Karnickel in den Dünen, die sie auch noch niedlich finden sollte. Sine meinte, die Tiere gehörten zu Amrum wie die Dünen, das Watt und das Meer. Rieke hätte gut auf sie verzichten können, genauso wie auf die ganze Insel. Sehnsüchtig zählte sie die Tage bis zu ihrer Rückkehr in ihr geliebtes Hamburg. Jeden Tag schrieb sie einen Brief an ihren Georg. Auf eine Antwort wartete sie allerdings vergebens, was sie in tiefstes Unglück stürzte. Wieso antwortete er nicht? Womöglich liebte er längst eine andere. Sie sah das Gesicht von Erna Wilhelmsen. Oh, dieses Biest. Gewiss würde sie die Gunst der Stunde nutzen und sich Georg an den Hals werfen. Doch eine Bestätigung für diese Befürchtung hatte Rieke auch von ihrer Freundin Berta nicht erhalten, die es nicht für nötig zu halten schien, ihr in dieser schweren Zeit durch ein paar Zeilen beizustehen. Erst einen einzigen Brief hatte sie von ihr erhalten, der nur wenige Belanglosigkeiten enthielt. Vermutlich verheimlichte Berta ihr etwas. Mit jedem verstreichenden Tag wurde Rieke unruhiger und missgelaunter. Aber vielleicht machte sie sich einfach zu viele Gedanken. Doch was sollte man auf dieser bescheuerten Insel, auf der sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten, auch sonst tun? Tanzvergnügen, Konzerte und ähnliche Veranstaltungen fanden nur in der Saison statt, wie sie kurz nach ihrer Ankunft erfahren hatten. Somit war sie zu Spielabenden und Strandspaziergängen verurteilt. Diese schreckliche Kaline hatte sie sogar einmal gefragt, ob sie das Krabbenpulen erlernen wolle. Was stellte sich diese trampelhafte Person nur vor? Sie war hier Gast und kein Küchenmädchen. Ihre Mutter, die mit Ida gerade eine zweite Runde Dünenrutschen in Angriff nahm, hatte sich selbstverständlich sofort zum Pulen überreden lassen. Den ganzen gestrigen Nachmittag hatte sie, mit Kaline schwatzend, in der Küche verbracht, während sie sich in der Stube mit einem geliehenen Buch zu Tode langweilte.
Zwei junge Männer kamen des Weges. Einer von ihnen blieb stehen und sagte: »Oh, welch Überraschung. Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Fräulein Stockmann. Das wagte ich gar nicht mehr zu hoffen.«
Rieke sah den Mann einen Moment verdutzt an, dann erkannte sie ihn. Es war Jacob Thieme aus Föhr.
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, lieber Herr Thieme«, antwortete sie, erfreut darüber, ihn zu sehen. »Was führt Sie nach Amrum? Ich wähnte Sie auf Föhr.«
Sie stand auf und reichte ihm die Hand, die er ergriff.
»Geschäfte, was sonst.« Er zwinkerte ihr zu. »Darf ich Ihnen meinen Freund Hinrich Thomason vorstellen?«
Der andere Mann, ein dunkelhaariger, leicht untersetzter Bursche mit Schnauzbart, nahm seinen Hut ab und streckte Rieke mit einem Kopfnicken die Hand entgegen. Er hatte ein einnehmendes Lächeln, das ihr gefiel.
»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Hinrich Thomason und deutete eine Verbeugung an.
»Und ich hatte gedacht, Sie wären längst wieder nach Hamburg zurückgereist«, sagte Jacob.
»Erst übernächste Woche«, erwiderte Rieke und vermied es, das Wort »leider« hinzuzufügen. Sie wollte noch etwas sagen, wurde aber von ihrer Mutter und Ida unterbrochen, die näher traten.
»Rieke, meine Liebe, du hast ja Gesellschaft bekommen.« Mit einem Lächeln gab Marta Jacob Thieme die Hand und begrüßte ihn mit Namen, was er wohlwollend zur Kenntnis nahm. Er beugte sich zu Ida vor, die ebenfalls freundlich grüßte und, genauso wie ihre Mutter, voller Sand war.
»Ich nehme an, die Damen haben sich dem Vergnügen des Dünenrutschens hingegeben. Das mache ich auch ganz gern.« Er zwinkerte Ida zu, die verschmitzt grinste. Dann richtete er sich wieder auf und sah Rieke an, während er fortfuhr: »Wir bleiben noch bis Sonntag auf der Insel. Heute Abend findet eines der wenigen Herbstkonzerte im Kurhaus zur Satteldüne statt. Wir würden uns freuen, wenn Sie uns begleiten könnten.«
Riekes Augen begannen zu strahlen, was Marta wohlwollend zur Kenntnis nahm.
»Es wäre uns ein Vergnügen, nicht wahr, Rieke?«, sagte sie und nahm die Einladung ohne Umschweife an.
»Ja, das wäre es«, erwiderte Rieke.
Sie hielt noch immer den Blick von Jacob Thieme fest, und es entstand ein kleiner Moment der Stille, den Marta zu deuten wusste. Wo auch immer im Kopf ihrer Tochter Georg Paulsen herumspukte, in diesem Moment hatte er nichts zu melden. Und wenn es nur wenige Stunden waren, in denen sich Rieke ablenken ließ. Sie waren ein Geschenk.
»Dann sehen wir uns also dort. Das Konzert beginnt um sieben Uhr. Wir freuen uns.« Jacob Thieme deutete eine Verbeugung an und verabschiedete sich, da bedauerlicherweise geschäftliche Termine anstanden, die nicht warten konnten.
Rieke blickte den beiden strahlend nach.
»Der hat sich in dich verguckt«, sagte Ida keck.
Rieke zuckte ertappt zusammen und gab ihrer Schwester einen Klaps auf die Schulter. »Welch ein Unsinn. Er ist eben ein Gentleman.«
»Ja, und dann auch noch so ein netter«, fügte Ida hinzu. »Und er mag Dünenrutschen. Davon hast du keine Ahnung. Komm schon«, bettelte Ida, »eine Runde mit mir. Es macht einen Riesenspaß.«
»Damit ich Sand in die Haare bekomme«, entgegnete Rieke. »Ich muss doch heute Abend perfekt aussehen.«
»Ach, du hast doch einen Hut auf.« Ida ließ nicht locker. »Und wir rutschen auf dem Po und nicht auf dem Kopf. Jetzt hab dich doch nicht so.«
Rieke blickte zu ihrer Mutter, die ihr aufmunternd zunickte. »Es macht wirklich großen Spaß.«
»Also gut«, gab Rieke nach und reichte ihrer Mutter den Sonnenschirm. »Damit die liebe Seele ihre Ruhe hat.«
Sie nahm Idas Hand, die beiden traten an den Rand der Düne und setzten sich. Keine Sekunde später ging es los. Lachend rutschten sie über den Sand, der sich herrlich warm und weich anfühlte. Als sie unten ankamen, warf sich Ida in Riekes Arme, und die beiden fielen kichernd um. Ida drückte Rieke ein Küsschen auf die Wange und rief überschwänglich: »Es ist so schön, wenn du fröhlich bist. Wollen wir gleich noch einmal?«
»Gern«, erwiderte Rieke und drückte ihre Schwester fest an sich, »aber nur, wenn Mama dieses Mal mitrutscht.« Und in Gedanken fügte sie hinzu: Wenn schon peinlich, dann alle drei gemeinsam.