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E
s dämmerte bereits, als Rieke am Strand ankam, wo ein böiger Wind für unruhige See sorgte. Hohe Wellen schlugen ans Ufer, letzte Sonnenstrahlen ließen die Wasseroberfläche funkeln. Rieke nahm ihren Hut ab, löste ihr Haar, schloss die Augen und atmete die salzige Luft tief ein. Es tat gut, hier draußen zu sein, sich frei zu fühlen und dem Trubel im Haus zu entfliehen. Irgendwann hatte sie sich dazu durchgerungen, Tante Nele zu begrüßen. Diese hatte sie so fest an sich gedrückt, dass sie beinahe keine Luft mehr bekam, und die ganze Zeit über wie ein Wasserfall geredet. Doch ihr war heute nicht nach den Erzählungen von Tante Nele zumute, obwohl sie den neuesten Tratsch aus Hamburgs Straßen und Gassen mitbrachte. Irgendwann hatte Rieke es nicht mehr ausgehalten, hatte ihren Mantel genommen und sich fortgeschlichen. Sie musste allein sein und nachdenken, und das ging am Strand am besten. Trotz ihres schrecklichen Erlebnisses im Watt hatte sie die See lieb gewonnen. Sie konnte gar nicht so genau sagen, was es war, was sie faszinierte. Vielleicht war es der stetige Wandel, der es ihr angetan hatte. Jedes Mal wenn sie hierherkam, sah das Meer anders aus. An einem Tag war es rau, stürmisch und aufbrausend, am nächsten friedlich. Es schien wie ein Getriebener, zwischen den Gezeiten gefangen, launisch, freundlich, gefährlich und wunderschön. In Steenodde gab es einen Spruch, den irgendjemand in der Nähe vom Hafen auf ein Holzschild geschrieben hatte, der ihr gerade jetzt in den Sinn kam.
Freunde, geht ins Seebad! Jedes Leid und Weh
lindert und beschwichtigt, scheucht und heilt die See.
Heute fühlte es sich genau so an. Sie brauchte die See, die ihren Schmerz linderte und sie zur Ruhe brachte. Hier am Meer konnte sie ihre Gedanken ordnen.
Sie griff in ihre Rocktasche und holte den Brief von Berta hervor, den sie heute erhalten und dessen Inhalt sie zum Weinen gebracht hatte. Bertas kleine Schwester Susanne war an Diphtherie verstorben. Der kleine Sonnenschein mit den blonden Locken, der sie stets so freudig begrüßt und schon als Kleinkind auf ihren Knien geschaukelt hatte. Auf dem Briefpapier war die Tinte stellenweise verwischt. Berta hatte anscheinend geweint, als sie ihr die Zeilen geschrieben hatte. Bertas für Ende Mai geplante Hochzeit war verschoben worden. Zum Feiern war niemandem zumute, was Rieke gut verstehen konnte. Berta hatte jetzt endgültig all ihre Geschwister, drei an der Zahl, an irgendwelche hinterlistigen Krankheiten verloren. Die Machtlosigkeit ist das Schlimmste, hatte sie geschrieben. Auch jetzt trieben Bertas Worte Rieke erneut die Tränen in die Augen. Wie sollte sie hier auf Amrum fröhlich sein, wenn es ihrer besten Freundin zu Hause so schlecht ging? Oder war sie überhaupt noch ihre beste Freundin? Konnte man das noch sein, wenn ein ganzes Meer zwischen ihnen lag? Beste Freundinnen mussten miteinander reden und sich umarmen können. Sie mussten füreinander da sein und einander trösten. Sie konnte Berta jetzt nicht trösten, nicht in den Arm nehmen, nicht zuhören. Sie konnte nur hier am Strand stehen und an sie denken, zurückschreiben, was nicht dasselbe sein würde. Sie vermisste Hamburg sehr. Sie bemühte sich wirklich, aber diese Insel mit all ihrer Schönheit hatte es noch immer nicht geschafft, ihr Herz zu erobern. Und der Weggang von Jacob hatte alles noch schlimmer gemacht. Sine schien ihre Ablehnung zu spüren. Rieke hatte sie einmal mit Kaline über sich reden hören. Das Mädchen hasst unser Inselchen, hatte sie gesagt. Kaline hatte Sine widersprochen und Rieke verteidigt, wofür diese ihr dankbar war. Seitdem Kaline sie aus dem Watt gerettet hatte, bestand eine enge Verbindung zwischen ihnen. Blicke, Gesten, wortlos verstanden sie einander. Veränderung passiert nicht von jetzt auf gleich, hatte Kaline gesagt. All die Wünsche, Träume und Hoffnungen eines vergangenen Lebens müssen begraben werden. Jeder brauche dafür seine Zeit. Hamburg war vergangen. Niemals wieder würde sie über die Reeperbahn laufen, in Hornhardts Concertgarten
einer Musikkapelle lauschen, plappernd mit ihren Freundinnen über den Jungfernstieg spazieren und ins Kaffeehaus gehen. Doch auch Hamburg hatte sich in den letzten Monaten verändert. Trotz des Todes ihrer Schwester würde Berta noch in diesem Sommer heiraten. Simon wollte mit ihr nach Blankenese ziehen. Zwei ihrer Klassenkameradinnen waren bereits verheiratet, eine weitere Freundin plante, nach Amerika auszuwandern. Veränderung. Sie schlich sich an, kam auf leisen Sohlen, raubte das Gewohnte und brachte so manchen Kummer. Riekes Blick folgte einer Möwe, die ihre Kreise über dem Wasser zog und aufs Meer hinausflog. Nicht weit entfernt lag Föhr. Sie dachte an Jacob. Er fehlte ihr mehr, als sie sich eingestehen wollte. Hatte sie sich wirklich Hoffnungen gemacht? Er war nett, höflich, zuvorkommend und sah gut aus. Aber mit den Männern der Hamburger Gesellschaft war er nicht zu vergleichen. Trotzdem wäre es schön gewesen, wenn er geblieben wäre.
»Rieke?«
Rieke zuckte erschrocken zusammen und wandte sich um. Doch es war nur Thaisen, der neben sie trat.
»Ach, Thaisen, du bist es. Meine Güte, hast du mich erschreckt.«
»Das wollte ich nicht«, entschuldigte er sich. »Hier steckst du also. Marta hat sich vorhin Gedanken darüber gemacht, wo du abgeblieben bist.«
»Ich wollte ein wenig meine Ruhe haben«, erklärte Rieke.
»Was ich gut verstehen kann«, erwiderte er grinsend. »Heute war es recht hektisch. Aber eure Tante Nele ist sehr nett.«
»Ja, das ist sie«, antwortete Rieke, um ein Lächeln bemüht. Thaisen nickte. Er wirkte seltsam unbeholfen. Als wüsste er nicht so recht, was er noch sagen sollte.
Schweigend beobachteten sie die Sonne dabei, wie sie im Meer versank. Halb verdeckt von einigen Wolken, tauchte sie den Himmel in ein atemberaubendes rotes Leuchten.
»Kennst du den Spruch auf dem Schild am Hafen von Steenodde?«, fragte Rieke unvermittelt.
»Ja, natürlich«, antwortete Thaisen.
»Denkst du, er stimmt tatsächlich?«
»Gibt es denn ein Leid, das die See heilen soll?«, fragte Thaisen.
Rieke sah ihn verwundert an.
»Du hast heute Mittag im Küchengarten geweint. Ida und ich haben dich gesehen. Es liegt an dem Brief, oder?« Er deutete auf Bertas Brief, den Rieke noch immer in den Händen hielt.
Sie nickte und antwortete: »Die kleine Schwester meiner besten Freundin ist an Diphtherie verstorben. Ich hatte sie gern. Sie war ein lieber kleiner Wirbelwind, der stets gelacht hat.«
»Oh, das tut mir leid«, antwortete Thaisen betroffen. Er trat noch ein Stück näher an Rieke heran und berührte kurz ihren Arm.
»Ich wäre jetzt so gern bei meiner Freundin«, fuhr Rieke fort. »Einfach nur, um für sie da zu sein. Verstehst du das?«
Thaisen nickte, sagte jedoch nichts. Erneut herrschte Schweigen. Die Stille tat Rieke gut. Nicht reden, nichts erklären müssen. Susanne war tot, Berta traurig, die Tinte in ihrem Brief verwischt von ihren Tränen. Worte würden es nicht besser machen, nichts ändern.
Thaisen war es, der nach einer Weile sagte: »Du magst das Meer, nicht wahr?«
»Ja, das tue ich«, antwortete Rieke überrascht.
»Ida sagt, du würdest alles hier hassen, aber das stimmt nicht. Du siehst das Meer an wie ein Mensch, der es wirklich liebt.«
»Das mag sein. Nur leider weiß ich noch nicht so recht, wie es mit mir weitergehen soll.«
»Aber irgendwie geht es doch immer weiter«, antwortete Thaisen. »Kaline sagt das immer.«
»Wenn das so ist, dann wird es schon stimmen.«
»Du hast sie gern, oder?«
»Ja, das hab ich. Sie ist meine Retterin und versteht mich.«
»Im Verstehen ist sie die Beste.« Thaisen grinste.
»Langsam beginne ich zu begreifen, weshalb Ida dich so mag«, meinte Rieke mit einem Lächeln. »Danke fürs Zuhören, Thaisen Bertramsen.«
»Aber gern«, erwiderte er. »Jederzeit wieder.«
»Wir sollten gehen, oder?«
»Ja, das sollten wir. Bestimmt wartet mein Vater schon auf mich.«
Die beiden verabschiedeten sich voneinander, und Thaisen lief Richtung Seehospiz davon.
Rieke schlenderte zu dem nach Norddorf führenden Dünenweg. Im Dämmerlicht stand dort eine Frau, und Rieke brauchte einen Moment, um Kaline zu erkennen. Weshalb lief sie um diese Zeit zum Strand? Rieke blieb vor Kaline stehen und sah ihr in die Augen. Kaline erwiderte den Blick, ohne etwas zu sagen. Rieke wusste nicht, warum, aber plötzlich hatte sie das Gefühl, dass erneut eine Veränderung bevorstand.
»Was ist los?«, fragte sie.
Kaline schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt.«
»Vielleicht morgen?«
Kaline zuckte mit den Schultern, sagte jedoch nichts.
Rieke verstand. Was es auch war, das Kaline an den Strand getrieben hatte, es würde ihnen nicht gefallen. Schweigend liefen die beiden zum Hotel zurück, und Rieke zog fröstelnd ihr Schultertuch enger um sich.