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Norddorf, 10. Mai 1892
Jetzt sitze ich hier in der Küche und fühle mich schrecklich leer. Sine und Kaline sind erst seit wenigen Stunden fort, und trotzdem habe ich das Gefühl, unserem Häuschen fehlt die Seele. Wie soll es ohne die beiden nur weitergehen? Übermorgen treffen die ersten Gäste ein. Ich kann doch nicht alles allein machen. Rieke hilft natürlich, und Ida hat versprochen, auf Marie zu achten. Aber auf Dauer kann es so nicht weitergehen. Wir benötigen Personal, und dieses muss untergebracht werden. Eine Köchin könnte in der Kammer neben der Küche schlafen. Ein Zimmermädchen unter dem Dach. Auch Jasper wird bald bei uns einziehen, denn das Häuschen von Sine und Kaline soll verkauft werden. Die beiden wollen mit dem Geld ihre Tochter unterstützen. Wilhelm überlegt, die Kammer neben dem Stall auszubauen. Dort hätte Jasper seine Ruhe und etwas Privatsphäre. Auch mag er die Nähe zu den Tieren.
Ich werde noch heute eine Suchanzeige für eine Köchin aufsetzen. Frauke hat mir angeboten, diese auszuhängen. Aber was soll ich schreiben? Eine wie Fanny, oder eben Sine, müsste es ein. Ach du je, jetzt fange ich zu heulen an. Wenn nur Nele noch hier wäre oder ich sie wenigstens anrufen und um Rat fragen könnte. Sie weiß immer, wie sie mich beruhigen kann. Am Ende geht doch noch alles schief. Was soll nur werden, wenn wir es nicht schaffen und Schiffbruch erleiden? Oder sehe ich zu schwarz? Wir können nur hoffen, dass die neuen Gäste liebe und umgängliche Leute sind und unser Haus mögen werden. Der Rest wird sich hoffentlich bald finden.
Das war es dann für heute.
K üstennebel. Ich hasse Küstennebel«, maulte Rieke. »Warum muss der dumme Kerl ausgerechnet jetzt aufziehen? Gerade eben war es noch so schön sonnig und warm.«
Sie stand neben ihrem Vater in Wittdün am Hafen, um ihre ersten Gäste mit ihm gemeinsam in Empfang zu nehmen. Auch Jasper war mitgekommen, der sehnsüchtig zu der kleinen Verkaufsbaracke in der Nähe der Brücke blickte, wo Marie Jansen Schnaps verkaufte. Die blonde Mittvierzigerin schien heute mal wieder selbst ihre beste Kundin zu sein, denn in ihren Augen lag bereits der selige Ausdruck eines Betrunkenen.
»Ach komm schon, Chef«, startete Jasper einen erneuten Versuch, Wilhelm dazu zu überreden, sich einen Kurzen zu genehmigen. »Das Schiff ist doch noch gar nicht in Sicht, und so ein Schnaps wärmt den Magen. Ich geb Rieke auch einen aus. Die Deern zittert ganz scheußlich.«
»Ich habe Nein gesagt«, entgegnete Wilhelm, der sichtlich nervös war. »Einen betrunkenen Kutscher kann ich jetzt nicht auch noch gebrauchen, und Rieke mag keinen Schnaps.«
So hatte er sich den Ankunftstag seiner ersten Gäste nicht vorgestellt. Alles sollte perfekt gerichtet und das Wetter schön sein. Doch plötzlich schien überall der Teufel drinzustecken. Seit Sine und Kaline abgereist waren, war seine Marta vollkommen verändert und ließ ihren Ärger an den Kindern, bevorzugt an Rieke, aus, die ihr, so schien es jedenfalls, so gar nichts recht machen konnte. Den ganzen Tag lief das arme Ding wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend, hängte Wäsche auf, scheuerte die Fußböden, schälte Kartoffeln, rupfte Unkraut, pulte Krabben, hatte die Hände im Brotteig stecken und polierte bis tief in die Nacht das Silberbesteck, das ihnen Sine und Kaline überlassen hatten, weil Marta die Gäste damit unbedingt beeindrucken wollte. Ida war die Aufgabe zugefallen, sich um Marie zu kümmern, was sie murrend hinnahm. Ihre abenteuerlichen Ausflüge über die Insel mit Thaisen waren damit erst einmal Geschichte. Auch gab es jetzt niemanden mehr, der mit ihnen aufs Watt hinauslief, um Austern zu ernten. Selbst Marie fing im Moment wegen jeder Kleinigkeit zu weinen an. Und sogar Jasper, der Wilhelm bisher immer wie ein Fels in der Brandung vorgekommen war, wirkte verloren, so wie er neben ihm stand und immer wieder sehnsüchtig zu der Schnapsbude hinüberstarrte.
»Der Schnaps wird uns Sine und Kaline auch nicht zurückbringen«, sagte Wilhelm zu ihm.
»Ich weiß«, antwortete Jasper seufzend. »Aber er würde wenigstens den Magen wärmen.«
Das laute Geräusch des Schiffshorns drang durch den Nebel zu ihnen durch.
»Das Schiff kommt«, rief Rieke. Die Umrisse des Dampfers tauchten aus dem Nebel auf, und Wilhelm straffte die Schultern. Jetzt galt es, Stärke zu zeigen. Die Gäste sollten auf keinen Fall spüren, dass irgendetwas nicht stimmte. Jasper hielt das Schild in die Höhe, auf dem Hotel Inselblick geschrieben stand. Hoffnungsvoll blickten sie auf die doch recht ansehnliche Menschengruppe, die den Anleger hinunterlief. Es waren zwei Familien, die sich angemeldet hatten. Zusätzlich zur Familie Franke aus Hannover reiste noch eine Familie Marwitz aus Berlin an. Vater, Mutter und Sohn.
»Dort vorn«, rief eine groß gewachsene Frau mit schriller Stimme und deutete auf sie. Meine Güte, sie hörte sich an wie eine Blechtrommel. Die Frau blieb direkt vor ihnen stehen und fragte unnötigerweise: »Sie sind vom Hotel Inselblick? «
Wilhelm bejahte. »Marwitz mein Name, Hedwig Marwitz.« Ihr Blick wanderte von Wilhelm zu Rieke und Jasper. »Zu dritt?«
»Das hat sich heute so ergeben«, erwiderte Wilhelm fast schon kleinlaut und stellte Rieke und Jasper vor. Die Frau hatte etwas Respekteinflößendes an sich. Jasper bewunderte die beeindruckend große Hakennase der Dame. Er konnte sich beileibe nicht erinnern, solch ein dominantes Riechorgan schon einmal gesehen zu haben. Ein dicklicher Mann, der einen recht abgehetzten Eindruck machte, trat näher. Ihm folgte ein blonder Knabe, Wilhelm schätzte ihn auf zwölf oder dreizehn Jahre, mit unfassbar vielen Sommersprossen im Gesicht. Den Schluss des Trosses bildeten zwei junge Kofferträger, die einen recht zerknitterten Eindruck machten.
»Herzlich willkommen auf Amrum«, ergriff Rieke, um ein strahlendes Lächeln bemüht, das Wort. Eines stand schon jetzt fest: Frau Marwitz und sie würden keine Freundinnen werden.
»Sehen tut man ja nicht viel davon«, sagte Frau Marwitz spitz. Rieke zuckte zusammen, doch so schnell würde sie sich von dieser Ziege nicht unterkriegen lassen. Da war sie in Hamburg andere Zicken gewohnt.
»Küstennebel. Der verzieht sich gewiss bald wieder.«
Wilhelm beeilte sich, seiner Tochter zuzustimmen, während Jasper sich um die Verladung des Gepäcks kümmerte.
Die zweite Familie näherte sich ihnen. Ein Mann mittleren Alters mit einer Nickelbrille auf der Nase blieb vor Wilhelm stehen, stellte zwei Koffer auf den Boden und reichte ihm lächelnd die Hand.
»Guten Tag, Franke mein Name. Rudolf Franke.« Wilhelm stellte sich, Rieke und Jasper vor. Rudolf Franke folgte seine Gattin. Eine blonde, extrem schmale, kleine Frau, die einen recht mitgenommenen Eindruck machte. »Meine Gattin Charlotte.«
Rieke mochte die Frau auf den ersten Blick. Sie hatte etwas Elfenhaftes an sich, so zart, wie sie wirkte. »Wo bleibt denn nur Klara schon wieder?«, fragte Rudolf Franke seine Gattin und blickte sich um. »Ständig geht sie verloren.«
Aus der Menge der Ankömmlinge löste sich ein junges Mädchen, Rieke schätzte sie auf vierzehn oder fünfzehn. Ihre Schönheit war es, die sie auf den ersten Blick beeindruckte. Klara war eine Mischung ihrer Eltern. Von ihrer Mutter hatte sie die zarte Statur geerbt, von ihrem Vater das dunkle Haar und die braunen Augen. Sie hatte etwas von einem Reh an sich und bewegte sich mit einer Eleganz, die ihresgleichen suchte. In Hamburg würden ihr sämtliche Männer der besseren Gesellschaft zu Füßen liegen.
Jasper verstaute auch die Koffer der Familie Franke auf dem Wagen. Als alle an Bord waren, Rieke saß zwischen ihrem Vater und Jasper auf dem Kutschbock, ging es los. Während der Fahrt nach Norddorf lichtete sich zu Riekes Erleichterung der Nebel, und die Sonne kam hervor.
»Sieh nur die entzückenden Häuser«, hörte sie Charlotte Franke sagen, als sie durch Nebel fuhren.
»Ich weiß nicht«, entgegnete Hedwig. »Sieht doch alles recht primitiv aus. Wo sind nur die mondänen Kur- und Logierhäuser, von denen uns in dem Prospekt vorgeschwärmt wurde? Also, da sind wir von Warnemünde aber anderes gewohnt.«
Rieke sah zu ihrem Vater, der ein Schulterzucken andeutete. Sie ahnten beide, was kommen würde, und wieder einmal verfluchte sich Wilhelm dafür, ihr kleines Häuschen vollmundig als das erste Hotel am Platz angepriesen zu haben. Er hätte auf Marta hören und nicht so große Töne spucken sollen. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Gäste waren nun einmal da, und es galt, Haltung zu bewahren.
Sie erreichten Norddorf, das bereits beim Anblick der ersten Häuser bei Hedwig in Ungnade fiel.
»Wird das noch größer?«, fragte sie.
»Komm. Wir stoßen sie vom Wagen«, raunte Jasper Rieke zu, was sie zum Schmunzeln brachte, sie aber auch daran erinnerte, wie sie damals reagiert hatte, als sie Norddorf zum ersten Mal erblickte. Aber vielleicht würde sich ja auch eine Hedwig Marwitz noch darauf besinnen, was die Reize der Insel ausmachte.
Als sie vor dem Hotel hielten, standen Marta, die Marie auf dem Arm hatte, Ida und Thaisen vor dem Eingang. Ida hielt ein Tablett mit hausgemachter Limonade in Händen, damit sich die Gäste erfrischen konnten. Wie hübsch sie in ihrem rosafarbenen Kleid mit der adretten Schürze und dem Strohhut auf dem Kopf aussah. Auch Thaisen hatte sich in Schale geworfen. Er trug halbwegs saubere Hosen, seine schwarze Weste und eine Kapitänsmütze auf dem Kopf, die ihm allerdings ein bisschen zu groß war.
Doch auch das Begrüßungskomitee konnte nicht verhindern, dass genau das passierte, was Rieke und Wilhelm die ganze Fahrt über befürchtet hatten.
»Das ist es?«, rief Hedwig Marwitz entsetzt aus. »Wir werden veräppelt, oder? Das soll das erste Hotel am Platz sein? Diese windige kleine Hütte?«
Diese Worte trafen Rieke wie ein Schlag ins Gesicht. Sie sah, wie das Lächeln auf den Lippen ihrer Mutter gefror. Wieso hatte das Schicksal ihnen ausgerechnet jetzt so eine grässliche Person schicken müssen?
»Also ich finde es recht hübsch«, sagte Charlotte Franke, als Hedwig Luft holte. »Und dieser bezaubernde Garten mit den herrlichen Blumen. Es ist wirklich ganz entzückend.«
Rieke verbiss sich eine patzige Erwiderung an Hedwig und setzte ein verbindliches Lächeln auf. »Es freut mich, dass Ihnen unser kleines Hotel gefällt«, antwortete Rieke, an Charlotte Franke gewandt. »Und es ist tatsächlich das erste Hotel am Platz, denn in Norddorf gibt es nur noch das Seehospiz des ehrenwerten Pastors Bodelschwingh, das von unserem Inselpfarrer geleitet wird. Pastor Bodelschwingh hat unseren Ort extra wegen der wunderbaren Natur und dem kräftigen Wellenschlag ausgewählt«, fügte sie noch hinzu.
Jasper sprang vom Wagen und half den Herrschaften beim Aussteigen. Hedwig Marwitz erwiderte Riekes Blick mit einem süffisanten Grinsen.
»Das mag sein, meine Teuerste. Aber mich werden keine zehn Pferde dazu bringen, in dieser Hütte zu nächtigen. Karl.« Ihr Mann, der Jasper beim Gepäck zur Hand ging und bis dahin geschwiegen hatte, eilte neben sie. »Du kümmerst dich noch heute um eine adäquate Unterkunft für uns, die unseren Ansprüchen angemessen ist. Verstanden?«
»Aber gewiss doch, meine Teuerste. Sofort.« Er sah Wilhelm an, zuckte mit den Schultern und meinte: »Wenn ich das geahnt hätte. Aber es war ja nicht abzusehen.«
Fritz Marwitz gesellte sich unterdessen zu Thaisen und Ida, nahm eine Limonade und leerte sie in einem Zug.
»Die schmeckt ja lecker«, rief er und griff sich gleich noch ein Glas. »So ’ne Limo kriegt man in Berlin nich, wa.« Er lispelte stark, was Thaisen genauso zum Schmunzeln brachte wie der deutliche Berliner Dialekt.
»Wir machen sie selbst«, sagte Marta und stellte Marie neben sich auf den Boden. Die Kleine lief zu Rieke und klammerte sich an ihren Rock. Rieke hob sie hoch und setzte sie sich auf die Hüfte.
»Was für ein entzückendes kleines Mädchen«, sagte Charlotte Franke. »Ihre Tochter?«, wandte sie sich an Marta.
»Ja, meine Jüngste«, antwortete Marta. »Sie ist zwei Jahre alt.«
»Ein Familienbetrieb also. Wie nett. Und wie ist dein Name?«, fragte sie Ida.
Ida nannte ihren Namen und bot Charlotte eine Limonade an, die sie dankend entgegennahm.
»Jetzt hat endlich diese fürchterliche Übelkeit nachgelassen«, sagte sie und nippte an dem erfrischenden Getränk. »Dieses Schiff hat heftig geschaukelt. Mir graut schon vor der Rückfahrt.«
»Das nennt man Seekrankheit«, sagte Jasper, der neben ihr stand und sich, ohne darüber nachzudenken, was er da eigentlich machte, ein Glas Limonade nahm und es in einem Zug leerte. »Aber das kriegen wir in den Griff. Wir nehmen Sie ein paarmal auf dem Kutter von Philipp Schau mit aufs Meer hinaus. Danach macht Ihnen das Geschaukel nichts mehr aus. Versprochen.«
»Das auch noch«, zeterte Hedwig hinter Jasper weiter. »Jetzt trinken uns die Angestellten auch noch die Erfrischungen weg. Karl.« Ihre Stimme bekam etwas Kreischendes.
Jasper wandte sich um und sah die Frau seelenruhig an. »Jetzt haben Sie sich mal nicht so. Es ist genug für alle da.«
Hedwig überraschte seine Antwort derart, dass ihr die Worte fehlten. Sie schnappte nach Luft und begann erneut, den Namen ihres Mannes zu rufen, der etwas hilflos am Gartenzaun, von ihrem Gepäck umgeben, stehen geblieben war.
Marta warf Jasper, bemüht darum, nicht laut aufzulachen, einen strafenden Blick zu.
»Vielleicht sollten wir erst einmal ins Haus gehen«, schlug sie vor. »Wir haben einen Imbiss vorbereitet, und sie könnten die Zimmer in Augenschein nehmen.«
»Eine hervorragende Idee«, sagte Rudolf Franke, nahm zwei seiner Koffer, folgte Marta ins Innere des Hauses und in die Gaststube, wo er sich sofort begeistert von der gefliesten Wand zeigte. Seine Gattin und die Tochter folgten ihm. Klara warf Rieke einen belustigten Blick zu, der ihr gefiel. Vielleicht könnten sie ja bald gemeinsam zu einer Tanzveranstaltung nach Wittdün gehen.
Die Familie Marwitz nahm die Einladung ins Haus nicht an. Mit fester Hand hinderte Hedwig ihren Sohn daran, den anderen zu folgen.
»Keine zehn Pferde werden mich in dieses Haus bringen«, sagte sie und reckte das Kinn vor. »Karl. Du kümmerst dich darum, dass wir schnellstmöglich von hier fortkommen. Am besten zurück nach Wittdün. Dort sah es mir doch etwas gesitteter aus.«
Karl, der einen hilflosen Eindruck machte, nickte beflissen. »Und bitte, sorge für eine andere Transportmöglichkeit.« Sie deutete auf das Fuhrwerk. Jetzt nickte Karl nicht mehr. Er getraute sich sogar, das Wort zu erheben. »Aber, meine Teuerste. Ich sehe ja ein, dass …«
»Du wirst mir jetzt doch wohl nicht widersprechen«, herrschte seine Gattin ihn an. »Du hast uns mit der Buchung dieses schrecklichen Hotels in diese Lage gebracht. Also sieh zu, wie du es wieder hinbekommst, und zwar so schnell wie möglich. Ich möchte ja schließlich nicht in diesem Vorgarten übernachten.«
Marta, die wieder nach draußen getreten war, um nach ihren Gästen zu sehen, hatte die letzten Worte von Hedwig gehört und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Solche Gäste wie Hedwig Marwitz waren ihr nicht neu, auch wenn sie gehofft hatte, dieser Kelch würde an ihr vorübergehen. Wie sagte Nele immer: Ruhig bleiben, Lösungen suchen und immer lächeln. Sie beherzigte diesen Ratschlag, setzte ihr freundlichstes Lächeln auf und sagte zu Hedwig Marwitz: »Es tut uns sehr leid, dass wir Ihnen und Ihrer Familie Unannehmlichkeiten bereiten. Wir werden selbstverständlich alles dafür tun, dass Sie eine andere Unterkunft erhalten, die Ihren Ansprüchen gerecht wird. Ich kann Ihnen da zum Beispiel das neu erbaute Kurhaus in Wittdün empfehlen oder das Hotel Kaiserhof. Aber vielleicht möchten Sie, bis wir eine Lösung gefunden haben, doch hereinkommen und eine Kleinigkeit essen. Wir haben Nordseekrabben mit Butterkartoffeln vorbereitet. Dazu einen frischen Salat.«
»Das hört sich doch gut an, meine Teuerste«, ergriff Karl das Wort und lächelte Marta erleichtert an.
»Wenn Sie möchten, können Sie den Imbiss auch im Garten einnehmen und das schöne Wetter genießen.«
»Meinetwegen«, lenkte Hedwig ein. »Aber das Haus betrete ich nicht. Wie gelangt man in den Garten?«
Sie ist ein stures Biest, dachte Marta, während sie Hedwig anbot, ihr den Weg zu zeigen. Aber so schnell würde sie nicht aufgeben. Es wäre doch gelacht, wenn sie diese starrsinnige Person nicht doch noch von den Vorzügen ihres Häuschens überzeugen konnte. Hedwig und ihre Familie setzten sich an einen Tisch unter den Kirschbäumen, und Rieke servierte ihnen Wein und Limonade. Familie Franke nahm am Nebentisch Platz, und Rudolf Franke ließ es sich nicht nehmen, Hedwig auf ihre Kritik anzusprechen.
»Ich verstehe Ihre ganze Aufregung nicht, meine Teuerste«, sagte er höflich. »Die Gaststube ist hübsch und gemütlich, und die Zimmer sind ganz zauberhaft eingerichtet. Sogar eine Etagentoilette mit Wasserspülung ist vorhanden. Was ich schon für einen besonderen Komfort halte.«
»Und es ist so herrlich ursprünglich«, ergriff nun Charlotte das Wort. »Nicht wahr, Klara?«
Klara beeilte sich zu nicken. »Sehr hübsch, wirklich. Es sieht genauso aus wie in diesem schönen Reiseprojekt, den wir neulich gesehen haben.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Hedwig. »Es wirkt doch alles sehr einfach und alt, und dann ist es winzig. Eine Toilette mit Wasserspülung sagen Sie. Da sieh mal einer an. Hätte ich nicht gedacht.« Sie klang etwas versöhnlicher.
Rieke kam in den Garten, verteilte Körbe mit selbst gebackenem Brot auf den Tischen und erkundigte sich, ob noch etwas fehle.
Es dauerte nicht lang, bis Marta mit einem Tablett voller Salatteller, Besteck und Servietten erschien. Rasch waren die Tische eingedeckt, und die Gäste begannen zu essen. Die Salatteller waren noch nicht geleert, da folgte bereits das Hauptgericht: Butterkartoffeln mit den Nordseekrabben, zu denen Marta eine aus Schmand und Kräutern bestehende Soße servierte. Es kehrte gefräßige Stille ein. Selbst Hedwig schien das Essen zu schmecken, denn sie aß ihren Teller leer. Fritz und Karl Marwitz baten sogar um Nachschlag und sparten nicht an Lob für die Küche. Man kam ins Gespräch. Hedwig und Karl Marwitz setzten sich irgendwann zu den Frankes an den Tisch. Marta brachte Butterkuchen und Kaffee, und Wilhelm schenkte großzügig Schnaps aus. Klara gesellte sich irgendwann zu Rieke in die Küche und begann, sie über die Insel auszufragen. Und der junge Fritz suchte Idas und Thaisens Gesellschaft. Die drei machten sich, von den anderen unbemerkt, zum Strand davon. Als die Dämmerung hereinbrach, beschloss Hedwig, sich doch das Innere des Hauses anzusehen. Und welch ein Sinneswandel. Sie zeigte sich von der kleinen Gaststube begeistert. Auch hier hatte es ihr besonders die geflieste Wand angetan. Marta erklärte, dass die blau-weißen Kacheln in vielen Friesenhäusern auf den Inseln vorhanden waren, oftmals sogar ganze Schiffe abbildeten. Auch die Gästezimmer gefielen Hedwig plötzlich. Hedwig und Karl nächtigten in der etwas geräumigeren Kammer direkt neben der Stiege, während ihr Sohn Fritz, der eben erst mit Ida vom Strand zurückgekehrt war, in einer danebenliegenden, schmalen Kammer in einem Alkovenbett schlief, was dem Buben auf Anhieb gefiel. »Das ist ja wie bei den richtigen Seemännern, wa«, rief er freudig aus und krabbelte aufs Bett. Jasper brachte das Gepäck nach oben. Selbst ihn bedachte Hedwig nun mit einem wohlwollenden Blick.
»Vielleicht ist es hier ja doch nicht so schlecht, wie ich anfangs dachte«, sagte sie zu ihrem Mann und schenkte Marta ein herzliches Lächeln. Marta überlegte, wie oft Wilhelm ihr das Schnapsglas nachgefüllt haben mochte. Der gute Korn hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Und schließlich heiligte der Zweck manchmal die Mittel.
Als sie den Raum verließ und die Stiege nach unten ging, wich endgültig die Anspannung von ihr. Himmel, war das ein schrecklicher Tag gewesen. Aber am Ende war noch alles gut geworden.
Im unteren Flur angekommen, legte Jasper ihr die Hand auf die Schulter und fragte: »Darauf einen Korn?«
Marta nickte und erwiderte: »Gern. Wegen mir auch zwei oder drei.«