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I
da saß neben Thaisen am Grab des namenlosen Mädchens und starrte auf die verwelkten Blumen, die sie vor wenigen Tagen hier abgelegt hatte. Sie hatte gewusst, dass er hier war, an ihrem Rückzugsort, der ihnen Kraft gab. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie wieder zu Atem gekommen war, denn so schnell war sie noch nie in ihrem Leben gerannt. Den Strand hinunter, immer an der Wasserlinie entlang, wo die Wellen um ihre Füße spülten und ihre Schuhe nass wurden. Doch das war ihr gleichgültig gewesen, denn sie hatte das Meer mit all seiner Wucht und Ursprünglichkeit gebraucht. Grau war die See heute Morgen. Aufgewühlt. Der von Salz- und Tanggeruch erfüllte kühle Wind wehte ihr ins Gesicht und trocknete ihre Tränen. Sie hatte nicht glauben wollen, was der Bäckerjunge erzählte, und war sofort ins Hospiz geeilt, wo ihr eine traurige Diakonissin den Tod von Sybille Bertramsen bestätigte. Auch dort war die Todesnachricht der Pfarrersfrau erst wenige Minuten zuvor eingetroffen und hatte für Bestürzung gesorgt. Sybille Bertramsen war tot. Gestorben bei der Geburt ihres vierten Kindes. Ein kleines Mädchen, das überlebte und nun keine Mutter mehr hatte, weil diese innerhalb kurzer Zeit verblutet war. Es musste schrecklich gewesen sein. Es durfte nicht sein. Nicht Sybille, die so lieb und gut zu ihr gewesen war. Sie hatte so herrlich geduftet. Nach Kamille und Lavendel. Lavendel, den sie auf dem Dachboden zum Trocknen aufhängte und den Thaisen und sie an einem sonnigen Herbstnachmittag in kleine Säckchen steckten, die in den Schränken die Motten vertreiben würden.
Als sie das Feld der namenlosen Toten erreichte, hatte sie ihn schon von Weitem sitzen sehen und erneut zu weinen begonnen. Doch sie wischte die Tränen ab, denn sie musste jetzt stark sein. Für Thaisen, für Sybille und vielleicht auch für das kleine Mädchen, das seine Mutter niemals kennenlernen würde.
Thaisen sprach nicht. Wie erstarrt saß er da und blickte auf das hölzerne Kreuz und die verwelkten Blumen. Dieser Ort war in den letzten Monaten zu etwas Besonderem geworden. Sie wussten nicht, warum, aber so war es. Sie saßen am Grab des fremden Mädchens und berichteten ihr von ihrem Tag, von ihrem Kummer, von ihrem Leben. Sie ersannen für sie Geschichten, erfanden ein Aussehen und ein Leben für sie. Blonde Zöpfe, Sommersprossen auf der Nase, graublaue Augen, weil nur blau langweilig gewesen wäre. Ein dunkelgrünes Kleid mit weißer Schürze, dazu ein passender Hut auf dem Kopf. Sie wurde in ihrer Fantasie lebendig und war Prinzessin, Piraten- oder Händlerstocher. Sie hatten ihr sogar eine Muschelkette gebastelt, die an dem Kreuz hing. Idas Blick fiel darauf, und plötzlich begann sie laut darüber nachzudenken, ob es richtig war, was sie mit dem Mädchen machten.
»Beschmutzen wir nicht ihr Andenken mit dem, was wir tun?«, fragte sie. »Wir lassen sie jemand sein, der sie gar nicht gewesen ist. Aber sie war jemand und hatte ein Leben. Einen richtigen Namen, eine Familie, gewiss keine graublauen Augen. Am Ende war ihr Kleid auch nicht dunkelgrün. Wer gibt uns das Recht, sie so zu behandeln, nur weil sie tot ist?«
Thaisen wandte den Kopf und sah sie verwundert an. Seine Augen waren vom Weinen gerötet, er war leichenblass.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er leise.
»Oder ist es nicht falsch, was wir tun? Vielleicht denkt dort draußen niemand mehr an sie, und wir sind die Einzigen, die sie am Leben halten. Was ist, wenn die Welt sie längst vergessen hat und ihre Eltern, all ihre Lieben tot sind? Dann ist es doch gut, dass wir an sie denken, sie zum Leben erwecken, ihr Muschelketten basteln und für sie da sind, oder?«
»Vielleicht.« Thaisen zuckte mit den Schultern und fügte nach einem Moment des Schweigens hinzu: »Sie wird Henni heißen.«
Ida wusste sofort, von wem er sprach.
»Das ist ein hübscher Name«, antwortete sie leise.
»Sie wird nie wissen, wie sie duftet«, sagte Thaisen.
»Ich weiß«, erwiderte Ida.
»Aber es ist doch wichtig, dass sie das weiß, oder? Ein Kind muss doch wissen, wie seine Mama duftet, wie ihre Stimme klingt, wenn sie vorsingt. Sie wird Henni niemals vorsingen.« Seine Stimme brach, und Ida hörte ihn schluchzen. Sie legte den Arm um ihn und zog ihn eng an sich. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an ihr fest. Tröstend strich sie ihm über den Rücken, sagte jedoch nichts. Sie wusste, was er meinte, wusste, wie ihre Mutter duftete. Nach dem Veilchenwasser, das sie so sehr liebte.
»Aber du kannst ihr erzählen, wie sie geduftet hat«, sagte Ida nach einer Weile. »Du weißt es. Und du kannst ihr die Lieder vorsingen, die deine Mutter dir vorgesungen hat. Du kannst ihr sagen, was du an ihr liebtest.« Ihr Blick fiel auf das Grab des unbekannten Mädchens, und sie fügte hinzu: »Und vielleicht tut dort draußen in der Welt irgendjemand das auch mit ihr. Vielleicht erzählt jemand einem kleinen Mädchen gerade, wer seine Schwester gewesen ist und wie sie geduftet hat.«
»Es wird aber nicht dasselbe sein«, antwortete Thaisen.
»Ich weiß«, erwiderte Ida. »Aber es wird etwas sein.«
In diesem Moment riss die Wolkendecke auf, und die Sonne kam hervor.
»Sie hätte gewollt, dass ich mich um sie kümmere«, sagte Thaisen leise. »Erst neulich hat sie zu mir gesagt, dass ich ein wunderbarer großer Bruder sein werde. Einer, zu dem seine kleine Schwester aufsehen wird.«
»Der beste große Bruder, den ein Mädchen haben kann. Zeigst du mir die Kleine bald?«, fragte Ida.
Er nickte. »Sie sah zerknautscht aus und hatte die Augen zu. Zuerst war ich wütend auf sie. Als ich in das Zimmer kam und Mama in dem Bett liegen sah, still und blass, ohne Leben, die Hände gefaltet, da bin ich auf Henni richtig wütend geworden. Würde es sie nicht geben, wäre Mama jetzt nicht tot. Henni hat sie umgebracht, hab ich gedacht und sie kaum angesehen. Am liebsten hätte ich die Wiege umgestoßen, aber dann tat ich es doch nicht, sondern bin fortgelaufen.«
»Wie lange bist du schon hier?«, erkundigte sich Ida.
»Eine Weile. Es dämmerte, als ich kam.«
»Wollen wir gehen?«, fragte Ida.
»Wohin?«
»Zu mir?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Thaisen. »Alle werden mich mitleidig ansehen und bedauern. Aber ich will nicht bedauert werden. Ich will …« Er brach ab und setzte erneut an. »Ach, ich weiß nicht, was ich will.«
»Wollen wir in unsere Kate gehen?«, schlug Ida vor. »Dort stellt keiner Fragen, und es sieht dich niemand komisch an.«
»Du wirst mich nicht bedauern, oder?«
»Nein, das werde ich nicht«, versprach Ida.
»Gut, dann lass uns gehen.«
Thaisen stand auf und half Ida auf die Beine. Schweigend verließen sie das Totenfeld und liefen über den Strand zurück Richtung Norddorf. Kurz bevor sie die kleine Kate erreichten, begann es zu regnen. Rasch öffnete Thaisen die Tür, und sie flohen vor dem kühlen Wetter ins Innere. Dort kuschelten sie sich auf einer in der Ecke liegenden Strohmatratze eng aneinander, und Thaisen breitete eine muffig riechende Wolldecke über ihnen aus.
»Denkst du, sie hat noch unerledigte Sachen?«, fragte er. Ida, die eingedöst war, öffnete die Augen.
»Du meinst, sie könnte als Wiedergänger zurückkehren? So wie Hark Olufs?«
»Vielleicht. Dann könnte ich noch einmal mit ihr reden und ihr sagen, dass sie sich um Henni und auch um die anderen keine Sorgen machen muss. Ich könnte ihr noch einmal sagen, wie lieb ich sie hab.«
»Ich glaube, das kannst du ihr auch so sagen«, antwortete Ida, der der Gedanke nicht gefiel, dass Thaisens Mutter als Gespenst wieder auftauchen könnte. »Sie hört dich bestimmt.«
»Meinst du?«
»Ich bin mir sicher.«
»Also gut.«
Thaisen verstummte, und nach einer Weile wurde seine Atmung gleichmäßig. Ida hingegen setzte sich unruhig auf. Sie lauschte auf den Wind, der an den Fensterläden rüttelte, und auf das Rauschen der nicht weit entfernten Wellen. Würde sie ihre Schritte hören, wenn sie kam? Kamen Wiedergänger nur nachts oder auch tagsüber? Woran erkannte man sie überhaupt? Gab es in Sybilles Leben unerledigte Sachen? Was galt in der Welt der Wiedergänger überhaupt als unerledigt? Bei Olufs war es das Versteck eines Schatzes gewesen. Er wollte seine Familie versorgt wissen. Wiedergänger waren also gar nicht böse. Auch Kaline hatte das gesagt. Sie waren Geister, die einfach noch etwas mitteilen wollten. Trotzdem konnte sie gern darauf verzichten und hoffte, dass Sybille nicht wiederkehren würde. Und wenn, dann nicht hier und jetzt, sondern anderswo. Vielleicht erschien sie ja ihrem Gatten, um ihm zu sagen, dass er zu streiten aufhören sollte, denn Streit hatte sie nie gemocht. Das wäre ein guter Grund für eine Wiederkehr. Oder sie kam wieder, um noch einmal einen Blick auf ihr kleines Mädchen zu werfen, bevor sie endgültig ging. Irgendwann legte sich Ida wieder neben Thaisen und schlief ein, trotz der vielen Gedanken, die ihr durch den Kopf wirbelten, und träumte davon, dass sie mit dem toten Mädchen im hellen Sonnenlicht über ein Lavendelfeld tanzen würde.