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E
bba stand mit Marta am Gartenzaun, als Gerhard Reineke des Weges kam. Der alte Kapitän war Witwer und lebte allein in seinem unweit der Bäckerei gelegenen Häuschen. Seine Frau Annemarie war im letzten Jahr verstorben und sein einziger Sohn nach Amerika ausgewandert.
»Gud Dai, Gerhard«, begrüßte Ebba den alten Mann und lächelte. »Lang nicht gesehen. Aber das schöne Wetter treibt uns ja alle aus den Häusern, nicht wahr? Wohin führt dich denn dein Weg?«
»Moin, Ebba«, grüßte Gerhard zurück und blieb stehen. »Ja, du hast recht. Ist wirklich schön heute. Endlich hat sich das kühle Regenwetter verzogen. Jetzt kann ich wieder in der Sonne vor dem Haus sitzen. Das mögen meine alten Knochen. Das Rheuma ist es, das mich plagt. Ach, man wird ja nicht jünger.« Er winkte ab. »Ins Hospiz will ich. Dort bieten sie neuerdings einen günstigen Mittagstisch an. Nur leider ist es ein Stück zu laufen. Aber den Weg nehme ich gern in Kauf, denn es ist gute Hausmannskost, und ich hab es nicht so mit dem Kochen.«
»Das glaub ich gern«, erwiderte Ebba und sah zu Marta, die bei dem Wort Mittagstisch aufhorchte.
»Ein Mittagstisch also. Darf ich fragen, was eine Mahlzeit kostet?«
»Sechzig Pfennig«, antwortete Reineke. »Heute gibt es Huhn mit Reis. Und unter den Diakonissinnen ist so ein junges, blondes Ding. Eine Augenweide, sag ich euch.« Er zwinkerte den beiden Frauen verschwörerisch zu, verabschiedete sich und lief weiter. Ebba sah ihm kopfschüttelnd nach.
»Immer noch der alte Weiberheld. Früher soll ja kein Mädchen in den Häfen dieser Welt vor ihm sicher gewesen sein. Weiß der Kuckuck, wie viele Nachkommen er hat, von denen er keine Ahnung hat.«
»Ein Mittagstisch also.« Marta ging nicht auf Ebbas Ausführungen zu der Vergangenheit von Gerhard Reineke ein. »Sechzig Pfennig pro Mahlzeit. Davon zehn am Tag verkauft, und wir hätten ein hübsches Sümmchen verdient.«
»Du denkst doch nicht etwa daran, dem Hospiz Konkurrenz zu machen?«, entgegnete Ebba. »Damit würden wir nur noch mehr Ärger bekommen. Dem Pfarrer gefällt es schon nicht, dass wir uns mit zwei Dorfbewohnern einig geworden sind, wegen der Anmietung weiterer Gästezimmer. Und an seine Einstellung zum Thema Hotelausbau will ich gar nicht erst erinnern.«
»Was Bertramsen gefällt oder nicht, ist mir ehrlich gesagt gleichgültig«, erwiderte Marta schulterzuckend. »Konkurrenz belebt das Geschäft. Er kann doch nicht erwarten, auf den Ort Norddorf ein Monopol zu haben. Die Unterbringung bei den Dorfbewohnern ist eine gute Idee, denn dann können wir mehr Gäste aufnehmen.«
»Und du weißt, dass Bertramsen als Erster auf die Idee gekommen ist, Gäste bei den Dorfbewohnern unterzubringen.«
»Er war eben vor uns da.« Marta zuckte erneut mit den Schultern und zupfte ein welkes Blatt von einem der Rosenstöcke ab. »Und im Moment«, fuhr sie fort, »wird uns Bertramsen sowieso nicht auf die Füße treten. Seit der Beerdigung von Sybille hat er sich zurückgezogen.«
»Weshalb Bodelschwingh anwesend ist, um die Geschäfte so lange zu leiten, bis sich Bertramsen erholt hat. Und der ist eine noch härtere Nuss.«
»Die wir auch noch knacken werden«, erwiderte Marta. »Ohne den Ausbau können wir bald wieder dichtmachen. Du weißt, wie schnell das gehen kann. Auch in Wittdün sind die ersten Gästehäuser und Hotels bereits wieder verkauft worden. Und wir liegen abseits der vielen Vergnügungen, weshalb wir uns was einfallen lassen müssen. Und ein Saal mit einer Theke und einer Musikkapelle stellt nun wirklich nicht das Ende aller guten Sitten dar. Wir sind doch hier nicht in St. Pauli.«
»Mir musst du das nicht erklären«, erwiderte Ebba und deutete nach rechts. »Wenn man vom Teufel spricht.«
Pastor Bodelschwingh kam des Weges geschlendert, blieb vor ihnen stehen, grüßte freundlich und erkundigte sich, ob der Herr des Hauses anwesend sei.
Marta begrüßte den Pfarrer mit einem Lächeln, beantwortete seine Frage mit einem Ja und geleitete ihn zu Wilhelm, der in der Gesellschaft von Philipp Schau mal wieder über seinen Umbauplänen brütete. Als Marta mit dem Pfarrer im Schlepptau den Raum betrat, verstummte Wilhelm, und Philipps Miene verfinsterte sich.
»Guten Tag, die Herren«, grüßte Bodelschwingh in die Runde und sah Marta abwartend an. Es war offensichtlich, dass er darauf wartete, dass sie den Raum verließ.
»Meine Gattin darf hören, was gesprochen wird«, sagte Wilhelm und trat neben Marta. »Wir leiten dieses Haus gemeinsam.« Demonstrativ legte er den Arm um seine Frau.
»Nun gut«, erwiderte Bodelschwingh. »Ich wollte noch einmal auf unseren Disput während der gestrigen Gemeindesitzung zurückkommen. Ich denke, die Gemüter sind doch etwas hitzig geworden, und manchmal ist es besser, Dinge unter vier Augen« – sein Blick wanderte zu Philipp – »zu besprechen.« Dieser blieb jedoch ungerührt stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich wüsste nicht, was es da noch zu besprechen gibt«, erwiderte Wilhelm, der gestern auf Andresens Bitte hin zum ersten Mal an einer Sitzung teilgenommen hatte. Als Hotelier und Besitzer eines beträchtlichen Stücks Land in Norddorf hätte Wilhelm das Recht dazu, in die weiteren Planungen für den Ausbau des Kurbetriebes mit einbezogen zu werden. Die Gemeindesitzung war zu Beginn friedlich verlaufen. Es wurde über die Auswanderung einiger Inselbewohner gesprochen, eine Schweigeminute für Sybille Bertramsen eingelegt, deren Beerdigung einen Tag zuvor stattgefunden hatte. Außerdem war ein Schiff mit Düngersalz auf der zehn Kilometer entfernten Düne Seesand gestrandet. Die Besatzung hatte sich im eigenen Boot retten können. Leider war ein Mann ertrunken, der am Tag darauf am Strand angetrieben wurde. Deshalb wurde der Strandvogt beauftragt, die Einholung des Wrackholzes zu beaufsichtigen, nicht, dass es zu Diebstählen käme. Der baldige Besuch der Prinzessin Irene von Preußen wurde diskutiert. Es sollte eine große Begrüßung am Wittdüner Hafen mit den Damen des Trachtenvereins und einer Kapelle geben. Pastor Bodelschwingh war derjenige, der zum Ende der Sitzung das Gespräch auf die guten Sitten der Insel lenkte und noch einmal darauf hinwies, dass im beschaulichen Norddorf diese unter keinen Umständen durch weltliche Vergnügungen verloren gehen dürften. Daraufhin war Philipp der Kragen geplatzt, denn er konnte das Thema nicht mehr hören. Am Ende war er sogar laut geworden und hatte die Sitzung wutentbrannt verlassen. Wilhelm, auf den danach sämtliche Blicke gerichtet gewesen waren, war ihm wortlos gefolgt, was er bereits auf der Straße wieder bereute. Er hätte dem Pfarrer sachlich widersprechen müssen und sich nicht wie ein kleines Kind verhalten sollen. Im Nachhinein war ihm von Quedens berichtet worden, dass die Sitzung kurz danach beendet und das Thema nicht mehr weiter ausgeführt worden war. Die Sache mit Norddorf gestaltete sich immer schwieriger, denn auch andere Gewerbetreibende hatten sich dort im Hinblick auf gute Geschäfte bereits niedergelassen. Allerdings befürchtete ein Teil der Amrumer tatsächlich den Verfall der guten Sitten durch die immer größer werdende Anzahl von Erholungssuchenden. Die Mehrzahl der Insulaner vertrat jedoch die Meinung, dass der Fortschritt nicht aufzuhalten wäre und sie gegenüber Föhr oder Sylt nicht das Nachsehen haben wollten. Auch schaffte der aufstrebende Tourismus Arbeitsplätze, was dafür sorgte, dass viele Bewohner den Gedanken an eine Auswanderung nach Amerika verwarfen; sogar einige Rückkehrer hatte es mittlerweile gegeben.
»Sie können gern Ihr Haus weiter ausbauen. Dagegen habe ich nichts«, sagte Bodelschwingh. »Konkurrenz belebt ja bekanntlich das Geschäft, und gewiss werden bald weitere Gästehäuser auch hier in Norddorf folgen. Allerdings bitte ich Sie nochmals darum, den Anbau eines Saals mit einer Theke oder gar die Überlegung, Tanzvergnügen anzubieten, noch einmal zu überdenken. Norddorf sollte doch eher ein Ort der Ruhe und Beschaulichkeit bleiben. Wenn die Menschen weltliche Zerstreuungen suchen, finden sie davon in Wittdün wahrlich genug.«
»Sie wissen ganz genau, dass das nicht funktionieren wird«, entgegnete Wilhelm. »Ich kann meinen Gästen nicht zumuten, zu abendlichen Konzerten oder zum Tanz über die Insel zu fahren. Und es geht ja nicht darum, dass wir hier St. Pauli aufmachen, sondern wir wollen lediglich ein wenig Unterhaltung bieten. Und soweit mir zu Ohren gekommen ist, ist auch das Seehospiz sehr darum bemüht, seinen Gäste Zerstreuung weltlicher Art zu bieten. Von Dünenkaffee habe ich gehört, und auf dem im Speisesaal stehenden Harmonium sollen auch mal Gassenhauer gespielt werden. Also hören Sie mit Ihrem frömmelnden Getue auf. Sie wollen durch Ihre Intervention im Gemeinderat doch nur erreichen, dass ich pleitegehe, damit Norddorf Ihnen allein gehört«
Die Miene von Bodelschwingh verfinsterte sich.
»Der ein oder andere Gassenhauer auf dem Harmonium ist mit ausschweifenden Tanzabenden und einer Theke zum Trinken wohl nicht zu vergleichen«, entgegnete er. »Ich hätte es wissen müssen. Mit jemandem, der aus einer solch lasterhaften Stadt wie Hamburg kommt, lässt sich über gute Sitten nicht reden. Aber das letzte Worte ist in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen.« Er hob drohend den Zeigefinger und verließ ohne Gruß den Raum.
Marta sah von Philipp zu Wilhelm, der neben seinem Schreibtisch auf einen Stuhl sank.
Für einen Moment herrschte Stille, dann sagte sie: »Ebba und ich überlegen, einen Mittagstisch einzuführen. Fünfzig Pfennig ein Essen. Was meinst ihr?«
Philipp sah sie verdutzt an, dann begann er zu grinsen.
»Das ist eine großartige Idee, meine Liebe«, antwortete Wilhelm.
Marta trat neben Wilhelm, legte ihm die Hand auf die Schulter und erklärte: »Nele würde sagen: Jetzt erst recht.«
Wilhelm nickte und antwortete: »Ja, das würde sie. Und sie hat tatsächlich recht. Von so einem dahergelaufenen Pastor, der einen auf Wohltäter macht, werden wir uns nicht unterkriegen lassen.«