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Norddorf, 2. August 1892
Mein Wilhelm,
heute finde ich wieder die Zeit, um Dir einen längeren Brief zu schreiben. In den letzten Tagen ging es doch recht turbulent zu, denn es galt, Hilde und die Familie Voss zu verabschieden und alles für die Anreise der neuen Gäste zu richten. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie erleichtert wir alle darüber sind, dass es für Hilde doch noch ein gutes Ende genommen hat. Trotz all dem Unglück, das sie erdulden musste, hat sie nun ihr Glück gefunden. Das Leben geht manchmal sonderbare Wege. Auch Else Voss hat sich daran gewöhnt, dass Hilde ihre Schwiegertochter wird. Sie hat sich in den letzten Tagen ihres Aufenthalts sogar mit ihr angefreundet. Wir konnten Hilde also guten Gewissens ziehen lassen. Rieke hat ihr eines ihrer Kleider geschenkt und ihr ein paar städtische Manieren beigebracht, damit sie in Breslau einen guten Eindruck macht.
Die neuen Gäste, ein Ehepaar aus Brunsbüttel, sind vorgestern eingetroffen. Sie werden jedoch nur für eine Woche bleiben. Leider hat sich auch diese Familie unser Haus anders vorgestellt, und es kam bei der Ankunft zu Missstimmungen, die wir durch unsere Gastfreundschaft jedoch schnell beheben konnten.
Das Wetter ist weiterhin sehr sommerlich, was für gute Stimmung unter den Gästen sorgt. In den letzten Tagen hatte sogar der Wind etwas aufgefrischt, und es konnte wieder in kräftigem Wellenschlag gebadet werden.
Zusätzlich gibt es zu berichten, dass wir eine Menge Holz bei einer Auktion von Wattholz ersteigerten. Es stammt von der Thomas Small, einem Schiff, das in dieser unseligen Gewitternacht auf Kniep gelaufen ist. Jasper hat sich ordentlich ins Zeug gelegt, und jetzt stapelt sich das Holz in unserem Schuppen. Wir hatten doch überlegt, eine Strandhalle auf unserem Strandabschnitt zu errichten. Dafür können wir das Holz gebrauchen, denn es ist gute und günstige Ware.
Langsam beginnen wir, Riekes Hochzeit entgegenzufiebern, und Ebba hat bereits angefangen, die Speisen zu planen. Auch habe ich eine dreistöckige Hochzeitstorte bei Herbert in Auftrag gegeben. Jacob und Rieke zeigten mir das kleine Friesenhaus in Süddorf, in dem sie nach der Hochzeit wohnen werden. Es ist wirklich ganz entzückend. Wie Du weißt, hat Jacob bisher im Logierhaus ein Zimmer unter dem Dach bewohnt. Dies wird jetzt ja nicht mehr möglich sein. Das kleine Haus ist vollständig eingerichtet, und die ganze Stube ist mit den bezaubernden Kacheln gefliest, die ich so sehr liebe. Nur die Küche scheint mir mit der offenen Feuerstelle etwas altmodisch zu sein. Jacob hat Rieke versprochen, sie so schnell wie möglich renovieren zu lassen. Auch der Garten muss auf Vordermann gebracht werden, denn er ist etwas verwildert. Trotzdem gefällt er mir ausgesprochen gut. Es gibt einige Birnbäume, und er ist von einem Steinmäuerchen umgeben, auf dem Strandrosen blühen.
Auch Ida geht es gut. Sie und Thaisen kleben immer noch wie Pech und Schwefel aneinander und verschwinden oft viele Stunden des Tages irgendwohin. Im Moment gibt Bertramsen Ruhe, und auch aus dem Gemeinderat kommen keine beunruhigenden Nachrichten. Es scheint, als würde die gesamte Insel in einer sommerlichen Blase der Glückseligkeit liegen, von der ich hoffe, dass sie noch nicht so bald platzen wird, denn ich allein fühle mich nicht in der Lage dazu, seinen Anfeindungen gegenüberzutreten. Da bin ich froh, dass ich Jasper und Philipp an meiner Seite weiß. Allerdings wäre es natürlich besser, Dich hier zu haben.
Diesen Worten entnimmst Du vielleicht, wie sehr ich Dich vermisse. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Ich zähle die Tage, bis ich Dich wieder in meine Arme schließen kann, spüre trotz der Vorfreude auf diesen Moment jedoch auch die Trauer in mir, dass Du mich dann bald darauf erneut verlassen wirst. Ich weiß, dass die Arbeit in Hamburg nur vorübergehend und notwendig ist, aber mein Herz will nicht vernünftig sein. Ich sende Dir also auch heute wieder Küsse, ebenso von Marie, die schon wieder ein ganzes Stück gewachsen ist, und hoffe, dass es Dir in Hamburg gut ergeht. Grüß mir wie immer Nele, Fanny und all die anderen.
In Liebe
Deine Marta
Hamburg, 16. August 1892
W
ilhelm faltete Martas Brief zusammen und ließ seinen Blick über den bunten Trubel St. Paulis schweifen, der ihn umgab. An den Karussells dudelten die Leierkästen, das Gebrüll der wilden Tiere drang aus der unweit seines schattigen Sitzplatzes gelegenen Menagerie herüber. An deren Eingang saßen Papageien und Kakadus, und sogar ein Pavian turnte über das Geländer. Die laute Stimme des Ausrufers war weithin zu hören.
»Immer herein, immer herein! Die Vorstellung beginnt gleich.«
Wilhelm steckte den Brief von Marta in seine Jackentasche, erhob sich und lief an dem Mann vorüber, nur um unweit der Menagerie an einem Kasperltheater stehen zu bleiben, wo gerade unter dem Gelächter der Zuschauer der Hanswurst den Zollbeamten verprügelte. Ein Stück weiter erreichte Wilhelm die Tische der Karrenhändler, wo es alles zu kaufen gab, was das Herz begehrte: Backwaren, Früchte, geräucherte Fische, Naschwerk und Brezeln. Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen, entschied sich, ein Brezel zu kaufen, und schlenderte weiter durch die Reihen. Was gab es hier nicht alles an Tändelkram zu erwerben. Putz und Schmuck lagen auf den Klapptischen und schimmerten im nachmittäglichen Sonnenlicht. Rieke hätte ihre wahre Freude an dem vielfältigen Angebot gehabt. Wilhelm blieb mal hier, mal dort stehen, um die Waren genauer in Augenschein zu nehmen, denn er war auf der Suche nach Geschenken für seine Mädchen, und wo, wenn nicht hier, ließen sich ausgefallene Stücke finden? Bereits in wenigen Tagen würde er seine Lieben wieder in die Arme schließen können, worauf er sich riesig freute. Nele gab sich wahrlich Mühe, ihn mit aller Herzlichkeit zu bewirten, und leistete ihm bei der einen oder anderen Mahlzeit sogar Gesellschaft. Aber dadurch ließ sich seine Familie nicht ersetzen. Besonders Marta fehlte ihm, aber auch seine Mädchen, allen voran Marie, sein Nesthäkchen. Für sie war er auf der Suche nach einer Puppe, für Ida könnte es ein hübsches Hütchen oder eine Halskette mit einem funkelnden Anhänger sein. Und Marta mochte Broschen, eine mit Perlen wäre schön. Solch ein Stück müsste hier günstig aufzutreiben sein. Und dann war da ja noch seine Rieke, die Braut, für die er etwas ganz Besonderes finden wollte.
»Ja, wen haben wir denn da? Wilhelm Stockmann. Ich traue meinen Augen kaum.«
Wilhelm, der sich gerade einen Strohhut an einem der Stände näher ansah, blickte auf. Da stand doch tatsächlich der Karrenhändler Friedrich mit seinem Sohn Johannes vor ihm und grinste breit. Friedrich fragte: »Wo haben Sie denn Ihre bezaubernden Frauen gelassen?«
»Der Karrenhändler Friedrich. Da schau mal einer an«, entgegnete Wilhelm, reichte dem Händler die Hand zur Begrüßung und beantwortete seine Frage: »Auf Amrum, wo wir jetzt zu Hause sind.«
»Ist mir zu Ohren gekommen. Hamburg ist ein Dorf. Soll ja recht ordentlich ausgebaut werden, das Inselchen. Neulich hat sogar in der Zeitung gestanden, dass Prinzessin Irene dort zur Kur weilt. So eine richtige Hoheit zieht die Kundschaft an. Dort lassen sich gewiss gute Geschäfte machen. Was meinst du, Johannes?«, wandte er sich an seinen Sohn. »Wollen wir auch auf die Insel ziehen?«
»Das lassen Sie mal lieber«, antwortete Wilhelm lachend. »Gute Geschäfte gibt es dort für Händler nur während der Saison, und die endet bald. Da ist es hier in Hamburg schon besser.«
»Da ist was Wahres dran. In unserem Städtchen herrscht ja immer Saison, Tag und Nacht sozusagen.« Friedrich grinste breit und fragte: »Aber Sie sind sicher nicht zwischen unseren Klapptischen unterwegs, um ein Schwätzchen mit mir altem Karrenhändler zu halten, oder? Was darf es denn für die Damen sein?«
»Sie haben mich durchschaut«, erwiderte Wilhelm lächelnd und ließ seinen Blick über die vielfältige Auslage des Händlers schweifen. Schnell wurde man sich handelseinig. Wilhelm erstand eine Perlenbrosche für Marta. Ein hübsches Armband für Ida und eine Halskette für Rieke mit einem Kreuzanhänger, der mit roten Steinen verziert war, die silbern eingefasst waren. Friedrich zauberte für Marie aus einer Kiste sogar eine hübsche Puppe, die ein reizendes rosafarbenes Kleid trug. Gewiss würde sie Marie gefallen.
Zum Verstauen der Einkäufe schenkte der Karrenhändler Wilhelm einen Stoffbeutel. Nachdem Wilhelm, dem das Handeln nicht sonderlich lag, weshalb er den von Friedrich gewünschten Preis anstandslos akzeptierte, bezahlt hatte, wurde er mit warmen Worten verabschiedet. Grüße an die Familie sollte er ausrichten, und natürlich wünschten sowohl Friedrich als auch Johannes Rieke nur das Beste für ihre Ehe und viele Kinder. Als sich Wilhelm endlich losreißen konnte, war er bester Laune und schlenderte pfeifend Richtung Spielbudenplatz, wo er seiner alten Freundin Therese Mende einen Besuch abstatten wollte. Als er dort ankam, vermisste er plötzlich etwas. Er blieb stehen, um zu überlegen, was es war. Da fiel es ihm ein. Der Zigarren-Hannes stand nicht wie üblich an seinem Platz im Windschatten der öffentlichen Bedürfnisanlage, die wegen der Hitze einen scheußlichen Geruch verströmte. Sein Fehlen war seltsam, denn wenn es eine zuverlässige Konstante in dieser Stadt gab, dann war es der Zigarren-Hannes. Wilhelm betrat Thereses Theater, wo ihn der übliche Anblick erwartete. Auf der Bühne probte gerade ein brünettes Mädchen in einem weißen Kleid ein Lied. Auf den runden Tischen standen kleine Vasen mit Sommerblumen. Therese spülte, wie immer um diese Zeit, hinter der Theke die Gläser. Heute jedoch empfing sie Wilhelm nicht mit einem Lächeln, sondern mit ernster Miene.
Wilhelm begrüßte sie und nahm seinen gewohnten Platz an der Bar ein.
»Einen Schnaps?«, fragte Therese.
»Hier stimmt was nicht«, sagte Wilhelm, ohne auf ihr Angebot einzugehen.
»Das tut es auch nicht«, erwiderte sie und schenkte ihnen beiden ein Glas ein. Wilhelm nahm es und leerte es in einem Zug. Therese füllte es erneut auf.
»Der Zigarren-Hannes fehlt.«
»Er ist tot.«
»Wie, er ist tot?«
»An der Cholera gestorben.«
»Cholera?« Wilhelm sah Therese verdutzt an.
»Du lebst aber schon in dieser Stadt, oder?«, fragte sie.
»Natürlich hörte ich davon«, erwiderte Wilhelm. »Aber eben war ich unterwegs, und alles erschien mir wie immer zu sein. Selbst die Karrenhändler wirkten sorglos.«
»Weil sie um ihre Geschäfte bangen. Doch hinter vorgehaltener Hand gibt es auf dem ganzen Spielbudenplatz kein anderes Thema mehr. Jeden Tag werden neue Erkrankte gezählt. Es greift rasend schnell um sich. Der Senat will uns weismachen, dass es die üblichen Problemfälle mit Salmonellen sind, aber viele sind beunruhigt. Willi von nebenan hat ein Küchenmädchen an die Krankheit verloren. Sie wohnte im Gängeviertel. Durch das warme Wetter stinkt die Stadt zum Himmel. Wenn du mich fragst, ist da was im Busch.«
»Und wenn der Senat doch recht hat?«, fragte Wilhelm. »Wegen des ungewöhnlich warmen Wetters können es durchaus mehr Todesfälle durch Salmonellen sein. Wir sollten nicht gleich an das Schlimmste denken.«
»Ich sage dir: Morgen steht es in allen Zeitungen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie es vor zwanzig Jahren war. Da hat anfangs auch jeder geglaubt, es seien die Salmonellen und alles sei harmlos, und dann sind über hundert Menschen innerhalb weniger Tage gestorben. Damals haben sie den Hafen dichtgemacht. Wolltest du nicht wegen Riekes Hochzeit nach Amrum fahren? Ich rate dir, so schnell wie möglich das nächste Schiff zu nehmen und aus der Stadt zu verschwinden.«
Sie goss ihm und sich einen weiteren Schnaps ein.
»Alkohol desinfiziert, habe ich mir sagen lassen.« Zum ersten Mal, seitdem Wilhelm das Theater betreten hatte, schenkte sie ihm ein Lächeln, das jedoch eher gequält wirkte.
Wilhelm leerte sein Glas in einem Zug und sagte: »Jetzt male bloß nicht den Teufel an die Wand. Ich war gerade am Hafen, und dort herrscht der übliche Betrieb. Wenn wir tatsächlich eine Choleraepidemie hätten, müsste diese doch längst auf den Straßen und Plätzen zu bemerken sein. So schlimm kommt es nicht. Lass dich nicht bange machen.«
»Wenn du meinst«, entgegnete Therese wenig überzeugt und deutete auf den Stoffbeutel, den Wilhelm neben sich auf einen Barhocker gelegt hatte.
»Willst du mir zeigen, was du gekauft hast? Dann kann ich dir sagen, ob dich der Karrenhändler übers Ohr gehauen hat.«
Bereitwillig griff Wilhelm zu dem Beutel und holte die Sachen hervor, während das Mädchen auf der Bühne seine Probe beendete und in einem Hinterzimmer verschwand. Therese befand sämtliche Stücke für gut. Besonders die Brosche für Marta gefiel ihr. So eine könnte ihr auch mal jemand schenken, sagte sie wehmütig. Doch der Anflug von Traurigkeit verschwand so schnell, wie er gekommen war, und es folgten die üblichen Worte, die bedeuteten, dass ihr Plausch für heute beendet war.
»Schluss mit Müßiggang. Ich muss wieder was tun. Mal sehen, wie viel Publikum sich heute Abend in den Laden traut. Bei dem schönen Wetter sitzen sie lieber in den Biergärten und lauschen den Sommerkonzerten.« Sie zog eine Grimasse und fügte hinzu: »Sollen sie mal machen, solange sie noch können.«
Wilhelm ging auf ihre abschließende Bemerkung nicht ein. Er räumte die Geschenke für seine Familie zurück in den Beutel und verabschiedete sich von Therese mit dem üblichen Küsschen auf die Wange.
Als er das Theater verließ, blickte er noch einmal zu der Stelle, an der der Zigarren-Hannes gestanden hatte. In Gedanken wiederholte er den Satz, den Hannes immer gerufen hatte: »Twee Stück fofftein.« Niemals wieder würde er seine Kiste umdrehen und die Kunden über den Tisch ziehen. Ja, er war ein Betrüger gewesen, aber ein liebenswerter, dem in den letzten Monaten seines Lebens ein Theater sogar eine Posse mit seinem Namen gewidmet hatte. St. Pauli hatte eines seiner Originale verloren.
Wilhelm schlenderte über den Millernthordamm zurück in die Neustadt, wo im alten Steinweg die Räumlichkeiten seines Arbeitgebers, Friedhelm Gotthard, untergebracht waren. Als er sein Büro betrat, kam aufgeregt seine Sekretärin Henriette Martens in den Raum gelaufen. Die Dame war einige Jahre älter als er, trug stets weiße Blusen und schwarze Röcke, und ihr Markenzeichen, die silberfarbene Nickelbrille, verrutschte ihr ständig auf der winzigen Nase, die nicht so recht in ihr rundliches Gesicht passen wollte.
»Moin, Herr Direktor. Gut, dass Sie wieder da sind«, begrüßte sie ihn hektisch. »Herr Gotthard möchte Sie sofort in seinem Büro sprechen. Ich kann Ihnen sagen. Wenn das eintreffen sollte, dann wäre es eine mittlere Katastrophe.« Henriette Martens’ Stimme wurde eine Nuance höher, was bedeutete, dass Gefahr in Verzug war, wie Wilhelm während der letzten Wochen begriffen hatte.
»Nun beruhigen Sie sich mal, Fräulein Martens«, erwiderte er. »So schlimm kann es doch nicht sein.«
»Ja haben Sie denn noch nichts davon gehört? Der Stadtrat ist zu einer Sondersitzung zusammengekommen, weil sich die Cholerafälle in der Stadt seit zwei Tagen extrem häufen. Es soll darüber beraten werden, ob der Hafen komplett abgeriegelt wird.«
Wilhelm brauchte einen Augenblick, um diese Neuigkeit zu verarbeiten, bevor er antwortete: »Natürlich, ich meine …« Er geriet ins Stocken und setzte erneut an: »Selbstverständlich habe ich von dem Verdacht auf Cholera gehört. Aber es kann doch bei Weitem nicht so schlimm sein, dass gleich der Hafen abgeriegelt wird. Gewiss sind es nur vermehrt auftretende Fälle von Salmonellen. Das wäre bei dieser Hitze auch nicht unnormal. Ich war eben in St. Pauli, um einige Besorgungen zu erledigen und einen alten Freund zu besuchen. Ich versichere Ihnen, meine Teuerste, dort geht alles seinen gewohnten Gang.«
»Aber der Herr Gotthard hat gesagt …«
»Ich gehe und rede mit ihm«, unterbrach Wilhelm sie und hob beschwichtigend die Hände. »Am besten bleiben wir ruhig. Gewiss wird sich alles in wenigen Tagen in Wohlgefallen aufgelöst haben.«
»Na, Ihr Wort in Gottes Ohr«, antwortete die Sekretärin. »Ich werde jedenfalls gleich nachher meiner Tante in Kiel telegrafieren und fragen, ob sie uns für eine Weile aufnehmen kann. Sollte es wirklich schlimm kommen und der Hafen abgeriegelt werden, können wir hier sowieso nichts mehr tun.« Sie reckte ihr Kinn vor und verließ, ohne ein weiteres Wort hinzuzufügen, den Raum.
Wilhelm sah ihr verblüfft nach. Selten war Frau Martens so couragiert aufgetreten oder hatte gar Widerworte gegeben. Lag da doch mehr in der Luft? Sein Blick wanderte zu seinem Schreibtisch, wo in der obersten Schublade bereits sein Billett für die Fahrt mit der Cobra
nach Amrum lag. Was war, wenn der Hafen tatsächlich abgeriegelt werden würde, wie Frau Martens gesagt hatte? Dann müsste er den bedeutend beschwerlicheren Landweg nach Amrum nehmen, sofern dies überhaupt noch möglich war. Er atmete tief durch und schob den Gedanken beiseite. Gewiss würde es nicht so schlimm kommen. Es war einfach nur ungewöhnlich warm in der Stadt, mehr nicht. Die Cholera hatte es in Hamburg doch seit bald zwanzig Jahren nicht mehr gegeben. Sicherlich sahen alle nur Gespenster. Er machte sich auf den Weg in das Büro seines Vorgesetzten. Als er dort eintraf, telefonierte Friedhelm Gotthard.
»Ich verstehe«, sagte er. »Das sind gute Neuigkeiten. Sie wissen gar nicht, wie erleichtert ich bin. Eine Hafensperrung hätte mir schwere Verluste eingebracht. Ihnen auch, selbstverständlich. Wir sitzen ja alle im selben Boot. Wie passend. Vielen Dank, mein Freund.«
Wilhelm, der in der geöffneten Tür stehen geblieben war, spürte die Erleichterung in sich. Er schien also recht gehabt zu haben. Vermutlich war die Cholera nur ein Hirngespinst von einigen wenigen Panikmachern.
Gotthard legte auf, bedeutete Wilhelm, näher zu treten, und erkundigte sich, ob er seine Besorgungen zur Zufriedenheit erledigen konnte.
Wilhelm bestätigte dies und fügte hinzu: »Und wenn ich anmerken darf: In der Stadt scheint alles wie immer. Keine Anzeichen von einer Panik wegen der Cholera.«
»Das ist gut«, antwortete Gotthard und sank auf seinen Stuhl. »Wie Sie ja mitbekommen haben, sieht der Stadtrat vorerst von einer Sperrung des Hafens ab.«
»Vorerst?«, fragte Wilhelm.
»Ja, leider. Ganz sicher ist man sich wohl nicht, wohin wir steuern. Das Ganze entwickelt sich anscheinend seit gestern Abend äußerst rasant. Gerade in den Gängevierteln muss es über Nacht Hunderte neuer Fälle gegeben haben.«
»Hunderte«, wiederholte Wilhelm entsetzt. »Aber, das ist doch …«
»Mehr als nur beängstigend, ich weiß«, beendete Friedhelm Gotthard den Satz. »Bisher wurde der Mantel der Verschwiegenheit darüber ausgebreitet, damit es keine Panik gibt. Der Stadtrat befürchtet, es könnte enorme wirtschaftliche Einbußen geben, und will dies um jeden Preis verhindern.«
»Ich verstehe. Aber wirtschaftliche Einbußen können gegen Menschenleben doch nicht aufgewogen werden«, entgegnete Wilhelm.
»So ist es. Aber wir wissen beide, wie es läuft. Wir können nur hoffen, dass sich das Schlimmste auf die Gängeviertel beschränkt und die Krankheit dort rasch wieder eingedämmt werden kann. Wenn der Hafen gesperrt ist, kann ich den Laden praktisch dichtmachen. Wie Sie wissen, warten wir auf Waren aus Übersee, die bereits überfällig sind. Wenn die Schiffe nicht …« Er winkte ab und begann, in seinen Schubladen zu wühlen, beförderte eine Zigarettenschachtel ans Tageslicht, zündete sich eine an und hielt Wilhelm die Schachtel hin.
»Wollten Sie nicht übermorgen mit der Cobra
nach Amrum fahren? Ihre Tochter heiratet, nicht wahr?«
Wilhelm lehnte die Zigarette ab, beantwortete Gotthards Frage mit Ja und fügte hinzu: »Dann wollen wir mal hoffen, dass sich die Krankheit noch eindämmen lässt. Bei der letzten größeren Epidemie waren ja ebenfalls nur die ärmeren Viertel der Stadt betroffen.«
»Ja, hauptsächlich die Baracken der Auswanderer, wo es auch jetzt wieder vereinzelte Fälle zu geben scheint. Nur leider schwirren die Bewohner des Gängeviertels tagsüber durch die ganze Stadt. Es könnte also schwierig werden, den Ausbruch der Cholera auf gewisse Stadtteile zu beschränken.«
»Wenn Sie mich fragen, dann sind diese Viertel mit ihren engen Gassen, schmutzigen und dunklen Hinterhöfen und den feuchten Kellerlöchern sowieso Hamburgs Schandfleck. Über die mangelhaften sanitären Einrichtungen wollen wir gar nicht erst reden. Zuerst vertreibt die Stadt viele Bewohner des Hafenviertels aus ihren Wohnungen für den Bau der Speicherstadt, und dann kümmert sie sich nicht um ordentliche Ersatzunterbringungen. Eine Schande ist das.«
»Und es fehlt noch immer eine anständige Filteranlage für das Trinkwasser«, ereiferte sich Gotthard ebenfalls. »Mein Schwager sitzt in Altona im Stadtrat, und dort wurde bereits vor einigen Jahren eine Sandfilteranlage in Betrieb genommen. Aber die Hamburger haben den Einbau dieser wahrlich nicht günstigen Anlage immer weiter hinausgeschoben. Unser Trinkwasser kommt aus der Elbe, ungefiltert. Und das bei dieser Hitze. Das kann doch nur Übel bringen.«
»Das hat meine Herbergsmutter schon vor Wochen gesagt. Eine Schande ist dieser Zustand«, antwortete Wilhelm. »Deshalb kocht sie das Wasser vor dem Genuss stets ab, auch dasjenige, das in der Küche zum Kochen verwendet wird. Und dem Herrn im Himmel sei Dank, verfügt das Gebäude über eine moderne Wassertoilette.«
»Dann können Sie sich glücklich schätzen, mein Lieber«, antwortete Gotthard und blies eine Rauchwolke in die Luft. »Wissen Sie, was?«, sagte er spontan. »Sie sollten bereits morgen früh nach Amrum aufbrechen. Ich gebe Ihnen einen Tag früher frei. Oder noch besser: Ich schicke sämtliche Mitarbeiter gleich jetzt nach Hause und kümmere mich um eine Unterbringung meiner Familie außerhalb Hamburgs. Meine Gattin kann noch heute nach Hannover zu ihrer Schwester telegrafieren. Dort kann sie mit Sicherheit so lange Zuflucht suchen, bis das Schlimmste vorüber ist.«
Wilhelm sah seinen Vorgesetzten entgeistert an. »Und Sie denken wirklich, dass das notwendig sein wird? Immerhin steht ihr Anwesen draußen auf der Uhlenhorst und ist sicherlich mit dem besten Komfort ausgestattet. Ich glaube nicht …«
»Doch, doch, mein Lieber«, erwiderte Gotthard und griff erneut zum Telefonhörer. »Sehen Sie mal zu, dass Sie für die morgige Überfahrt noch ein Billett gebucht bekommen. Die Cobra
fährt doch täglich auf die Inseln, oder?«
»Ja, natürlich, aber …«
»Kein Aber. Verlassen Sie die Stadt, so schnell es geht.« Gotthard wedelte mit den Armen und teilte im nächsten Atemzug der Dame der Vermittlung mit, mit welcher Nummer er verbunden werden wollte. Für ihn schien das Gespräch beendet zu sein.
Wilhelm verließ das Büro und wäre auf dem Flur beinahe in Henriette Martens hineingelaufen, die versuchte, einen möglichst unbeteiligten Eindruck zu machen, was ihr gründlich misslang.
»Sie haben Gotthard gehört«, sagte Wilhelm zu ihr. »Packen Sie Ihre Sachen zusammen und sehen Sie zu, dass Sie so schnell wie möglich die Stadt verlassen.«
Zurück in seinem Büro, steckte er das Billett für die Cobra
in seine Jackentasche und verließ den Raum. Auf der Straße angekommen, begann er sich zu fragen, was er jetzt tun sollte. Den Rat seines Chefs befolgen und ein neues Billett für die Überfahrt des nächsten Tages besorgen? Marta und die anderen würden sich gewiss darüber freuen, wenn er einen Tag früher käme. Der Gedanke gefiel ihm plötzlich. Für Überraschungen jeglicher Art hatte er schon immer etwas übriggehabt. Und vielleicht ließ sich sein altes Billett ja umtauschen. Er machte sich erneut auf den Weg nach St. Pauli, wo am Hafen die Fahrkarten für die Cobra
erworben werden konnten. Als er dort eintraf, musste er sich in eine ungewöhnlich lange Schlange einreihen, die sich vor dem Verkaufsschalter gebildet hatte.
»Heute wollen aber viele Menschen auf die Inseln reisen«, sagte er zu seinem Vordermann, einem älteren Herrn mit Spazierstock, der ihn freundlich angelächelt hatte.
»Nur leider werden wir wohl alle leer ausgehen«, antwortete dieser. »Hören Sie die lauten Worte? Sie verkaufen für die morgige Fahrt keine Billetts mehr. Es geht das Gerücht um, dass der Hafen in wenigen Stunden endgültig abgeriegelt wird. Deshalb herrscht hier auch so eine Geschäftigkeit.« Er deutete auf die vor ihnen liegenden Handelsschiffe. Auch ein Auswandererschiff lag am Anleger. Erst jetzt fiel Wilhelm auf, dass tatsächlich mehr Trubel als sonst zu herrschen schien. Unmengen von Hafenarbeitern verluden hektisch die Ware, und die unweit von ihnen wartenden Auswanderer wurden von einem Matrosen ruppig an Bord gescheucht. Die Worte hurtig
und nur noch wenige Stunden
drangen zu ihnen herüber.
»Und weshalb stehen wir dann in dieser Schlange?«, fragte Wilhelm resigniert.
»Weil die Hoffnung bekanntlich zuletzt stirbt«, erwiderte der alte Herr mit einem Augenzwinkern. »Ich dachte, ich könnte noch eine Fahrkarte für Sylt ergattern. Aber wie es scheint, werde ich jetzt wohl den beschwerlicheren Landweg in Kauf nehmen müssen. Und wohin sollte Ihre Reise gehen?«, fragte er.
»Nach Amrum zu meiner Familie«, erwiderte Wilhelm. »Eigentlich wollte ich übermorgen abreisen. Ich habe sogar schon ein Billett für das Schiff.« Er klopfte auf seine Jackentasche. »Aber es ist wohl nutzlos. Also werde ich Ihnen vermutlich auf dem Landweg Gesellschaft leisten.«
Er seufzte hörbar und fügte in Gedanken hinzu: Es ist doch wie verhext. Vor wenigen Stunden war er fröhlich durch St. Pauli geschlendert und hatte mit den Karrenhändlern gescherzt. Alles hatte wie immer gewirkt. Oder war es nur der schöne Schein gewesen, der mit aller Macht aufrechterhalten werden sollte? Die Händler und Budenbetreiber würden vermutlich einen Teufel tun, sich die missliche Lage anmerken zu lassen, denn das war schlecht fürs Geschäft. Wie im Großen so im Kleinen, dachte Wilhelm und blickte auf seine Tasche hinab, in der sich die Geschenke für seine Liebsten befanden.
Er verabschiedete sich mit knappen Worten von dem älteren Herrn und machte sich auf den Rückweg zu Neles Pension. Als er dort eintraf, lag diese friedlich im warmen Sonnenlicht des frühen Abends vor ihm. Auch der Betrieb auf der Poststraße schien sich nicht geändert zu haben. Doch im Inneren der Herberge war die Atmosphäre eine andere. Der Empfangstresen war verwaist.
»Nele?«, rief Wilhelm.
»Hier hinten«, kam eine Antwort aus der Küche. Wilhelm lief am Tresen vorüber und betrat den Raum, der für seine Marta jahrelang ein Zufluchtsort gewesen war und selbst ihm in den letzten Wochen das Gefühl von einem Zuhause vermittelt hatte. Nele saß mit Fanny und den beiden Küchenmädchen am Tisch. Ihre Mienen waren sorgenvoll.
»Also ist die Cholera nun auch hier angekommen«, konstatierte Wilhelm und setzte sich neben Fanny an den Tisch. Nele und Fanny nickten. Es herrschte eine beklemmende Stimmung. Erst jetzt bemerkte Wilhelm die rot verweinten Augen von Jule, dem zweiten Küchenmädchen.
»Meine Mutter ist letzte Nacht in eine der Baracken gebracht worden, die sie gestern eingerichtet haben«, berichtete sie stockend, nachdem er sich nach dem Grund für ihre Traurigkeit erkundigt hatte.
Alarmiert zog Wilhelm eine Augenbraue in die Höhe.
»Keine Sorge. Jule wohnt bei uns im Haus und war in den letzten Tagen nicht im Gängeviertel. Heute Vormittag hat ein kleiner Junge diese Nachricht überbracht und ist sofort wieder davongelaufen.«
»Er war so schnell weg«, fügte Fanny hinzu, »ich konnte ihm noch nicht einmal ein Milchbrötchen geben, wie ich es sonst immer bei den kleinen Botenjungen mache.«
»Also haben sie bereits Baracken eingerichtet«, sagte Wilhelm und atmete tief durch. »Vermutlich wird auch bald der Hafen komplett abgeriegelt werden. An den Schaltern der Dampfschiffreedereien haben sich lange Schlangen gebildet. Aber ob morgen überhaupt noch ein Schiff Richtung Inseln auslaufen wird, ist fraglich. Wir werden wohl die Verbindung über Land nehmen müssen, sofern wir Riekes Hochzeit nicht versäumen möchten. Wenn es dir recht ist, kaufe ich morgen gleich für uns beide Fahrscheine für die Bahn«, sagte er zu Nele.
»Sei mir nicht böse, Wilhelm, aber ich werde vorerst nirgendwo hinreisen«, entgegnete Nele. »Einem meiner Mädchen geht es nicht gut, und ich möchte sie nicht allein lassen. Außerdem haben wir Gäste im Haus, Seemänner und andere Handelsreisende, die jetzt vermutlich für längere Zeit hier festsitzen werden. Ich möchte sie nicht durch meine Abreise verunsichern.«
»Und was ist mit Riekes Hochzeit?«, fragte Wilhelm. »Sie wird todunglücklich sein, wenn du nicht anwesend bist.«
»Ach, die Deern kommt auch ohne ihre alte Tante Nele unter die Haube. Und gewiss ist die größte Unruhe in einigen Tagen wieder vorbei, und der Hafen, der offiziell ja noch gar nicht abgeriegelt ist, wie wir wissen, wird wieder freigegeben.«
Wilhelm wollte etwas erwidern, wurde aber durch das Eintreten eines weiteren Botenjungen unterbrochen, der den Weg durch den Hinterhof gewählt hatte, seine Mütze abnahm und ihnen mitteilte, dass Jules Mutter in der Baracke gestorben war.