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Norddorf, 08. September 1892
Heute Nacht habe ich von Nele geträumt. Ich war noch ein kleines Mädchen, und wir standen gemeinsam auf der Nikolaibrücke und beobachteten die vielen Gemüse-Ewer und anderen Boote auf dem Wasser. Sie hat meine Hand gehalten, und wir sind auf den Markt der Vierländer gelaufen, um süße Trauben einzukaufen. Sie erzählte mir, dass meine Mama süße Trauben geliebt hat. Ob die beiden jetzt wieder vereint sind? Das wäre schön und ein wenig tröstend. Ich kann und will noch immer nicht glauben, dass sie tot ist. Und nicht einmal zu ihrer Beerdigung kann ich gehen. Als eines von vielen Choleraopfern wurde sie, so schnell es ging, auf dem Friedhof verscharrt. Es fühlt sich an, als hätte ich meine Mama verloren. Nele war alles, was mir von meiner Familie noch geblieben war. Ohne sie ist Hamburg unvorstellbar leer. Ach, wäre sie doch nur zu Riekes Hochzeit gekommen, dann hätten wir sie beschützen können. Andererseits weiß ich, dass sie Fanny und die anderen niemals im Stich gelassen hätte. Nun hat sie es getan, für immer. Und eine große Lücke hinterlassen, die niemand auszufüllen vermag.
I da und Thaisen saßen vor der kleinen Kate im Sand. Die Tür stand offen, und Thaisen beschäftigte sich damit, seine Seesternsammlung neu zu sortieren, denn er hatte in den Morgenstunden im Watt neue Seesterne gefunden und wollte seinen Vorrat sichten. Ida, die die Nacht mal wieder bei Thaisen im Pfarrhaus verbracht hatte, hielt die kleine Kette mit dem Amulett in Händen und betrachtete das sich darin befindliche Bild der jungen Frau.
»Vielleicht ist sie sogar adlig«, mutmaßte sie. »Eine Prinzessin von Sachsen oder Bayern. Oder ihr Vater war ein Franzose. Er könnte aber auch Spanier gewesen sein. Findest du nicht, dass sie mit ihren braunen Augen und dem dunklen Haar südländisch aussieht? Am Ende war sie eine Schauspielerin oder Tänzerin.«
Thaisen brummelte.
»Vielleicht heißt sie ja Angélique oder Elena«, fuhr Ida fort. »In St. Pauli gab es mal eine Aufführung mit einer Angélique. Sie war eine Tänzerin aus Paris. Vor dem Theater hing ein Plakat mit einer Fotografie von ihr. Diese Angélique war sehr hübsch. Ich finde, sie ähnelt ihr ein wenig.«
»Und? Hast du die Angélique von dem Plakat auch tanzen sehen?«, fragte Thaisen, der seine Bestandsaufnahme der Seesterne beendet hatte und nun doch neugierig war, was Ida zu berichten hatte. Hamburg selbst war ihm gleichgültig. Außen- und Binnenalster oder irgendwelche Vierländer mit Obst interessierten ihn wenig. Aber St. Pauli hörte sich spannend an. Dorthin wollte er auch irgendwann mal. Besonders Idas Erzählungen über die Menagerie mit den fremdartigen Tieren hatten es ihm angetan. Aber auch der Jahrmarkt mit den vielen Karussells schien toll zu sein. Nur allzu gern würde er mal mit einem von ihnen fahren oder die süße Zuckerwatte essen, von der Ida ihm vorgeschwärmt hatte.
»Nein, natürlich nicht«, beantwortete Ida seine Frage. »Für die Theater in St. Pauli bin ich noch viel zu jung. Und in diese Sorte Theater durfte ich sowieso nicht gehen.«
»Was meinst du mit ›diese Sorte Theater‹?«, hakte Thaisen interessiert nach.
»Na, wo die Frauen halb nackt sind.« Thaisens Augen wurden groß. »Brauchst gar nicht so zu gucken. So ist das in St. Pauli schon mal. Da nehmen sie es mit den guten Sitten nicht so genau. Als Lasterhöhlen bezeichnete Tante Nele solche Theater. Die gute Angélique auf dem Plakat hatte nicht viel an und trat in einem Haus am Spielbudenplatz auf. Wenn mein Vater gewusst hätte, dass wir uns in dieser Ecke von St. Pauli herumtreiben, hätte ich mächtig Ärger bekommen. Wir haben sogar mal kurz hineingeguckt, sind aber schnell wieder fortgelaufen.«
»Und? Was war drin?«
»Nichts. Nur mit rotem Samt bezogene Stühle und Sessel und eine leere Bühne. Es hat übelst nach Rauch und Parfum gestunken. So die Sorte schweres Parfum, das einem die Luft zum Atmen raubt.«
Thaisen nickte, obwohl er nicht wusste, wie schweres Parfum roch. Allgemein hatte er von Parfum nur wenig Ahnung. Hin und wieder rochen einige weibliche Gäste des Hospizes blumig oder sonderbar. Einige stanken auch nach Schweiß. Aber hatte nicht seine Mutter ein kleines Glasfläschchen besessen, von dessen Inhalt sie sich manchmal ein paar Tropfen hinters Ohr tupfte? War das etwa Parfum gewesen?
»Du weißt nicht, wie schweres Parfum riecht, oder?«, fragte Ida schmunzelnd und stieß Thaisen in die Seite.
Er fühlte sich ertappt.
»Natürlich weiß ich das. Glaubst du denn, ich wäre dumm?«, erwiderte er ruppig, sprang auf und rannte davon. Ida sah ihm verdutzt nach. Was hatte sie denn jetzt schon wieder falsch gemacht? Sie neckten einander doch öfter. Anscheinend hatte sie mal wieder einen wunden Punkt getroffen. Sie steckte die Kette mit dem Medaillon in ihre Rocktasche und folgte ihm.
Thaisen war den Strand hinuntergelaufen und stand ein ganzes Stück von ihr entfernt an der Wasserkante, wo er etwas begutachtete, was das Meer angespült hatte. Als Ida näher herantrat, konnte sie erkennen, dass es ein Mann war. Er war blond und schien noch jung zu sein. Vielleicht Anfang zwanzig, schätzte sie – ihre erste Wasserleiche. Trotzdem blieb sie sonderbarerweise ganz ruhig, denn sie hatte gewusst, dass dieser Moment irgendwann kommen musste.
»Vermutlich ein Seemann«, mutmaßte Thaisen. »Wo der wohl herkommt? Hab in letzter Zeit nichts von einem gesunkenen Schiff gehört. Aber vielleicht war es vor England. Da bekommen wir ja nicht immer alles mit.«
Ida hörte Thaisen gar nicht richtig zu. Sie interessierte sich für andere Dinge.
»Ich habe mir Wasserleichen anders vorgestellt«, sagte sie und ging vor dem Toten in die Hocke, um sein Gesicht genauer betrachten zu können. »Aufgedunsener, irgendwie gruseliger.«
»Der hier liegt noch nicht lang im Wasser«, antwortete Thaisen. »Höchstens fünf Tage. Und es haben ihn kaum Aasfresser erwischt. Wir müssen den Strandvogt informieren. Leichen müssen so schnell wie möglich gemeldet werden. Es werden dann Erkundigungen eingeholt. Ob es Bootsunfälle gab, jemand vermisst wird. Manchmal lässt sich noch feststellen, wer er war, und die Überreste werden zu den Angehörigen gebracht. Sollten die Nachforschungen erfolglos bleiben, wird er auf dem Gräberfeld der Namenlosen landen.«
Ida nickte ein wenig irritiert. Thaisens Stimme klang sachlich, als ginge es um ein Stück Holz oder ein Ölfass, das angeschwemmt worden war. Aber vor ihnen lag ein Mensch mit einer Geschichte. Sie entdeckte eine Kette an seinem Hals und nahm sie näher in Augenschein.
»Sieh mal. Er trägt eine Halskette mit einem Anhänger.« Sie beugte sich über den Leichnam und griff nach dem ovalen Anhänger. »Er lässt sich öffnen.« Sie schob einen kleinen Riegel in die Höhe, und plötzlich war das Bild eines jungen Mädchens zu sehen. Sie hatte blaue Augen, war blond und sehr hübsch. Ihr Blick traf Ida tief im Innersten. »Es ist wie bei dem anderen Mädchen.« Ihre Stimme brach. Und plötzlich war sie da. Die Abscheu vor dem Tod. Ida spürte Übelkeit in sich aufsteigen, und ihr Blick auf den Toten veränderte sich. Er hatte die Augen geschlossen, sein Mund war leicht geöffnet. Kreideweiß war seine Haut, und in seinem Haar hatte sich Tang verfangen, in dem einige Muscheln hingen. Über seine Stirn zog sich ein roter Striemen, sein Hemd war zerrissen, und er war barfuß. Sie ließ den kleinen Anhänger los und wich zurück.
»Ich muss hier weg«, stieß sie aus. »Er ist tot. Tot, verstehst du?« Die letzten Worte presste sie hervor.
Thaisen reagierte verwundert auf Idas plötzliche Veränderung. Ida lief rückwärts, stolperte, fiel hin, rappelte sich wieder auf und rannte davon. Fluchend folgte Thaisen ihr. Er hätte es wissen sollen. Der Anblick einer Wasserleiche, und das zum ersten Mal, war stets schwer zu verkraften. Wie hatte er nur annehmen können, dass es bei Ida anders sein könnte? Allerdings hatte sie zu Beginn ungewohnt gefasst reagiert, als würde die Entdeckung des Toten sie nicht sonderlich berühren. So oft hatten sie bereits über die Menschen gesprochen, denen das Meer das Leben raubte. Hatten sich Gedanken über ihre Hinterbliebenen gemacht, Namen für sie ersonnen, ihnen eine Identität geschenkt. Doch die Konfrontation mit einem wirklichen Leichnam hatte Ida noch nicht erlebt. Wie hatte er nur annehmen können, sie würde es einfach so wegstecken?
Er holte Ida auf dem Strandweg nach Nebel ein, und sie setzten sich abseits des Weges in die Dünen. Eine Weile sagte keiner von beiden etwas. Stimmten drangen zu ihnen herüber. Lautes Lachen einer Frau, das dem Gemecker einer Ziege glich.
»Es gehört dazu«, sagte Ida irgendwann. Sie riss ein Stück Strandhafer ab und drehte den Stängel in ihren Fingern hin und her.
Thaisen nickte und antwortete: »Aber daran gewöhnen werde ich mich nie.«
»Es sah aber danach aus«, erwiderte Ida.
»Die Sachlichkeit macht es leichter. Jedenfalls versuche ich es auf diese Art. Klappt aber nicht immer.«
»Er hat das Mädchen auf dem Bild bestimmt geliebt«, sagte Ida und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Vermutlich weiß sie noch gar nicht, dass er tot ist.«
»Vielleicht ja doch. Ich weiß, du hältst nicht viel von den Geschichten mit den Wiedergängern, aber viele Insulaner glauben daran.«
Ida warf ihm einen Seitenblick zu, der alles sagte.
»Und was nun?«
»Jetzt gehen wir zu Jensen und melden die Leiche. Wenn wir Glück haben, hat seine Frau Juliane Butterkuchen gebacken.«
»Butterkuchen«, wiederholte Ida. »Du denkst kurz nach dem Fund einer Strandleiche an Butterkuchen.«
»Wieso nicht?«, fragte Thaisen. »Es ist schon Nachmittag, also beste Kuchenzeit.« Er grinste breit, erhob sich und streckte Ida die Hand hin, um ihr aufzuhelfen.
»Mit dir wird es noch mal schlimm kommen, Thaisen Bertramsen«, erwiderte Ida lachend und ergriff seine Hand.
Er zog sie, froh darüber, dass sie sich wieder gefangen hatte, auf die Beine und sagte grinsend: »Jetzt hab dich nicht so. Nach den Beerdigungen gibt es doch auch immer den Leichenschmaus. Tod und Essen liegen also gar nicht so weit auseinander.«
Sie liefen den Strandweg hinunter und erreichten bald darauf Nebel, das trotz der vielen Touristen einen recht verschlafenen Eindruck machte. Das Haus des Strandvogts lag am Ortsausgang in der Nähe der Mühle, wo gerade die Kinder des Müllers, ein Bub und ein Mädchen, drei und fünf Jahre alt, im Garten zwei Kaninchen nachjagten, die jedoch über die nahe Kuhweide davonhoppelten.
Thaisen und Ida winkten den beiden zu, blieben allerdings nicht bei ihnen stehen, wie sie es sonst öfter machten, sondern hielten auf das Haus des Strandvogts zu, wo Juliane Jensen Wäsche im Garten aufhängte. Als sie die beiden bemerkte, lächelte sie und begrüßte sie mit den Worten:
»Na, wen haben wir denn da? Du hast wirklich einen Riecher dafür, wenn ich Butterkuchen gebacken habe, Thaisen Bertramsen. Und du hast Ida mitgebracht. Wie schön. Wie geht es denn deiner Mutter und Rieke? Ich hoffe, sie konnten sich inzwischen von den aufregenden Hochzeitsfeierlichkeiten erholen.«
»Konnten sie«, antwortete Ida, nachdem sie Juliane mit dem friesischen Gud Dai begrüßt hatte, das sie lieber mochte als das Moin .
»Das freut mich«, erwiderte Juliane und befestigte ein weißes Hemd mit zwei Klammern an der zwischen zwei Birnbäumen gespannten Leine.
»Wir sind aber nicht wegen des Kuchens gekommen«, sagte Ida, was ihr einen strafenden Blick von Thaisen einbrachte.
»Das dachte ich mir schon«, erwiderte Juliane mit einem Augenzwinkern. »Allerdings ist Johann gerade nicht da. Er ist in den frühen Morgenstunden nach Wittdün gerufen worden. Ein Botenjunge des Kurhauses hat uns im Morgengrauen aus dem Bett geworfen. Dort muss es irgendeinen Vorfall gegeben haben. Es scheint wichtig zu sein. Was gibt es denn bei euch?«
»Am Strand ist eine Leiche angeschwemmt worden«, sagte Thaisen.
»Du liebe Güte. Das auch noch«, rief Juliane. »Wo denn genau?«
»Nicht weit vom Strandweg entfernt«, antwortete Thaisen. »Sie dürfte noch nicht lang dort liegen. Vermutlich erst seit ein, zwei Stunden.«
»Dann hat die letzte Flut sie gebracht«, erwiderte Juliane. »Ich kann nur leider nicht sagen, wann Johann aus Wittdün zurückkehren wird, und auch Philipp ist unterwegs. Soweit ich weiß, fährt er gerade mit einer Touristengruppe zu den Seehundbänken hinaus. Aber vielleicht kann uns Franz Wuttge helfen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er eine Leiche vom Strand holt. Wollt ihr zu ihm hinüberlaufen und es ihm sagen?«
Ida wollte zustimmen, doch Thaisen kam ihr zuvor.
»Machen wir. Aber nur, wenn wir Wegzehrung bekommen.« Er grinste breit.
Juliane stimmte lachend zu. »Die hättest du doch sowieso bekommen. Ich würde dich niemals ohne dein Stück Butterkuchen ziehen lassen, mien Jung.«
Ida und Thaisen folgten Juliane in die Küche, wo auf dem gemauerten Ofen ein Kupferkessel und mehrere Pfannen standen. Der Blechkuchen lag der Kochstelle gegenüber am offenen Fenster auf einem Tuch zum Auskühlen.
»Ich hab den Kuchen eben erst aus dem Ofen geholt«, sagte Juliane und holte ein Messer aus einer Schublade der blau gestrichenen Anrichte, die neben dem Durchgang zur guten Stube stand. Sie schnitt zwei großzügige Stücke ab, legte sie auf zwei Papierservietten und reichte sie Thaisen und Ida.
Thaisen bedankte sich, und die beiden verließen die Küche. Ida biss gierig in das warme Stück Kuchen hinein.
»Du hast recht, Thaisen«, sagte sie mit vollem Mund, »der Kuchen ist ein Traum.«
Die beiden machten sich auf den Weg zu Franz Wuttges Haus. Dort angekommen, schickte sie seine älteste Tochter mit der Erklärung, dass mal wieder eines der Pferde lahmen würde, auf die nahe Pferdeweide. Doch auf der Weide war von Franz Wuttge weit und breit nichts zu sehen.
»Das scheint ja heute wie verhext zu sein«, schimpfte Thaisen. »Wo stecken die denn alle? Vermaledeit noch eins. Jetzt müssen wir wohl doch nach Wittdün laufen, um den Strandvogt persönlich zu informieren. Muss ja wirklich wichtig sein, wenn er sich dort schon seit dem frühen Morgen herumtreibt. Aber wenn die feinen Leute vom Kurhaus rufen, dann springen sie alle. Komm. Vielleicht können wir in Erfahrung bringen, was los ist.« Er bedeutete Ida, ihm zu folgen. Je näher sie Wittdün kamen, desto größer wurde auf dem Weg das Gedränge. Mit Waren gefüllte Fuhrwerke fuhren an ihnen vorüber, ebenso die Wagen der Kurgäste, die die üblichen Lustfahrten über die Insel machten.
Als Ida und Thaisen in Wittdün eintrafen, herrschte besonders am Hafen ein heilloses Durcheinander. Gerade hatte die Fähre aus Dagebüll angelegt, und Unmengen von Besuchern verließen das Schiff. Ida dachte daran, was die Köchin im Hospiz heute Morgen beim Frühstück gesagt hatte. Gerade die Nordseeinseln schienen in ihrer Abgelegenheit den Menschen Hamburgs ein sicherer Zufluchtsort vor der Cholera zu sein. Auch das Haus Stockmann hatte weitere Buchungen angenommen. Sine und Kaline waren aufgrund der besonderen Umstände bereits ausquartiert worden und planten, bald abzureisen. Sie begründeten ihre frühere Abreise damit, niemandem den Platz wegnehmen zu wollen, doch Ebba vermutete, dass es die Angst vor der Krankheit war, die die beiden von der Insel heruntertrieb, denn hinter vorgehaltener Hand wurde längst getuschelt, wie lange es wohl noch dauern würde, bis die Cholera Amrum erreicht hätte. Nur laut traute sich dies niemand auszusprechen, denn Amrum sollte weiterhin das Kurbad zum Wohlfühlen bleiben.
Im dichten Gedränge des Hafens entdeckten Ida und Thaisen Jasper, der neben seinem Wagen stand und anscheinend auf Kundschaft wartete.
Ida kämpfte sich zu ihm durch, grüßte und fragte: »Hast du Strandvogt Jensen irgendwo gesehen?«
»Ja, der ist gerade im Haus Seeheim gemeinsam mit Andresen und den anderen Wichtigkeiten der Insel verschwunden. Sie kamen aus dem Kurhaus und waren ziemlich aufgeregt. Was gibt es denn?«
»Wir haben eine Strandleiche gefunden«, sagte Thaisen.
»Verstehe«, erwiderte Jasper. »Und das wolltet ihr melden.« Thaisen nickte.
Jasper blickte zum Haus Seeheim hinüber, lüpfte seine Mütze und kratzte sich am Kopf. »Sie sahen recht beschäftigt aus. Allerdings gehört so eine Leiche schon gemeldet. Ihr solltet rübergehen und nach ihm fragen. Ist ja für die Touristen kein schöner Anblick. Und wenn dann erst noch die Aasfresser kommen.« Er winkte ab. »Ist bestimmt besser, wenn er informiert ist.«
»Und wenn du das machst?«, fragte Thaisen. »Wenn wir Kinder in solch eine wichtige Versammlung …«
»Ich versteh schon«, erklärte Jasper. »Meine Gäste scheinen sowieso nicht aufzutauchen. Vielleicht kommen sie mit dem nächsten Schiff. Soll ja in Dagebüll ein rechtes Durcheinander herrschen. Bei dem großen Andrang ist das auch kein Wunder. Lasst uns nur schnell den Wagen vor Fraukes Laden bringen, damit sie derweil ein Auge auf ihn hat. Nicht, dass er in dem Trubel noch fortkommt.«
Die drei liefen den kurzen Weg zu Fraukes Papeteriegeschäft, vor dem sie den Wagen abstellten und Ida beauftragt wurde, Frauke rasch Bescheid zu geben. Ida nickte und betrat den Laden, in dem im Moment nur eine Kundin anwesend war. Die beleibte Dame stand auf der Kurwaage und plapperte ohne Unterlass, während Frauke die Gewichte von rechts nach links schob.
»Drei Leute haben sich heute Morgen übergeben. Im zweiten Stock soll es gewesen sein. Jedenfalls hat mir das meine Freundin Annemarie beim Frühstück berichtet, die im dritten Stock wohnt und es von einem der Zimmermädchen gehört hat, das auf dem Flur darüber gesprochen hat. Soll ja niemand erfahren, wegen der Panik. Aber wir haben schon gepackt. In zwei Stunden geht das Schiff nach Dagebüll. Nach Hamburg wollen wir ja nicht zurück. Dort sollen inzwischen übelste Zustände herrschen. In der Zeitung stand etwas von bald eintausend Toten. Das muss man sich mal vorstellen. Obwohl es natürlich hauptsächlich die armen Teufel in den Gängevierteln trifft. Und jetzt scheint diese schreckliche Seuche also auch hier angekommen zu sein. Mein Mann telegrafierte heute Morgen bereits seinem Bruder nach Kiel, um ihn über unsere Ankunft zu informieren. Dieser bewohnt mit seiner Familie ein großes Stadthaus. Dort werden wir gewiss so lange Unterschlupf finden, bis das Schlimmste vorbei ist. Ich kann Ihnen nur raten, meine Teuerste, Ihren Laden zu schließen und, wenn es Ihnen möglich ist, die Insel auf dem schnellsten Weg zu verlassen. Wenn diese scheußliche Krankheit erst einmal ausbricht, ist sie kaum noch aufzuhalten.«
Ida, die an der Tür stehen geblieben war, erstarrte. Frauke sah hoch und fing ihren Blick auf. Ihre Miene war ernst, als sie in ihrem gewohnt freundlichen Tonfall der Dame antwortete: »Jetzt malen wir den Teufel mal nicht an die Wand. Unser Amrum ist nicht Hamburg, und vielleicht hat Ihre Freundin nur etwas falsch verstanden.« Sie wandte sich Ida zu. »Ida, Kind, was gibt es denn?«
Ida nannte den Grund für ihr Kommen, sprach jedoch den Wasserleichenfund wohlweislich nicht an. Die Kundin war sowieso schon aufgelöst genug.
Frauke versicherte Ida, auf den Wagen zu achten, dann wandte sie sich wieder ihrer Kundin zu, um deren Ängste, den Ausbruch der Cholera betreffend, weiter zu beschwichtigen. Die Dame beharrte jedoch darauf, die Insel so schnell wie möglich verlassen zu wollen. Als Frauke ihr dann auch noch ihr Gewicht mitteilte, schien die Kundin endgültig bedient zu sein.
»Das kann gar nicht sein«, sagte sie. »Ich esse doch Schonkost.«
Ida schmunzelte, als sie den Laden wieder verließ. Sie wusste nur zu gut, wie die Schonkost der meisten Kurgäste aussah, sagte jedoch nichts. Draußen wurde sie bereits ungeduldig von den anderen erwartet.
»Was hat da drinnen denn so lange gedauert?«, fragte Thaisen.
»Nichts Besonderes. Eine Kundin aus dem Kurhaus stand auf der Waage und berichtete, es gäbe im Kurhaus Fälle von Cholera, weil es da Leuten schlecht geworden sein soll.«
»Ach du meine Güte«, sagte Thaisen.
»Was bestimmt nicht zutrifft«, beschwichtigte Ida ihn. »Bestimmt sind es diese Salmon…« Ihr fiel das Wort nicht mehr ein. »Du weißt, was ich meine. Das hatten wir diesen Sommer schon mehrfach. Sogar im Seehospiz haben erst neulich einige Leute gekotzt. Es ging ihnen aber schnell wieder besser.«
Thaisen blickte zu Jasper, dessen Miene ernst war. Er sagte jedoch nichts zu Ida.
»Lasst uns mal ins Seeheim rübergehen und dem Strandvogt wegen der Wasserleiche Bescheid geben, damit sie fortgeschafft werden kann.« Er bedeutete den Kindern, ihm zu folgen.
Der Weg zum Haus Seeheim war nicht weit. Als sie dort eintrafen, drangen laute Stimmen aus einem Raum im Untergeschoss bis auf die Straße hinaus.
Jasper sah zu Thaisen und Ida, die neben ihm stehen geblieben waren.
»Was meint ihr?«, fragte Jasper unsicher. »Reingehen oder lieber draußen bleiben?«
»Hm«, machte Thaisen. »Vielleicht sollten wir eine Münze werfen. Kopf für rein, Zahl für draußen bleiben.«
»Gute Idee.« Jasper fischte eine Mark aus seiner Tasche und warf sie in die Luft. Genau in dem Moment, als er »Zahl« rief, öffnete sich jedoch die Tür, und Andresen stürmte, gefolgt von Volkert Quedens und dem Strandvogt, nach draußen.
»Ich werde wegen den wenigen Fällen im Kurhaus auf keinen Fall den Hafen schließen lassen«, rief Andresen laut. »Und das ist mein letztes Wort. Cholera. Solch ein Unsinn.«
Er bemerkte Jasper erst, als er beinahe in ihn hineingelaufen wäre. Abrupt blieb er vor ihm stehen und fluchte: »Was stehst du hier herum? Sieh zu, dass du fortkommst.« Er eilte weiter.
Volkert Quedens und der Vogt folgten ihm nicht. Johann Jensen schüttelte den Kopf und murmelte: »Hoffentlich behält er recht.«
Quedens nickte und verabschiedete sich mit knappen Worten. Johann Jensens Blick fiel auf Jasper, und er sagte seufzend:
»Tut mir einen Gefallen und sagt keinem weiter, was ihr gerade gehört habt.«
Die drei nickten einträchtig, und Jasper ergriff das Wort.
»Wir wollten eine Leiche am Strand bei Nebel melden.«
»Das auch noch«, antwortete Jensen, setzte seine Mütze auf und versprach, dass er sich, so schnell es ginge, darum kümmern würde.