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Hamburg, 12. Dezember 1892
Meine liebe Rieke,
ich hoffe, Ihr habt den Sturm auf der Insel gut überstanden. Hier stand der Fischmarkt unter Wasser, heute schneit es. Wir versuchen, das nächstmögliche Schiff zu nehmen.
Sende Dir eine Umarmung,
Deine Mama
M
arta stand am Fenster und blickte auf die Poststraße hinunter, durch die der Wind Schneeflocken wirbelte. Sie tanzten durch die Luft und landeten auf Gehwegen, Hüten, Mützen und dem Karren des Milchhändlers, der gerade mit einem Dienstmädchen aus dem gegenüberliegenden Haus ein Schwätzchen hielt. Gestern früh hatte es noch gestürmt, und der Fischmarkt hatte unter Wasser gestanden. Hamburg war es gewohnt. Diese Stadt lebte am und mit dem Wasser. Doch in diesem Jahr schien die Reaktion auf den Sturm eine andere zu sein. Die Menschen wirkten mürrischer, waren blasser. Hamburg war müde geworden, und in den Straßen und Gassen war noch immer spürbar, was die Bewohner durchmachen mussten. Über achttausend Tote waren zu beklagen, um die es zu trauern galt. Der Hafen war wieder geöffnet, der Handel erfüllte die Stadt erneut mit Leben, und sogar der Winterdom fand statt. Dieses Jahr auf dem Heiligengeistfeld, wo er nun wohl für immer bleiben würde, wenn man dem Zeitungsartikel glauben wollte, den Wilhelm ihr gestern beim Nachmittagstee in ihrem Lieblingscafé am Jungfernstieg vorgelesen hatte. Nele hatte den Dom geliebt. Schon als sie klein gewesen war, waren sie gemeinsam hingegangen und mit einem der Karussells gefahren. Die vielen bunten Stände voller funkelndem Tand. Dazu die Gerüche von Bratwürsten und Glühwein, die in der Luft hingen. Zuckerwatte, die süß auf der Zunge schmolz und die Finger klebrig machte. Nele. Marta wandte sich vom Fenster ab und ließ ihren Blick durch den kleinen Raum schweifen: das dunkel gebeizte Bett mit der Blümchenbettdecke, die Wände, geschmückt mit den Gemälden ihres Onkels. Wehmütig berührte sie die Spitzengardine am Fenster und dachte daran, wie sie sie gemeinsam zum Waschen abgenommen hatten, jedes Frühjahr, wenn das Großreinemachen anstand. Marta schloss die Augen und lauschte in die Stille. Ein Lächeln umspielte plötzlich ihre Lippen. Sie glaubte, Neles polternde Schritte auf der Treppe zu hören. Dazu ihre Stimme, rau und laut, aber herzlich. »Der Boden muss geschrubbt werden. Und macht das richtig. Und die Federbetten zum Lüften raushängen. Und du, Marta, geh das Silberbesteck polieren. Es ist schon wieder ganz angelaufen. Und die Fenster, vergesst nicht, die Fenster zu putzen, aber anständig und ohne Streifen.«
Marta öffnete die Augen. Niemals wieder würde sie Tante Neles Schritte auf der Treppe oder ihre Stimme hören. Sie war fort, und mit ihr hatte dieses Haus seine Seele verloren. Für heute hatten sich zwei weitere Kaufinteressenten angemeldet. Einer von ihnen kam bereits zum zweiten Mal, was Wilhelm für ein gutes Zeichen hielt. Die kleine Pension lag zentral, unweit vom Jungfernstieg, verfügte über elektrisches Licht und sogar über Wassertoiletten. Somit war ein guter Preis zu erzielen. Mit dem Geld konnten sie über den Winter ihr Hotel auf Amrum endlich erweitern, und Wilhelm müsste die Insel nicht mehr verlassen, um in Hamburg zu arbeiten.
»Du verstehst das schon, oder?«, sagte Marta in die Stille und blickte zur Zimmerdecke. »Wir können das Geld gut gebrauchen, denn dann muss Wilhelm nicht mehr nach Hamburg, um Geld zu verdienen.« Marta spürte die aufsteigenden Tränen, sprach jedoch trotzdem weiter: »Ich vermisse dich so sehr. Dieses Haus ist nichts ohne dich. Hamburg ist nichts ohne dich. Wie konntest du es nur wagen, dich ohne ein Wort des Abschieds einfach so davonzustehlen. Es war noch nicht an der Zeit.« Marta machte eine kurze Pause und fügte mit bitterem Unterton hinzu: »Aber wann ist es das schon.«
Sie verstummte. Der Schmerz über den Verlust ihrer kleinen Marie ergriff erneut Besitz von ihr. Unter Tränen sprach sie weiter: »Manchmal wache ich morgens auf und glaube, alles ist wie immer. Doch dann trifft mich die Realität wie ein harter Schlag ins Gesicht, und ich würde am liebsten wieder in meine Träume entfliehen. Dann drehe ich mich zur Seite und starre auf den Fußboden. An manchen Tagen scheint die Sonne ins Zimmer, und funkelnde Staubteilchen flirren durch die Luft, die ich beobachte. An anderen regnet es, und der Wind treibt die Tropfen gegen die Scheibe. Ich sehe zu, wie sie an ihr hinunterlaufen, und frage mich, was das alles noch für einen Sinn hat. Doch dann kommt Ida zu mir ins Zimmer, zurzeit jeden Morgen, krabbelt zu mir ins Bett und kuschelt sich eng an mich. Ich spüre ihre kalten Füße unter der Decke, ihren Atem an meinem Hals. Wir liegen meist still beieinander, manchmal reden wir aber auch. Sie erzählt mir von ihren Ausflügen über die Insel, von Muscheln und Robben, von Möwen und Strandfunden. Sie schafft es, dass ich morgens aufstehe und weitermache. Der liebe Gott hat es gewollt. Ida und Rieke sind noch bei mir. Und auf Marie passen meine Eltern, und jetzt auch du, auf. Bestimmt spielt sie dort oben mit unserer kleinen Johanna.« Marta machte eine Pause und wiederholte dann den Satz noch einmal, den Ida an diesem fürchterlichen Morgen gesagt hatte und der ihr nicht mehr aus dem Sinn gehen wollte. »Er hat es gewollt.« War es immer so einfach? Gott wollte etwas, und es geschah. Oder machten sie es sich zu leicht? Gab es überhaupt einen Gott? Marta wusste es nicht. Doch sie glaubte, ihre Zweifel wären berechtigt. Auch Kaline, mit der sie darüber gesprochen hatte, stimmte ihr zu. Ihrer Meinung nach gab es nur das manchmal grausame Schicksal, das Lebenswege lenkte. Marta schloss die Augen und versuchte, sich Maries Nähe in Erinnerung zu rufen. Ihren warmen Körper, der auf ihr lag, ihren gleichmäßigen Atem, dem sie lauschte. Niemals wieder. Marie war zu einer Erinnerung geworden, und ihr Bild stand nun neben dem von Johanna auf der Kommode im Schlafzimmer. Zwei Mädchen, ein Junge, ihre Eltern und Nele. Wie viel Schmerz konnte ein Mensch ertragen?
Ein leises Klopfen an der Tür riss Marta aus ihren Gedanken. Noch ehe sie »Herein« sagen konnte, schaute Wilhelm in den Raum, wünschte ihr einen guten Morgen und fragte: »Brauchst du noch Geschenke? Unten steht der Karrenhändler Johannes, und Fanny meinte, du würdest bestimmt gern herunterkommen, um etwas zu kaufen.«
»Nur Johannes?«, hakte Marta nach.
Wilhelms Miene wurde ernst. Marta nickte und antwortete:
»Gib mir eine Minute.« Wilhelm schloss die Tür.
Martas Blick fiel in den Spiegel des Waschtischs. Ihr Haar war noch offen. Graue Strähnen hatten sich in das Braun geschlichen und schienen jeden Tag mehr zu werden. Längst war das junge Mädchen von einst verschwunden. Das Leben hinterließ seine Spuren.
Erneut klopfte es an der Tür, und dieses Mal öffnete sie sich erst nach Martas »Herein«. Es war Bille, das ehemalige Küchenmädchen, die den Kopf durch den Türspalt schob und nach einem fröhlichen »Moin« fragte, ob sie ihr beim Ankleiden behilflich sein solle. Marta stimmte zu, und Bille betrat den Raum. Marta fiel auf, dass sie anders als sonst aussah. Bille hatte sich zurechtgemacht und trug eine hübsche Spitzenbluse zu einem dunkelblauen Rock. Ihr hochgestecktes Haar zierte ein kleines Hütchen.
»Hab ich etwas verpasst?«, fragte Marta erstaunt.
»Nein«, wiegelte Bille ab, »oder vielleicht doch. Es ist wegen Johannes. Er und ich, ich meine …« Sie kam ins Stocken, und ihre Wangen verfärbten sich rot.
»Er und du«, sagte Marta, die ahnte, was kommen würde.
»Er hat vor einer Weile um meine Hand angehalten«, vollendete Bille ihren Satz. »Und er ist heute nicht als Karrenhändler hier, sondern als Interessent für das Haus.«
»Johannes will die Pension kaufen?« Marta sah Bille erstaunt an.
»Ja, das will er. Erinnern Sie sich, wie Friedrich immer davon gesprochen hat, dass sein Sohn eines Tages sein eigenes Geschäft haben wird? Das war sein großer Traum. Johannes sollte kein einfacher Karrenhändler mehr sein. Er hat dafür gespart und Johannes eine beachtliche Summe hinterlassen. Es sind fünfzehntausend Mark.«
Marta wollte etwas erwidern, doch Bille ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Ich weiß, das Haus ist mehr wert. Aber wir könnten Sie ja am Geschäft beteiligen oder den Rest abbezahlen. Johannes möchte einen Kolonialwarenladen einrichten. Im oberen Stock könnten wir wohnen. Groß genug wäre das Haus. Was meinen Sie?« Sie sah Marta bittend an.
Marta lächelte. »Er hat dich als Vorhut geschickt, nicht wahr?« Bille senkte den Blick, und Marta fuhr fort: »Ich erinnere mich daran, wie Friedrich davon gesprochen hat. Allerdings sind fünfzehntausend Mark tatsächlich etwas wenig.« Bille wollte etwas sagen, doch Marta hob die Hand. »Andererseits denke ich, dass dein Vorschlag Tante Nele gefallen hätte. Und mir gefällt er auch. Der Gedanke, dass das Haus nicht an einen Fremden geht, ist gut.«
Bille ließ erleichtert die Schultern sinken. »Bedeutet das …«
»Jetzt machst du mir erst einmal die Haare«, unterbrach Marta sie. »Und dann gehen wir hinunter und gucken, was der gute Johannes auf seinem Karren hat, denn mir fehlen noch Geschenke für meine Liebsten. Und dann sehen wir weiter.« Sie lächelte. Bille nickte, griff nach der Haarbürste und begann, Martas Haare zu frisieren.
Bald darauf trat Marta, in ihren Wintermantel gehüllt, auf die Straße, wo sie bereits von Johannes erwartet wurde. Fanny leistete ihm Gesellschaft. Hoffnungsvoll sahen die beiden Marta an. Diese trat näher an den Karren heran, begrüßte Johannes und sprach ihm ob des Verlusts seines Vaters ihr Beileid aus. »Und, was kannst du mir anbieten?«, fragte sie dann und ließ den Blick über den gut gefüllten Karren schweifen. »Ich brauche noch Geschenke für Ida, Rieke und für meine Hausangestellten Ebba, Gesa und Jasper. Letzterer könnte eine neue Mütze gebrauchen.«
»Damit kann ich dienen. Gerade gestern ist frische Ware gekommen. Beste Wolle, hervorragende Qualität. Er zog einen ganzen Stapel Mützen aus den Untiefen seines Karrens heraus und breitete sie vor Marta aus. Sie waren mal grob, mal fein gestrickt, in Blau, Braun und Schwarz. Marta entschied sich für ein braunes Modell, denn Jaspers Jacke hatte diese Farbe. Johannes nannte den Preis von vier Mark. »Zu hoch«, entgegnete Marta. »Ich zahle zwei fünfzig.«
»Drei fünfzig«, erwiderte Johannes.
»Drei, mehr gebe ich nicht.«
Johannes überlegte kurz, dann stimmte er zu.
So ging es weiter.
Am Ende fanden sich für Rieke ein feiner Seidenschal, für Ida neue Handschuhe und eine hübsche Haarspange. Ebba bekam eine neue Schürze mit Lochstickerei, denn ihre alte war bereits mehrfach geflickt. Und für Gesa fand sich ein Strohhut mit einem hellblauen Samtband. Und Kaline würde einen neuen Korb für ihre Austern bekommen. Marta war zufrieden.
»Aus dir ist wirklich ein großartiger Händler geworden«, lobte sie Johannes. »Dein Vater wäre stolz auf dich.«
Johannes nickte. Sein Blick wanderte zu Bille.
»Bille hat mit Ihnen gesprochen?«, fragte er zögernd.
»Ja, das hat sie«, erwiderte Marta. »Ich würde es aber gern von dir selbst hören.«
»Was willst du von ihm selbst hören?«, fragte plötzlich Wilhelm, den die Ungeduld auf die Straße getrieben hatte.
Johannes wirkte unsicher. Er zog seine Mütze vom Kopf und zerknautschte sie in den Händen. Noch einmal sah er zu Bille, die ihm aufmunternd zunickte.
»Also gut«, begann er, »ich würde gern das Haus kaufen und gemeinsam mit Bille einen Kolonialwarenladen eröffnen. Wir sind verlobt. Kurz nach dem Fest wollen wir heiraten.«
»Du willst was?«, rief Wilhelm überrascht und sah zu Marta, die lächelte.
»Ich will das Haus kaufen und einen Kolonialwarenladen eröffnen«, wiederholte Johannes sein Ansinnen. »Und auch Fanny könnte bleiben, denn wir würden gern Gebäck und Kuchen verkaufen.«
»Du hast es gewusst?«, fragte Wilhelm seine Frau.
»Bille hat gerade eben mit mir gesprochen.«
Wilhelm nickte und sah in die Runde. Erwartungsvolle Blicke hingen an ihm. Er seufzte kopfschüttelnd. »Es ist doch bereits entschieden, oder?«
Marta nickte.
»Also gut, Kinder, dann lasst uns mal reingehen und das Geschäftliche besprechen. Am besten bei einer guten Tasse Tee in der Küche. Es ist echt saukalt heute.« Er rieb sich die Hände, ging ins Haus zurück und nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie Johannes und Bille sich erleichtert in die Arme fielen und danach Marta umarmten.
Wenig später saßen sie bei Tee und Plätzchen in der Küche und besprachen alles Weitere. In das Geschäft wollte Wilhelm nicht einsteigen, versprach aber, dem jungen Paar bei dem anstehenden Papierkram mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Es wurde ein Kaufpreis von dreißigtausend Mark festgelegt. Die fehlende Summe konnten die beiden monatlich abbezahlen, sobald der Laden eröffnet war. Gleich am nächsten Morgen würde Wilhelm den Kaufvertrag aufsetzen lassen.
»Darauf müssen wir anstoßen«, sagte Fanny und zauberte eine Flasche Sekt aus einem der Schränke. Bille holte Gläser aus der Anrichte im Esszimmer.
»Auf das junge Glück und die Zukunft«, sagte Wilhelm und hob sein Glas. Alle stimmten mit ein. Marta nahm einen kräftigen Schluck Sekt. Johannes küsste Bille vor Freude und begann, mit ihr durch den Raum zu tanzen. Wilhelm sah ihnen lächelnd dabei zu. Marta tat es ihm gleich, doch nach einer Weile wanderte ihr Blick zum Fenster. Es schneite noch immer. Auf die Zukunft, hatte Wilhelm gesagt. Eine Zukunft, die ohne Marie und ohne Nele stattfinden würde. Eine Zukunft, die sich gut anfühlen sollte, es jedoch nicht tat. Würde der Kummer jemals weichen?
Bille bemerkte Martas Traurigkeit. Sie stellte ihr Sektglas auf den Tisch, nahm ihre Hand und sagte: »Eine Kleinigkeit hatte ich vergessen zu erwähnen. Wir wollten das Geschäft Tante Neles Laden
nennen. Denn sie soll niemals vergessen werden. Und wir sind uns sicher, dass sie immer bei uns sein und auf uns achtgeben wird.«
Marta wusste nicht, was sie erwidern sollte. In ihre Augen traten Tränen. Bille umarmte sie und drückte sie fest an sich.
»Darauf kannst du wetten«, sagte Fanny lachend. »Mit Sicherheit ist sie hier und freut sich mit uns.«
»Tante Neles Laden mit einem Gespenst. Na, das kann ja heiter werden«, sagte Wilhelm lachend, legte den Arm um Marta und zog sie an sich. Und da war es wieder. Das Gefühl von Glück und Geborgenheit, das Marta glaubte, verloren zu haben. Plötzlich verspürte sie das unbändige Verlangen, nach Hause zu fahren. Hier schien nun alles den richtigen Weg zu gehen, jetzt war es Zeit, heimzukehren.
Und als ob Wilhelm ihre Gedanken gelesen hätte, fragte er sie plötzlich: »Was hältst du von einem Spaziergang durch den Schnee zum Hafen? Wenn wir Glück haben, hat Ballins Verkaufsstelle noch geöffnet und wir ergattern noch Billetts für das Schiff morgen.«
»Davon halte ich eine ganze Menge«, erwiderte Marta mit einem Lächeln. Die beiden verabschiedeten sich und traten wenig später nach draußen in die frostige Luft. Arm in Arm schlenderten sie die Poststraße und den Neuen Wall hinunter. Um sie herum herrschte der gewohnte Trubel der Stadt. Droschken und Pferdewagen fuhren an ihnen vorüber, Menschen eilten durch die Straßen, immer wieder mal wurden sie angerempelt. Aus einem Bäckerladen wehte ihnen der verführerische Duft von süßem Gebäck in die Nase. Ein Bettler sprach sie an, und ein Stück weiter bellten die vor einen Milchwagen gespannten Hunde. Als die Landungsbrücken von St. Pauli mit ihren vielen großen und kleinen Schiffen und der üblichen Geschäftigkeit in Sicht kam, blieb Marta stehen und sagte: »Das alles hier. Hamburg, die vielen Menschen, die Lautstärke und der Trubel. Das ist es nicht mehr.«
Wilhelm nickte und erwiderte: »Es wird Zeit, dass wir nach Hause kommen.«