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Norddorf, 24. Dezember 1892
Heute war ich zum ersten Mal an Maries Grab. Gemeinsam mit Wilhelm habe ich eine Kerze angezündet, damit sie in den dunklen Wintertagen ein wenig Licht hat. Es hat mich Überwindung gekostet, sie zu besuchen. Doch nun geht es mir besser. Nach Weihnachten werde ich das Grab mit vielen Christrosen bepflanzen. Und im Frühjahr sollen ihr Osterglocken und Schneeglöckchen Freude machen, denn Marie liebte Blumen. Jetzt beginne ich doch zu weinen, obwohl ich das nicht wollte. Heute ist Weihnachten, und wir wollen glücklich sein. Ich muss auch gleich hinüber in die Küche und Ebba bei den letzten Vorbereitungen für das Fest helfen. Marie wird bei uns sein. Das weiß ich bestimmt.
E bba betrachtete die von Ida und Thaisen bemalten Salzteigfiguren von allen Seiten. Die Kinder hatten sich alle Mühe gegeben, die sogenannten Kenkentjüch , wie die Figuren für den Kenkenbuum genannt wurden, möglichst akkurat in Rot zu umranden. Bereits im letzten Jahr hatte Ida den Christbaumersatz der Friesen kennengelernt und gemeinsam mit Sine gebastelt. Der Kenkenbuum bestand aus einem Holzgestell, das mit Buchsbaum umwickelt und mit den Salzteigfiguren geschmückt wurde. Jede der Figuren hatte eine Bedeutung, was Ida besonders gut gefiel. Das Pferd stand für Kraft und Ausdauer, der Hund für die Treue und der Hahn für Wachsamkeit. Segelschiff, Fisch und Mühle standen für die seit Jahrhunderten betriebene Seefahrt und den Ackerbau. Den zentralen Bestandteil des Salzteigschmucks machten allerdings Adam und Eva aus, die gemeinsam mit dem Baum der Erkenntnis am Fuß des Kenkenbuums abgebildet waren. Außerdem kam noch Dörrobst hinzu. Pflaumen und Rosinen, die Fruchtbarkeit symbolisierten. Marta befestigte auch noch Kerzen an den Rändern, damit der Kenkenbuum am Weihnachtsabend in voller Pracht erstrahlte. Ida fand ihn hübsch, vermisste jedoch ein wenig den gewohnten Weihnachtsbaum aus Hamburg. Auf den Inseln gab es keine Nadelbäume, und der Transport vom Festland war sehr teuer. Und außerdem fand Marta es wichtig, die Traditionen einer Region zu respektieren. Der Kenkenbuum gehörte auf Amrum zu Weihnachten, also würde es in ihrem Haus keinen anderen Weihnachtsbaum geben. Aber dafür gab es Unmengen an Weihnachtskeksen, die sie in den letzten Tagen gemeinsam gebacken hatten. Besonders die Anisplätzchen liebte Ida. Von ihnen waren, trotz Ebbas Ermahnung, schon einige in ihrem Magen gelandet. Heute Abend würde es Karpfen mit Kartoffeln und Meerrettich geben. »Den gibt es immer an Weihnachten«, hatte Ebba gesagt und damit jede weitere Essensbestellung im Keim erstickt.
Ebbas Blick wanderte aus dem Fenster. Eine dünne Schneeschicht lag auf dem Garten und den nahen Dünen, und ein bitterkalter Wind trieb immer wieder Wolkenpakete über sie hinweg. Langsam begann es zu dämmern.
Sie wandte sich Thaisen zu und fragte: »Musst du nicht nach Hause? Dein Vater wird nicht begeistert sein, wenn du auch noch den Heiligen Abend bei uns verbringst.«
Thaisens Miene verfinsterte sich, und er antwortete: »Wir feiern im Hospiz im großen Speisesaal mit den wenigen Kurgästen und den Diakonissinnen. Das ist langweilig und ungemütlich. Am liebsten würde ich hierbleiben.« Er blickte durch die geöffnete Küchentür sehnsüchtig in die hübsch dekorierte Gaststube hinüber.
»Das kann ich gut verstehen«, sagte Marta, die den Raum betrat und seine Worte mit angehört hatte. »Aber dein Vater wird mir etwas erzählen, wenn ich dich nicht nach Hause schicke. Wir sehen uns dann ja später beim Weihnachtsgottesdienst wieder.« Sie strich ihm lächelnd übers Haar.
Thaisen nickte, fügte sich in sein Schicksal und rutschte vom Stuhl. Marta trat näher und betrachtete die Salzteigfiguren.
»Die Kenkentjüch sind wirklich sehr hübsch geworden. Willst du sie mit Ida an den Kenkenbuum hängen und dann nach Hause laufen? Ich denke, so viel Zeit bleibt noch.«
Thaisen nickte freudig, und sie trugen den weihnachtlichen Schmuck gemeinsam in die Stube, wo die beiden Kinder die Salzteigfiguren an dem auf der Fensterbank stehenden Holzgestell anbrachten, das bereits mit Buchsbaumzweigen umwickelt war. Marta hatte auch die restliche Stube mit Buchsbaum, Äpfeln und aus Glanzpapier gefertigten Sternen geschmückt, die sie am Nachmittag zuvor mit Ida bei Tee und Plätzchen gebastelt hatte. Überall standen Kerzen, und der Kaminofen verbreitete angenehme Wärme. Auf dem Tisch lag ein Adventskranz aus Tannengrün, das Marta in der Wittdüner Gärtnerei zu einem moderaten Preis erworben hatte. Gebunden hatte sie den Kranz selbst und ihn mit Nüssen und Strohsternen geschmückt.
Thaisen verabschiedete sich schweren Herzens mit einer langen Umarmung von Ida, und sie vereinbarten, später in der Kirche nebeneinanderzusitzen.
Marta beobachtete die beiden wehmütig. Seitdem Ida krank gewesen war, schien Thaisen noch anhänglicher geworden zu sein, falls das überhaupt möglich war. Nur die Nächte, die verbrachten sie auf Wunsch des Pfarrers nun doch wieder getrennt, was Marta befürwortete, denn langsam erreichten die beiden ein Alter, in dem es unschicklich war, sich als Junge und Mädchen ein Bett zu teilen. Im Moment war die Stimmung zwischen Wilhelm und Bertramsen entspannt. Marta würde den Kontakt sogar als freundschaftlich bezeichnen. Der Ausbruch der Cholera auf der Insel hatte sie alle enger zusammenwachsen lassen. In Zeiten der Not galt es, nicht zu streiten. Die Seuche war von der Insel so schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen war. Kurz nach Maries Tod gingen die Neuerkrankungen zurück, und wenige Wochen darauf galt die Cholera als besiegt. Es waren insgesamt vierzig Tote zu beklagen, darunter viele Kinder. Der großartigen Pflege der Krankenschwestern, der Ärzte und der Diakonissinnen war es zu verdanken, dass es nicht mehr Todesopfer gegeben hatte. Aber auch Andresen, Volkert Quedens und den anderen Mitgliedern des Gemeinderates galt es zu danken, denn sie hatten sich hervorragend um die Koordination der Desinfektionstrupps gekümmert, die großartige Arbeit geleistet hatten.
Thaisen löste sich aus der Umarmung, verabschiedete sich von Marta und verließ den Raum. Keine Minute später sah Marta ihn über den Hof laufen. Gerade als er aus ihrem Sichtfeld verschwand, tauchte Jasper mit dem Fuhrwerk auf. Er war losgefahren, um Rieke und Jacob zum Fest abzuholen. Das Logierhaus der beiden war über den Winter geschlossen. Allzu gern hätte Marta auch Kaline zum Fest bei sich gehabt. Doch diese hatte sich kurzfristig dazu entschlossen, das Fest bei ihrer Familie auf dem Festland zu verbringen. Erst nach Neujahr würde sie wieder zurückkehren.
Wilhelm trat aus dem Nebengebäude, um Rieke und Jacob zu begrüßen. Er brütete seit ihrer Rückkehr aus Hamburg jeden Tag über den neu erstellten Plänen zum Ausbau des Hotels. Neu erstellte Pläne, dachte Marta traurig. Die alten Pläne hatte ihre Marie damals in kleine Papierfetzen verwandelt. Wenn es nach Marta ginge, könnte sie Hunderte solcher Pläne zerreißen, wenn sie sie nur zurückbekommen würde. Sie schob den Gedanken beiseite und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Heute war Weihnachten, und es galt, fröhlich zu sein. Extra für den Anlass hatte Marta, genauso wie Rieke, die friesische Festtagstracht angelegt. Ebba war diejenige gewesen, die ihr beim Ankleiden zur Hand gegangen war. Ida maulte ein wenig, weil sie noch keine Tracht tragen durfte. Ein Weilchen würde sie sich noch gedulden müssen, denn junge Mädchen durften die Tracht erst nach ihrer Konfirmation zum ersten Mal anlegen.
»Sie sind schon da«, sagte Gesa hinter Marta. »Wie schön. Dann kann ich ja den Tisch decken.«
Gesa ging an Marta vorbei zu der blau gestrichenen Anrichte und holte das Teegeschirr heraus. Zuerst sollte es Tee und Plätzchen geben, später am Abend, nach erfolgter Bescherung, den Weihnachtskarpfen, auf den sich Wilhelm ganz besonders freute.
Rieke, Jacob und Jasper betraten das Haus, und Marta begrüßte sie freudig. Es war das erste Mal, dass sie Rieke in ihrer neuen Festtagstracht sah.
»Du siehst wunderschön aus, meine Liebe«, sagte Marta und schloss ihre Tochter in die Arme.
»Gud Dai, Mama«, grüßte Rieke wie selbstverständlich mit dem friesischen Gruß. »Und ja, das finde ich auch. Diese Tracht ist etwas Besonderes und sticht das schönste Ballkleid aus.«
Gemeinsam traten sie in die Wohnstube und verteilten sich um den großen Esstisch. Gesa und Ebba brachten Tee und Plätzchen und gesellten sich, ebenso wie Jasper, zu ihnen, der in seinen Tee einen ordentlichen Schluck Rum kippte.
Rieke bewunderte den Kenkenbuum und machte Ida für die hübschen Figuren ein Kompliment. Jacob nahm sich immer wieder Plätzchen und lobte besonders das hervorragende Buttergebäck. Der Garten und der Hof versanken alsbald in Dunkelheit, und es nahte die Stunde der Bescherung. Die Geschenke lagen bereits auf den Stühlen neben dem Kaminofen unter einer Decke.
Als es Zeit wurde, erhob sich Wilhelm und trat in die Mitte des Raumes. Er räusperte sich und wollte zu sprechen beginnen, doch Rieke unterbrach ihn.
»Entschuldige, Papa, dass ich dich unterbreche«, sagte sie und stand auf. Sie blickte zu Jacob, der sich ebenfalls erhob. Hand in Hand traten die beiden neben Wilhelm. »Bevor sich alle auf die Geschenke stürzen, dachten wir, wäre es besser, noch etwas zu verkünden.«
Wilhelm sah seine Tochter überrascht an. Sie strahlte über das ganze Gesicht und stieß Jacob in die Seite.
»Also gut«, begann Jacob und räusperte sich. »So Gott will, und wenn alles gut geht …« Marta ahnte, was kommen würde, und sah ihre Tochter erwartungsvoll an.
»Ich bin schwanger«, platzte Rieke heraus.
»Das ist ja, ich meine …«, stotterte Wilhelm.
»Wunderbar«, vollendete Marta seinen Satz, stürzte auf Rieke zu, nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. Tränen der Freude stiegen ihr in die Augen. Wilhelm gratulierte Jacob, Ebba und Gesa taten es ihm gleich. Jasper schenkte sich einen Korn ein, und Ida nutzte die Gunst der Stunde und untersuchte schon einmal die Päckchen, ob auf einem von ihnen ihr Name stand.
Marta jedoch bekam von alldem nichts mit. Sie hielt Rieke fest im Arm, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie wurde Großmutter. Sie konnte es nicht fassen. Welch ein Glück. Der Herrgott hatte ihr Marie genommen, doch er schenkte ihr ein neues Kind, das sie lieben konnte. Sie blickte zu Wilhelm, der ebenfalls Tränen in den Augen hatte, ihre Hand nahm und sie fest drückte. Und erneut spürte sie die Wärme und Geborgenheit, die sie mehr brauchte als alles andere und die ihr Kraft gab, um weiterzumachen. Die Zukunft begann genau jetzt. Und schon bald hätten sie ein neues Jahr, das es mit all seinen Herausforderungen zu meistern galt. Gemeinsam würden sie es schaffen.