Liebes Tagebuch
So lange habe ich nicht mehr geschrieben … jetzt wird's Zeit, dass ich das endlich mal gründlich nachhole!
Ich bin mal wieder auf einer Achterbahnfahrt. Wie könnte es auch anders sein! Meine Güte, ich sollte vielleicht vernünftig sein, aber das kann ich mir sowieso schon längst abschminken. Seit Domenico in meinem Leben ist, existiert das Wort Vernunft für mich eh nicht mehr …
Eigentlich ist mein Leben ja im Moment alles andere als leicht. Mein Vater wird morgen mit Dr. Ulrich sämtliche Formalitäten erledigen, so dass unser Haus und unsere Praxis nun endgültig in dessen Besitz übergehen. Stell dir das vor! Unser Haus – das Haus, in dem ich aufgewachsen bin! In dem ich meine Kindheit verbracht habe. An dem so viele Erinnerungen hängen – schöne, traurige, intensive, krasse, gemütliche, lustige, fröhliche, deprimierende und spannende. Und mein Zimmer – mein über alles geliebtes Zimmer, meine sichere Burg und Festung, die mir schon so oft Zuflucht geboten hat, wenn die Stürme meines Lebens zu heftig getobt haben.
Ich darf gar nicht dran denken, sonst könnte ich wieder nur losheulen. Aber nach all dem, was geschehen ist, können wir uns das nun einfach nicht mehr leisten. Und am allermeisten werde ich wohl meine wunderschöne Laterne vermissen, die alte Straßenlaterne, die ich immer von meinem Fenster aus sehen konnte. Die doch für mich einst in meinen Fantasien der Ort war, an dem alle meine Sehnsüchte, Wünsche und Träume zusammentrafen. Okay, inzwischen bin ich reifer und erwachsener geworden, und ich weiß nun, dass auch das Märchen von der Laterne eine Kehrseite hat – aber das ist eine andere Geschichte. Auf die ich gleich zu sprechen komme …
Ja, mein Nest wird mir nun einfach weggenommen, und ich muss flügge werden wie ein junger Vogel. Und muss mich entscheiden, wohin ich fliegen soll …
Ja, denn das ist nun diese andere Geschichte: Domenico, mein Märchenprinz, hat mir einen Heiratsantrag gemacht! Uff, ja! Tatsächlich wahr!
Okay, das war vielleicht doch ein wenig zu viel des Guten. Ich meine, ich werde erst in einem halben Jahr achtzehn … und jetzt schon heiraten???
Na gut, meinem Herzen kann ich nichts vormachen. Das würde sowieso die verrücktesten Sachen tun. Aber leider – oder vielleicht besser gesagt: zum Glück – habe ich einen ausgeprägten Verstand, der doch ab und zu noch zu nüchternen Überlegungen fähig ist.
Genau genommen ist es ja völlig absurd: Mein geliebter Märchenprinz ist eigentlich alles andere als ein Märchenprinz. Im Gegenteil, er ist ein Tiger, und dazu noch einer mit ziemlich spitzen Reißzähnen.
Erstens ist er neunzehn und hat immer noch keinen Schulabschluss. Zweitens muss er Medikamente gegen seine manisch-depressiven Störungen nehmen. Drittens hat er eine vom Kettenrauchen geschädigte Lunge und kommt immer noch nicht ganz von der Qualmerei los (und das nach mehreren Versuchen und sogar einer Therapie … ehrlich, manchmal bringt er mich zur Verzweiflung!!!). Viertens leidet er auch noch unter dem Borderline-Syndrom und hat sich am Bauch und an den Handgelenken lauter Wunden geritzt, was so vernarbt nicht gerade schön aussieht. Fünftens leidet er ständig unter Alpträumen und Schlafstörungen und muss auch noch Schlafpillen nehmen.
Und sechstens … ja, jetzt kommt diese Sache, die mich am meisten beschäftigt (an alles andere hab ich mich ja schon fast gewöhnt): Er hat eine ziemlich derbe Vergangenheit, was seine Mädchen- und Frauengeschichten betrifft. Von etlichen Seiten hab ich nur schlimme Storys über ihn gehört: Dass er wohl mindestens zweihundert Freundinnen hatte, dass er nie länger als drei Wochen mit einer zusammen war, dass er manchmal mehrere Mädchen gleichzeitig hatte und dass er auch schon mit vielen geschlafen haben soll.
Ehrlich, ich weiß nicht, was alles stimmt und was nicht, und Nicki – ja, so nenne ich ihn immer noch am liebsten – will ja nie mit mir darüber reden. Er sagt dauernd, er wolle nicht, dass ich das alles weiß, weil das sowieso der Vergangenheit angehört. Trotzdem wünschte ich mir so sehr, er würde sich mal mit mir aussprechen, weil ich gern wissen möchte, was nun wahr ist und was nicht.
Und nun kommt eben noch der neuste Hammer: Seine Erzfeindin Janet Bonaventura hat mir eine Sache erzählt, die mich nun wirklich fast aus den Socken gehauen hat. Und zwar, dass Domenico ihr – und wohl auch noch einigen anderen Mädchen – mit glühenden Zigarettenspitzen Verbrennungen zugefügt habe beim Sex. Um sich damit sozusagen an seiner Mutter und gleich an allen Frauen dieser Welt zu rächen. Man stelle sich das mal vor! Sie hat mir die Brandnarben sogar gezeigt.
Ehrlich – ich weiß momentan immer noch nicht, was ich mit dieser Geschichte anfangen soll. Mich hat das so geschockt, dass ich das Pfarrer Siebold erzählen musste. Der konnte mir zwar helfen, aber irgendwie raffe ich das immer noch nicht ganz. Ich kann mir das einfach kaum vorstellen, dass Nicki – mein Nicki, mein Märchenprinz, der immer so zärtlich zu mir ist – so etwas Grausames und Hässliches getan haben soll. Das geht mir einfach nicht rein. Drum hab ich diese Geschichte irgendwie in eine der untersten Schubladen meiner Gedankenwelt geschoben. Wenn sie wirklich wahr wäre, dann weiß ich jetzt schon, dass Domenico niemals mit mir darüber reden würde. Er hat zu große Angst, mich zu verlieren …
Tja, wenn jemals einer mein Tagebuch lesen würde, würde er sich wohl fragen, wie man sich denn in so einen abgefahrenen und kranken Typen verlieben kann. Nun, dazu muss man eben Domenicos ganze Geschichte kennen … und auch seine ganze Persönlichkeit.
Es ist ja nicht so, dass ich mich Knall auf Fall in ihn verliebt habe. Nein, wir haben eine lange und intensive Story miteinander erlebt, und es gab bis jetzt keinen einzigen Menschen in meinem Leben, bei dem ich je so eine tiefe Verbundenheit gefühlt habe wie bei Domenico. Bei dem ich mich so geborgen und verstanden fühle, der mich so zu trösten und zu beschützen vermag. Dem ich alles anvertrauen kann, selbst meine abwegigsten Ideen, ohne dass er sich über mich lustig macht. So jemanden zu finden ist nicht leicht, und wenn man tatsächlich das Glück hat, so einem Menschen zu begegnen, nimmt man wohl auch all die anderen schrägen Sachen in Kauf. Nur so kann ich mir das erklären.
Kommt hinzu, dass Nicki einfach auch noch unbeschreiblich hübsch ist, aber das allein hätte nicht gereicht, um angesichts all seiner Eskapaden, unter denen ich oft gelitten habe, immer noch bei ihm zu bleiben.
Dann gibt es noch diese eine Sache, die man einfach nicht vergessen darf: Nicki ist schon am Anfang seines Lebens ziemlich sicher schwer traumatisiert worden, weil seine Mutter ihn und seinen Zwillingsbruder Mingo kurz nach ihrer Geburt ersticken wollte. Und zwar, weil sie sich schlicht und einfach überfordert fühlte und zudem ungewollt schwanger geworden war. Deshalb hatte Mingo auch einen leichten Gehirnschaden davongetragen, der es ihm unmöglich gemacht hat, lesen und schreiben zu lernen.
So hat mir das jedenfalls meine ehemalige Lehrerin Frau Galiani erzählt. Man stelle sich das mal vor: Kaum erblickst du das Licht der Welt, wirst du schon fast umgebracht. Kein Wunder, dass Domenico nun all diese psychischen Schwierigkeiten hat. Und dass Mingo schlussendlich an einer Überdosis Heroin gestorben ist …
Tja, falls sich das alles wirklich so zugetragen hat! Denn kürzlich habe ich Nickis und Mingos Mutter Maria endlich persönlich kennengelernt, und die hat mir was ganz anderes verklickert: nämlich dass es sich lediglich um eine schwere Geburt gehandelt hätte, bei der Mingo fast erstickt wäre. Und nun überlege ich die ganze Zeit, was das wohl für Auswirkungen auf Nickis Seele hätte, wenn Marias Version wirklich der Wahrheit entspricht und sie ihre Kinder doch nicht hatte umbringen wollen. Würde das nicht vieles in seiner Seele heilen?
Ach, wenn man der Sache doch auf den Grund gehen könnte! Domenico selbst redet ja nie über diese Geschichte, und ich weiß auch genau, dass ich ihn nicht danach fragen darf.
Und das ist noch längst nicht alles. Etliches weiß ich zwar nun mittlerweile aus seiner Vergangenheit, aber es gibt immer noch so viele Dinge, die er mir nie erzählt hat. Die er vehement vor mir verschließt. Zum Beispiel die Prügel und die Misshandlungen durch seinen Stiefvater. All die Männergeschichten, die seine Mutter gehabt hat. Warum genau er sich wirklich dauernd Wunden geritzt hat. Darüber schweigt er einfach, und ich habe keinen Zugang dazu.
Ja, Nicki ist nicht nur ein Buch mit sieben Siegeln, wie ich bisher angenommen hatte … sondern sogar eins mit mindestens acht, wenn nicht mehr.
So ist das halt, und deshalb gebe ich es einfach auf, eine vernünftige und logische Erklärung für meine Liebe zu ihm zu finden. Im Gegenteil, ich werde bald die schockierende Mitteilung auf die Menschheit loslassen müssen, dass Nicki und ich uns verloben wollen.
Oh ja, ich sehe schon all die entsetzten Gesichter, die mich ungläubig anstarren werden, als hätte ich den Verstand verloren. Und ich höre auch schon die Stimmen, die auf mich einprasseln werden:
«Wie bitte? Du willst dich mit so einem Typen wie Domenico verloben? Hast du dir das auch gut überlegt? Du weißt doch haargenau, dass das niemals funktionieren wird. Domenico hat eine schwerwiegende posttraumatische Belastungsstörung, das müsste dir doch klar sein! Aus so einem wird nie was Rechtes, weil er gar nicht fähig ist, was Ordentliches aus seinem Leben zu machen. Guck doch mal, er schafft es ja nicht einmal, mit dem Rauchen aufzuhören – wie will er denn alles andere schaffen?»
Oh ja, da wird noch einiges auf mich zukommen!
Und der Clou kommt erst: Meine Eltern wissen noch überhaupt nichts davon! Als ich letztes Mal angetönt hab, dass Domenico mir einen Heiratsantrag gemacht hat, ist mein Vater fast an die Decke gegangen, und auch Mama musste mich erst mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen … obwohl ich ja gespürt habe, dass sie irgendwie über Nickis ritterliche Geste gerührt war.
Na ja, letzten Endes war wieder mal Pfarrer Siebold – der coolste Pfarrer der Welt! – mein rettender Engel: Er hat uns auf die Idee mit der Verlobung anstelle einer überstürzten Heirat gebracht.
Ach, es würde ja auch alles nicht so eilen, wenn Mama nicht so schwer krank wäre. Aber der Gedanke, dass sie vielleicht meine Hochzeit gar nicht mehr erleben wird, ist für mich unerträglich. Deswegen ist das mit der Verlobung wirklich eine gute Lösung. Es ist besser als nichts …
Und doch, mein inständiges Gebet, mein Schrei zu Gott ist nach wie vor, dass meine Mutter wieder gesund wird! Nichts wünsche ich mir mehr als das. Seit Monaten bin ich nun in diesem dunklen Tal gefangen, und mein einziges Licht ist wirklich die Verlobung mit Nicki. Wenn ich, der Vogel, schon so unsanft flügge werden muss, dann will ich mir wenigstens ein neues, warmes Nest suchen. Drei Möglichkeiten stehen mir zur Verfügung, und nur eine davon will ich …
Die erste Möglichkeit: Mit meinen Eltern in eine kleinere Wohnung zu ziehen. Aber falls meine Mutter sterben wird – wie soll ich es dann aushalten, mit Paps allein in jenen vier Wänden zu leben und ständig dieses deprimierende Loch spüren zu müssen, das Mamas Abwesenheit hinterlassen würde? Außerdem gehen meine Eltern ja erst mal auf Weltreise, sofern Mamas Zustand es zulässt. Und das würde für mich bedeuten, dass ich noch weitere Wochen bei Tante Lena und ihrem altersschwachen Dackel Gonzales wohnen müsste, bis ich dann zu meinen Eltern ziehen könnte – nein, Tante Lena muss ich jetzt nicht unbedingt haben!
Die zweite Möglichkeit: Mit Freundinnen eine WG zu gründen. Okay, wäre sicher die fröhlichere Variante. Wir könnten es bestimmt lustig haben. Doch wer außer Delia und Manuela käme da in Frage? Und mit Delia würde das auf Dauer auch nicht easy werden; zickig, wie die manchmal sein kann. Außerdem wäre Nicki meilenweit weg von mir. Denn Nicki muss ja dringend weg aus dieser Stadt, so viel ist klar, sonst wird er die Gangs und sein altes Umfeld nie los. Er wird nach Berlin gehen, das ist schon eine ziemlich fest beschlossene Sache.
Und damit wäre ich bei der dritten Möglichkeit: Ich ziehe mit Nicki nach Berlin, und wir gründen zusammen eine WG. Damit müsste ich zwar alles, was mir vertraut ist, aufgeben und ein völlig neues Leben beginnen, aber das ist eigentlich genau das, was ich in meiner jetzigen Situation am liebsten möchte. Denn hier erinnert mich im Moment sowieso alles an Mama, und wenn sie vielleicht bald nicht mehr da sein wird, wie sollte ich dann all diese Erinnerungen ertragen?
Ach, ich darf gar nicht dran denken …
Die größte Frage ist halt nur, wie ich meinen Eltern all diese Pläne beibringen soll. Sie werden nicht begeistert sein, so viel ist schon mal klar.
Aber dieses Problem verschiebe ich auf später, denn jetzt reisen wir erst mal für ganze zwei Wochen nach Sizilien, Nicki und ich. Übermorgen um halb zwei Uhr geht der Alitalia-Flug nach Milano, wo wir dann auf die Air One nach Palermo umsteigen müssen. Das war ja schon echt eine Kunst gewesen, von meinem Vater die Erlaubnis für diese Reise zu kriegen, aber Mama hat wieder mal tapfer für mich gekämpft.
Schließlich fand Paps es dann doch gut, und ich weiß auch, warum: Er hofft nämlich immer noch, dass mich das irgendwann zu der Überzeugung bringen wird, dass eine Beziehung mit Nicki auf Dauer nicht möglich sein wird. Er wünscht sich halt nach wie vor so einen Partner wie Leon für mich, einen soliden Arztsohn aus guter Familie. Na ja, das kann ich meinem Vater nicht mal verübeln – Domenico ist wirklich nicht gerade das, was Eltern sich als Freund für ihre Tochter wünschen. Ich bin ja so mega dankbar, dass Paps Nicki mittlerweile akzeptiert und ihn sogar mag, wenn er auch hofft, dass wir eines Tages unsere Beziehung wieder auf eine reine Freundschaftsbasis reduzieren.
Übrigens, morgen ist mein letzter Schultag. Ich darf mir ja nun ein halbes Jahr Auszeit nehmen, weil ich so viel durchgemacht habe mit Mamas Krankheit. Ich werde dann einfach eine Klasse weiter unten wieder einsteigen (und vermutlich sogar in Berlin!). Doch ich werde dieses Gymnasium nicht vermissen. Tut mir leid, das sagen zu müssen. Aber ich bin so froh, bald von dieser schrecklichen Isabelle wegkommen zu können …
Und morgen werde ich auch endlich, endlich, endlich Domenico wiedersehen! Wir haben uns nun über eine Woche lang nicht gesehen, stell dir vor! Das ist schier unerträglich. Aber er meinte halt, dass es einfach zu gefährlich sei wegen Toni und den Snakes. Sheena Rose, eine von den Prostituierten, die für Toni gearbeitet hat, hat zwar Anzeige gegen ihn erstattet, aber bis jetzt konnte die Polizei ihn noch nicht fassen. Und Nicki ist nach wie vor davon überzeugt, dass sich Toni an ihm rächen wird. Seine Mutter, die ebenfalls für Toni arbeitet, hat ihn auch schon mehrmals vor diesem gewarnt. Und da Toni sich mit den Snakes, Nickis größten Gegnern, verbündet hat, wird Nicki sich weiterhin bei Patrik verstecken müssen, bis er nach Berlin gehen kann. Aber morgen will er bei mir sein und mich trösten, weil ja unser Haus verkauft wird.
Er ist so süß in dieser Hinsicht. Und dann geht's auch schon ab nach Sizilien – ach, wird das herrlich! Zwei ganze Wochen lang nur Strand, Sonne, Romantik, gutes Essen – und wir beide! Genau das Richtige nach all dem Stress! Insgeheim hoffe ich ja, dass wir auch einiges über Domenicos Kindheit auf Sizilien rausfinden, aber er druckst immer rum, wenn ich ihn darauf anspreche. Irgendwie hat er Angst davor …